Montag, 19. April 2010

Oberhemden


Ich wollte ein weißes Oberhemd haben, sagte der ältere Herr zu der Verkäuferin. Aber das ist doch ein Oberhemd, sagte diese. Das hier ist ein Sporthemd, sagte der ältere Herr, ein Oberhemd hat keine Brusttasche. Er war nicht besonders modebewusst, und er gehörte auch sicher nicht zu den Besserwissern, die heute die zahlreichen Modeforen im Internet mit bezaubernden Trivialitäten bereichern. Wann wurde jemals so viel zu so wenig geschrieben? Der ältere Herr war einfach nur konservativ, und da hat ein Oberhemd eben keine Brusttasche und hat Manschetten, und wird nur zu einem Anzug getragen. Punkt! Oder Ausrufezeichen.

Der ältere Herr war nicht so konservativ wie der englische Politiker Enoch Powell, der erst zu seinem Lebensende entdeckte, dass es inzwischen schon Oberhemden mit einem Umlegekragen am Hemd gab. Er befestigte immer noch seinen Kragen mit Kragenknöpfen am Hemd, und sein konservativer Herrenausstatter belieferte ihn wie selbstverständlich mit solchen Hemden. Das Herrenhemd hat, wie einem ein Blick in Ingrid Loscheks Mode- und Kostümlexikon zeigt, eine lange Entwicklungsgeschichte. Vor einem halben Jahrhundert kam ein deutsches Oberhemd noch wie selbstverständlich aus Bielefeld, heute wird es in Billiglohnländern irgendwo auf der Welt genäht. Selbst viele der einstmals wegen ihrer Qualität berühmten englischen Hemden aus der Jermyn Street werden weit entfernt von England genäht. Im Durchschnitt hat beinahe jedes Kleidungsstück, das wir tragen, eine Reise um den ganzen Erdball hinter sich. Der Satz von John Ruskin, there is nothing in the world that some man cannot make a little worse and sell a little cheaper, and he who considers price only is that man's lawful prey, hat auch heute noch seine Gültigkeit. Die Bedingungen, unter denen die Hemden hergestellt werden, haben sich seit den sweatshops zur Zeit von Charles Dickens wenig geändert. Zu der Zeit hatte Thomas Hood sein anklagendes Gedicht Song of the Shirt geschrieben. Heute bedeutet die Kombination von hood und shirt etwas anderes.

Hemden sind der Mode unterworfen und tausenderlei Experimenten mit dem Material. Heute erinnert man sich mit Schaudern an die Nyltesthemden der fünfziger Jahre oder an Seidenstickers schwarze Rose Hemden der sechziger Jahre. Die Amerikaner können hervorragende Freizeithemden mit Buttondownkragen herstellen, Brooks Brothers und Nordstrom hatten früher exzellente Qualitäten. Und die Firma Sero (die lange Zeit die Brooks Brothers Hemden herstellte) hatte einen sagenhaften Ruf. Aber wenn die Amerikaner eins nicht können, dann sind es dress shirts, also das, was wir Oberhemden nennen. Jay Gatsby aus Fitzgeralds Roman The Great Gatsby bezieht seine Hemden, die seine Jugendliebe Daisy they are such beautiful shirts...It makes me sad because I've never seen such - such beautiful shirts before schluchzen lassen, aus England. Obgleich er ja auch Arrow Hemden hätte kaufen können, die damals noch einen guten Ruf hatten. Unter dem Oberhemd ist das Herz, die kleine Sehnsucht unterm Oberhemd, wie Erich Kästner dichtete.

Wenn man seine Hemden selbst wäscht und selbst bügelt und die Qualität erst danach beurteilt, wie ein Hemd nach zehn oder zwanzig Jahren aussieht, dann bestehen nur wenige Marken den Test der Zeit. Bei Hilditch & Key (die angeblich Karl Lagerfeld immer trägt) ist der Kragen nach einem Jahr hin. Und bei New & Lingwood hat man zwar schöne weiß-blaue Plastiktüten, aber die ersten Knöpfe gingen nach der dritten Wäsche verloren. Thomas Pinks pinkfarbene Dreicke unten im Hemd waren ja ganz witzig, aber die Qualität der ersten Jahre scheint auch dahin. Die Jermyn Street ist längst nicht mehr der Gral der Hemdenkäufer. Bernhard Roetzel schwärmt neuerdings nicht mehr für Turnbull & Asser (gegen die Firma will ich nix sagen), sondern für die deutsche Firma Emanuel Berg, die ihre Hemden in der Gegend von Danzig nähen lässt.

Die deutsche Firma van Laack, die mit dem Slogan das königliche Hemd warb, war jahrzehntelang ein Garant für Qualität. Selbst Rainer Barschel trug laut Untersuchungsprotokoll der Staatsanwaltschaft ein van Laack Royal Hemd in der Badewanne. Aber inzwischen ist das 1881 gegründete Unternehmen wie so viele andere Marken  verkauft worden (auch Borrelli ist nicht mehr Borrelli), und ich kann nichts mehr über die augenblickliche Qualität sagen. Als einziger Newcomer in der Oberhemdenoberliga wahrt Ignatius Joseph seit Jahren seinen Standard. Aber seine schrillen Farben und der hohe Haifischkragen sind nicht jedermanns Sache. Wahrscheinlich kann man nur noch schweineteure Italiener kaufen, die wirklich made in Italy sind. Das sind wirkliche Sorgen. Herman Melville hatte die nicht. Als er auf seiner Grand Tour seinen Freund Nathaniel Hawthorne in Liverpool besuchte, hatte er nur drei schmutzige Hemden dabei, wie Hawthorne indigniert ins Tagebuch eintrug. Hawthorne war jetzt piekfein, Konsul in Liverpool. Melville ein etwas abgerissener arbeitsloser Schriftsteller. Aber er hatte Moby-Dick geschrieben, und das zählt mehr als alle sauberen Oberhemden der Welt.

Ich brauche glücklicherweise keine Hemden mehr zu kaufen, mein Kleiderschrank gleicht einem Hemdenmuseum. Wenn Daisy Fay vorbei käme, würde sie wieder schluchzen. Ich hätte ja gerne Thomas Hoods Song of the Shirt abgetippt, aber das ist mir zu lang. Deshalb gibt es oben einen Link zu dem wirklich hervorragenden Victorian Web. Und hier heute  ein zauberhaftes kleines Hemdengedicht, das nur von einer Frau geschrieben werden konnte. Es heißt ganz einfach The Shirt und ist von der amerikanischen Dichterin Jane Kenyon:

The Shirt

The shirt touches his neck
and smoothes over his back.
It slides down his sides,
it even goes down below his belt -
down in his pants.
Lucky shirt.

Das da oben im ersten Absatz ist ein Oberhemd (natürlich ohne Brusttasche) der Firma Charvet, die 1838 den ersten Hemdenladen der Welt am Place Vendôme aufmachten, Charles Baudelaire, Émile Zola und Marcel Proust gehörten zu den Kunden der Firma. Lord Byron hat da nicht gekauft, er war schon tot, als Christofle Charvet den Laden aufmachte. Byron ist heute vor 186 Jahren gestorben. Lord Byron hätte ganz bestimmt in dem Laden gekauft, weil der Vater von Christofle Charvet Byrons Idol Napoleon mit Kleidung beliefert hat. Byron hat das Oberhemd um den poet collar bereichert, einen hohen, offenen Kragen (den ähnlich schon Shakespeare getragen hat), der fortan für den romantischen Dichter de rigueur war. Heute, wo alle nur noch T Shirts tragen, gibt es aber massenhaft Angebote von Lord Byron T Shirts. Hätte unser modebewusster Dichter so etwas getragen?

1 Kommentar:

  1. Jane Kenyon kannte ich noch nicht, aber Wikipedia kennt sie natürlich.
    Das Shirt ist eines der schönsten Liebesgedichte, die ich bisher kennen lernen durfte. So zärtlich, dass sie diesen Mann, dessen Hemd sie beneidet, weil es ihn selbstverständlich liebkosen darf, sehr geliebt haben muss. Und ich hoffe, dass das stimmt: alles andere würde meine Empfindungen für das Gedicht wieder dämpfen.
    Wie schön, dass das heute so zwiespältige und verwirrte Amerika so zarten Gefühlen nicht nur Raum, sondern auch Öffentlichkeit gegeben hat! Und das ist noch nicht lang her, sozusagen noch am hinteren Horizont unserer Gegenwart.
    Aber woher weiß man wohl, wo die Hemden von Donald Hall, dem Ehemann der erst 1995 verstorbenen Liebenden, verkauft wurden?

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