Samstag, 4. Dezember 2010

Die tote Stadt


Eins, zwei, drei, im Sauseschritt, läuft die Zeit, wir laufen mit. Noch vier Wochen und ich bin ein Jahr lang im Internet. Jeden Tag etwas Neues, manchmal wundere ich mich über mich selbst. Ich weiß nicht, wie lange ich das noch machen werde, on verra. Aber seien Sie unbesorgt, ich höre nicht auf, vielleicht schreibe ich etwas langsamer. Jetzt brauchte ich einen Übergang zu dem, worüber ich heute schreiben wollte. Es fällt mir aber nichts ein, wie ich von Wilhelm Busch zu Erich Wolfgang Korngold kommen soll. Außer der wunderbaren Formel von Monty Python: And now for something completely different.

Heute vor neunzig Jahren ist Korngolds Oper Die tote Stadt zum ersten Mal aufgeführt worden. Gleichzeitig in Hamburg (Dirigent: Egon Pollack) und in Köln (Dirigent: Otto Klemperer, seine Frau Johanna sang die Marietta). Ein Jahr später war die Oper schon an der Metropolitan Opera in New York mit Maria Jeritza als Marietta. Und dann jahrelang immer wieder weltweit. Bis man die Oper völlig vergaß - aber im letzten Jahrzehnt hat sie überall eine Renaissance erlebt. Als die Oper zum ersten Mal aufgeführt wurde, war Korngold erst dreiundzwanzig Jahre alt. In dem Alter hatte Mozart schon zehn (zumeist kleinere) Opern geschrieben, aber wenn man den mal ausnimmt, wer schreibt in dem Alter eine solche Oper? Die Premierenkritik aus Wien war 1921 auf jeden Fall begeistert: Mit 23 Jahren hat Erich Wolfgang Korngold den Rückhalt einer unbegrenzten und märchenhaften Begabung, verbunden mit einer Unbefangenheit der Originalität. Seit Musik zum ersten Mal für ein Theater geschrieben wurde, hat es noch nie einen Komponisten gegeben, der in so einem jungen Alter so viel erreichte. Ein jugendlicher Sturm bricht über uns herein.

Die erste Gesamtaufnahme der Oper stammt - und da glaube ich einfach mal der Firma RCA Victor, die das auf die Verpackung der Platte (und der CD) geschrieben hat - aus dem Jahre 1975 und hatte Erich Leinsdorf als Dirigenten. Lange Zeit konnte man keine andere Aufnahme bekommen, inzwischen hat sich das geändert. Obgleich die Leinsdorf Aufnahme immer noch die Referenzaufnahme bleibt. Ein alter Mitschnitt des Bayrischen Rundfunks aus den fünfziger Jahren mit Maud Cunitz und Karl Friedrich ist wieder auf dem Markt, und Naxos hat eine stimmige Aufnahme aus dem Königlich Schwedischen Opernhaus aus dem Jahre 1996 im Programm. Leinsdorf und die schwedische Aufnahme nehmen den süßlichen Kitsch aus der Korngold Oper heraus, obwohl sie den inspirierten ariosen Stellen gefühlvolle Breite lassen, wie ein Rezensent zu der Leinsdorf Aufnahme schrieb. Sie betonen mehr die Modernität der Musik (eine Art Mischung von Richard Strauss und Puccini) als jenen Teil, der auf den Hollywood Filmusikkomponisten Korngold hinweist.

Unter Opernfreunden kursieren Mitschnitte der beispielhaften Berliner Inszenierung von 1983 von Götz Friedrich mit Karan Armstrong und James King. Wenn Sie einen Eindruck davon haben wollen, dann gehen Sie doch mal auf YouTube. Und nehmen Sie das Lied der Marietta von Karan Armstrong doch gleich mit. Und wenn Sie schon dabei sind, dann hören Sie noch das hier: Lotte Lehmann und Richard Tauber, eine der ältesten Aufnahmen des Mariettaliedes, die im Netz herumschwirren. Richard Tauber war natürlich ideal für diese Oper, und an ihm muss sich jeder messen lassen, der den Part des Paul singt. Es ist auch keine leichte Rolle, da ist man die ganze Zeit auf der Bühne, da kann man nicht mal fragen Wann geht der nächste Schwan? Und mit dem Part des Paul bin ich schon bei dem Schwachpunkt der Leinsdorf Aufnahme. Das ist da nämlich René Kollo. Und René Kollo ist René Kollo, aber es ist kein Richard Tauber und auch kein ➱Rudolf Schock. Mittlerweile gibt es ihm Netz eine schöne neue Version von ➱Jonas Kaufmann und Julia Kleiter:

Glück, das mir verblieb,
rück zu mir, mein treues Lieb.
Abend sinkt im Hag -
bist mir Licht und Tag.
Bange pochet Herz an Herz -
Hoffnung schwingt sich himmelwärts.

- Wie wahr, ein traurig Lied. 

- Das Lied vom treuen Lieb, das sterben muss. Was haben Sie?
- Ich kenne das Lied. Ich hört es oft in jungen, in schöneren Tagen. Es hat noch eine Strophe - weiß ich sie noch?

Naht auch Sorge trüb,
rück zu mir, mein treues Lieb.
Neig dein blaß Gesicht -
Sterben trennt uns nicht.
Mußt du einmal von mir gehn,
glaub, es gibt ein Auferstehn.

Das ist nun so ein Lied, das ein richtiger Schlager geworden ist. Das muss eine gute Oper haben. Wenn die Leute eine Melodie pfeifend aus einer Mozart Oper kommen, wird Mozart glücklich gewesen sein. Monsieur Offenbach wäre todunglücklich gewesen, wenn die Leute nicht schon auf der Straße Aux maris ré, aux maris cal... gesummt hätten, nachdem sie La Périchole gesehen hatten. Nein, ein Ohrwurm in einer Oper muss sein.

Die Oper, deren Libretto Korngold und sein Vater schrieben, basiert auf dem Roman Bruges-la-morte von Georges Rodenbach, morbide Stimmungsmalerei des fin de siècle. Tote Frauen, tote Städte. Mit toten Frauen haben es Literatur und Kunst ja in dieser Zeit. Ich kann da nur empfehlen, einmal Bram Dijkstras Buch Idols of Perversity: Fantasies of Feminine Evil in Fin-de-Siècle Culture zu lesen. Rodenbach hatte sein Werk mit einer Anzahl von seltsam leeren zeitgenössischen Photos verziert. Aber das Werk ist untrennbar verbunden mit den Bildern, zu denen es den in Brügge geborenen Fernand Khnopff angeregt hatte. Muss ich zu dem etwas sagen? Ich war vor dreißig Jahren in der Ausstellung Fernand Khnopff 1858-1921 in der Hamburger Kunsthalle und habe den bei Prestel erschienenen Katalog gekauft (davon gibt es noch Reste bei Amazon ab 9.95). Ich habe Schwierigkeiten mit dieser Sorte Kitsch, der großartige Gefühle wiedergeben will, aber malerisch technisch so wenig kann. Khnopff ist da ja ein Präraffaelit manqué (die englischen Präraffaeliten hat er furchtbar bewundert), falls es da noch geschmackliche Steigerungsmöglichkeiten nach unten gibt. Säle voller Khnopff bei dieser Retrospektive, Symbolismus bis zum Abwinken. Warum haben Sie denn die schöne Sammlung Schwabe ein Jahrzehnt vorher in den Keller getan statt dieses wunderbare Erbe des viktorianischen Kitsches zu pflegen? War viel schöner als der ganze Khnopff.

Gustav Christian Schwabe besitzt nicht mal einen deutschen Wikipedia Artikel, ich glaube, ich muss irgendwann mal über den schreiben, um ihn der Versenkung zu entreißen. Vielleicht im neuen Jahr, wenn sich hier im Blog einiges verändert [2014 hat Jay diese Ankündigung wahr gemacht und einen langen Artikel zu Schwabe geschrieben]. Wenn ich nicht mehr von heute auf morgen dahinschreibe - obgleich mir das natürlich jeden Tag eine gewisse Spontanität gibt, nix ist geplant. Das gefällt mir eigentlich, weil ich mein ganzes Leben lang nicht länger als zwei Tage im voraus geplant habe. Na ja, wie gesagt, on verra. Heute vor einem Jahr war ich noch kein Blogger, wußte nicht mal, was ein Blog ist, jetzt lesen mich tausende im Monat. Man weiß nie, was kommt.

Aus der morbiden Stimmung des toten Brügge habe ich mich gerade eben befreit, indem ich den Korngold aus dem CD Player genommen habe und jetzt die bezaubernde Sandrine Piau Mozart Arien singen lasse. Damals in Hamburg habe ich mich von Fernand Khnopff ganz leicht befreit. Ich habe mir als Konstrastprogramm den Thomasaltar von Meister Francke angeschaut. Dann an der Kasse den Katalog gekauft, und bin mit dem Katalog in einer Papiertüte unter dem Arm die Alster lang flaniert und habe in die Auslagen der Herrenausstatter geschaut, Lenius, Staben, Ladage&Oelke und wie sie alle hießen. Ein Schuhgeschäft wie Prange natürlich nicht zu vergessen. Die Morbidität von Fernand Khnopff und Bruges-la-morte wird man mit diesem Programm schnell wieder los. Und ich habe auch keinen Augenblick daran gedacht, dass genau zu der Zeit von Georges Rodenbach und Fernand Khnopff und ihren Todesphantasien das quietschlebendige Hamburg hier eine tote Stadt war. Denn damals herrschte hier die Cholera. Da dachte hier niemand an eine symbolistische Ästhetisierung der toten Stadt.

Ich hätte hier einen interessanten Blog von John Coulthart für Sie. Das Photo oben, das die Stimmung von Rodenbachs Roman und vielleicht auch Korngolds Oper so perfekt wiedergibt, stammt von Genevieve van Doren©, die überall im Netz mit sehr interessanten stimmungsvollen Photos vertreten ist. Was man nicht alles mit der Computer Nachbearbeitung machen kann. Für Leute wie mich, die beim Schwarzweißfilm und einer mechanischen Kamera aus den fünfziger Jahren stehen geblieben sind, ist das natürlich Teufelszeug. Ist aber sehr hübsch. Aber das Bild da unten ist nicht von ihr, das ist von René Magritte. Rodenbach, Khnopff, Magritte. Diese Belgier haben es mit dem geheimnisvollen Symbolismus.













2 Kommentare:

  1. Die tausenden Leser scheinen ja mächtig eingeschüchtert zu sein von der hier waltenden massiven Gelehrtheit, da ich einen gewissen Mangel an Kommentaren verspüre, aber ich freue mich offen gesagt aufrichtig, daß dieser Blog demnach inzwischen seine verdiente Leserschaft gefunden hat.

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  2. I agree, there is a lack of commentary here given such fine writing...but then this may itself explain it: it is not so much being intimidated but the fact most people are not interested in or appreciate or understand 'die Gelehrtheit'; they are perpetually in search of distractions, and 'entertainment to death'. I am rather surprised by 1000s of readers, yet I think Jay does not really need or care about commentary as such.. .Congratuatlions lieber Jay for the anniversay in 4 weeks...I do hope you will continue to write in the coming and the subsequent years...minna

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