Freitag, 29. Januar 2010

Ich-Erzähler


If you really want to hear about it
all that David Copperfield kind of crap,
but I don't feel like going into it.
He asked me what I thought about           
all this stuff I just finished
telling you about.
I didn't know what the hell to say.
If you want to know the truth,
I don't know
what I think about it.
I know it's a poem by Robert Burns
I thought it was
"If a body catch a body
coming through the rye".
People are always
ruining things for you.
She looked so damned nice,
the way she kept going
round and round,
in her blue coat and all.
God, I wish
you could've been there.
Don't ever tell anybody anything.
If you do,
you start missing everybody.













Jerome David Salinger ist am 27. Januar im Alter von 91 Jahren gestorben. Holden Caulfield ist jetzt auch schon über siebzig. Aber für die Leser von The Catcher in the Rye bleibt er ewig sechzehn.

Donnerstag, 28. Januar 2010

Militärisches Schuhwerk


Bevor der Film A Bridge too Far in die Londoner Kinos kommt, versucht die Witwe des Generals Sir Frederick "Boy" Browning mit allen Mitteln zu verhindern, dass der Film gezeigt wird. Die Witwe heißt Daphne du Maurier und ist eine weltbekannte Autorin von spannenden Geschichten. Hitchcock hat Jamaica Inn und Rebecca verfilmt, und auch The Birds basiert auf einer Erzählung von du Maurier. Ebenso Nicolas Roegs Film Don't Look Now. Lady Daphne hat auch sehr gute Beziehungen zum englischen Königshaus, aber es hilft ihr alles nichts, der Film kommt in die Kinos. Wogegen sie sich wendet, ist die Darstellung von ➱Dirk Bogarde, der den General sehr elegant, ein wenig effeminiert und militärisch vollständig hilflos angelegt hat. Lady Daphne ist jetzt um den guten Ruf ihres verstorbenen Gatten bedacht. Das ist eigentlich erstaunlich, denn nach dem Krieg hat Browning nur noch gesoffen (weshalb er auch seine Ehrenposten im Buckingham Palast verloren hatte) und sie mit anderen Frauen betrogen. Und mit seinem militärischen Ruf ist es auch nicht so weit her, eigentlich verdankt er seine Karriere der Bekanntschaft mit Winston Churchill und der Protektion durch Mountbatten.

Und wenn einer dieses Fiasko des Unternehmens Market Garden, das für die Allierten in Arnheim endet, zu verantworten hat, dann ist er es. Seine Generalskollegen, vor allem die amerikanischen (James M. Gavin, der der erste Stadtkommandant von Berlin wird, äußert sich vernichtend über ihn), arbeiten ungern mit ihm zusammen und halten ihn für völlig unfähig. Browning wird nach dem Desaster von Arnheim den polnischen General Stanislaw Sosabowski als Sündenbock ausmachen, was erstens wahrheitswidrig ist und zweiten völlig un-gentlemanlike ist. Obgleich man ihn in England offiziell nicht kritisiert, bekommt Browning nie wieder ein Truppenkommando, obwohl er die elegantesten Uniformen von allen englischen Generälen hat. Die er sich zum Teil selbst entwirft. Wenn Generäle sich erstmal ihre eigenen Uniformen entwerfen, ist das zwar gut für die Schneider der Savile Row, aber zweifelhaft für das Militär. George Patton hat das auch getan.

Aber der Amerikaner darf das, der ist der einzige General, vor dem die Deutschen Angst haben. Er hat ja auch den Frankreichfeldzug in einem weißen Burberry Trenchcoat mit umgeschnalltem Pistolengürtel und zwei silberbeschlagenen Colts bestritten (wie hier George C. Scott in dem Film Patton) und für seine Panzertruppen eine eigene Uniform entworfen. Auf dem Höhepunkt des Streites um Dirk Bogardes Darstellung des Generals Browning, meldet sich der Sohn von Browning zu Wort. Der über seinen Vater zu sagen weiß: In the 1950s he was the best-dressed man in London; his shoes were immaculate. Wenn man schon ein militärischer Versager ist, dann ist es beruhigend zu wissen, dass Sir Frederick elegante Schuhe trug. Vielleicht lag Dirk Bogarde gar nicht so falsch mit seiner Darstellung. Der Film hat übrigens mehr gekostet als die Operation Market Garden. Lady Daphne du Maurier hat den Film nie gesehen.

Wir wissen nicht, wer Freddie Browning seine eleganten Schuhe gemacht hat. Bei einem bedeutenderen General 150 Jahre zuvor wissen wir es. Der bootmaker George Hoby in der St James Street macht die Stiefel für den Herzog von Wellington, schon seit dessen Jugendtagen. Nach Wellingtons eigenen Entwürfen, der Herzog möchte es gerne bequem haben, wenn er den ganzen Tag auf dem Pferd sitzen muss. Im Verstoßen gegen die Regularien der Bekleidungsordnung sind Englands Heerführer groß. Aber man sieht es ihnen nach, wenn sie Napoleon besiegen. Die Stiefel, die der Admiral Sir Sidney Smith in der Schlacht von St Jean d'Acre trägt, sind bei der Royal Navy nicht für die Uniform vorgesehen. Aber Smith ist der erste Engländer, der Napoleon in offener Schlacht besiegt, da darf er die tragen. Obgleich die Admiralität mit diesem Exoten ihre liebe Mühe hat. Es sind im Prinzip die gleichen Stiefel, die Wellington trägt. Kürzer als der normale Reitstiefel und aus weichem Kalbsleder, enganliegend. Wahrscheinlich kommen sie auch aus der Werkstatt von Hoby. Der muss nach den Berichten von allen Zeitzeugen ein wirkliches Original gewesen sein. Er unterhielt eine Werkstatt mit dreihundert Beschäftigten, und das lateinische Sprichwort ne sutor ultra crepidam hielt ihn nicht davon ab, mit großem Erfolg als Methodistenprediger in Islington zu wirken.

Sein Geschäft in der St James Street, an der Ecke zum Piccadilly, war in London eine erste Adresse. Über den Portraitmaler Ozias Humphrey vermerkt eine Zeitgenosse, dass er in dem Haus des viel berühmteren Mr. Hoby wohne. Hoby hat die Stiefel von George III gemacht und die von Lord Byron. Henry Thomas Austen, der Lieblingsbruder von Jane, hat bei ihm seine Stiefel bestellt. In seinem Laden war der Schotte Hoby ein kleiner König, und er war sich seiner Stellung bewußt. Als ein Fähnrich von der Garde namens Horace Churchill sich bei ihm beklagte, dass seine Stiefel so schlecht seien, dass er nie wieder bei Hoby Stiefel bestellen würde, rief Hoby mit gespielter Verzweiflung durch den Laden zu einem Gehilfen: John, setzen Sie die Läden vor. Mit uns ist's alle. Ich muss mein Geschäft zumachen. Fähnrich Churchill entzieht mir seine Kundschaft. Er konnte sich das erlauben, ein guter Handwerker ist mehr wert als ein Dutzend Dandies. Der Fähnrich Horace Churchill hat auch ohne die Stiefel von Hoby noch Karriere gemacht. Bei Waterloo ist er schon Captain. Er stirbt 1843 in Indien in der Schlacht von Maharajpore, da war er schon Generalmajor.

Hoby war Hoflieferant für den Herzog von Kent, der ihm eines Tages (Hoby war beim Stiefelanmessen im Palast) die gerade erhaltene Nachricht mitteilte, dass der Herzog von Wellington die napoleonischen Truppen bei Vittoria geschlagen hätte. Was Hoby völlig cool hinnimmt, und er antwortet mit dem sang froid des wahrhaft Überlegenen: If Lord Wellington had had any other bootmaker than myself, he would never have had his great and constant successes, for my boots and prayers bring his Lordship out of all his difficulties. Da möchte man sagen: well roared lion. Galten Hobys Gebete dem Wohlergehen Wellingtons oder dass ihm dieser Kunde erhalten bliebe? Hoby hinterließ bei seinem Tode ein Vermögen von 120.000 Pfund, das sind viele Millionen nach heutiger Währung.

John Harrison, der zum ersten Mal in der Geschichte wirklich genau gehende Uhren gebaut hatte, mit denen die Royal Navy navigieren konnte, hat aus dem vom Longitude Act ausgelobten Geld 20.000 Pfund bekommen. Auch das war schon ein Vermögen. Die Uhren Harrison I bis Harrison IV sind unverkäuflich, und sie gehen noch heute genau. Wobei es allerdings ein wenig komisch ist, wenn heute japanische Touristen in Greenwich den Gang eines Harrison Chronometers mit ihrer Quarzuhr vergleichen. Aber ➱Harrison hat in seinem Leben, wie es uns Dava Sobel in Longitude berichtet, nie den Erfolg und die Anerkennung gehabt, die George Hoby zu Teil wurde. Und auch heute haben Schuhmacher vielleicht dankbarere Kunden als Uhrmacher. Prince Philip, der auch noch John Lobb Schuhe trägt, die man ihm vor einem halben Jahrhundert gemacht hat, schrieb der Firma anlässlich eines Jubiläums, dass er die Tatsache, dass er so gut durch das Leben gekommen sei, nur den Schuhen von John Lobb verdanke. Wenn wir also gut durch das Leben kommen wollen, die Schlacht von Waterloo gewinnen (oder die von Arnheim verlieren) wollen, müssen wir Schuhe aus London tragen.

Hoby hat seinen Herzog wirklich geliebt, er hat alle Briefe aufgehoben, die er von Wellington bekommen hat. Aber im Alter scheinen seine magischen Fähigkeiten als Schuhmacher doch nachgelassen zu haben. Im Dezember 1829 schreibt Wellington an seinen Freund Charles Arbuthnot und bittet ihn um die Adresse seines Schuhmachers. In den Schuhen, die Hoby ihm gemacht hat, kann Wellington nicht gehen, er humpelt nur noch. Abraham Lincoln soll einmal zu Diplomaten, die ihn im Garten des Weißen Hauses beim Schuhputzen antrafen und ihm vorhielten in England no gentleman ever cleans his own boots geantwortet haben: Indeed? Whose boots do they clean then? Wellington putzt seine Stiefel bis ins hohe Alter selbst. Bei der feierlichen Beerdigung des Herzogs 1852 kommen Hobys Stiefel, in denen Wellington die Schlacht von Waterloo gewonnen hat, aber noch einmal in das Blickfeld der Öffentlichkeit. Die zwölf Pferde, die den Katafalk ziehen, gehören nicht dem Herzog, die hat man sich bei einer Brauerei ausgeliehen. Aber das reiterlose Pferd Wellingtons trägt die nach alter Sitte umgedrehten Stiefel in den Steigbügeln. Und kein Journalist vergisst zu erwähnen, dass die Stiefel von Hoby gemacht wurden. So bleibt der schottische Methodist seinem Herzog bis zum Tode verbunden.

Lesen Sie auch: ➱Lord Byrons Schuhe.

Ästhetik


Das 18. Jahrhundert entdeckt die Natur, erfindet die bürgerliche Gesellschaft und die Ästhetik. Wahrscheinlich hängen alle drei Begriffe irgendwie zusammen. Es ist ein Franzose namens Rousseau, der eine neue Gesellschaftstheorie schreibt, die sich nicht mehr auf Thomas Hobbes bezieht, und der uns die Natur näher bringt. Revenons à la nature. Es ist ein Deutscher namens Alexander Gottlieb Baumgarten, der die ersten systematischen Vorlesungen über Ästhetik hält, und diesen Teil der Philosophie als eine Wissenschaft des sinnlichen Erkennens definiert. Man macht ihn dafür 1737 zum Professor für Weltweisheit. Das ist ein schöner Titel, den es heute nicht mehr gibt. Wir hätten wohl auch niemanden, dem man diesen Titel verleihen kann. Aber ein in Dublin geborener Engländer namens Edmund Burke, einer der besten politischen Denker des 18. Jahrhunderts, wird mit einer kleinen Schrift über das Schöne und das Erhabene einen Einfluss auf die bürgerliche Rezeption des Naturerlebnisses haben, den man gar nicht groß genug einschätzen kann. An dieser Philosophical Inquiry into the Origins of Our Ideas of The Sublime and Beautiful werden sich die Philosophen abarbeiten, von Kant und Schiller bis zu Joachim Ritter, Dieter Groh und Thomas Weiskel.

Ein solches Begriffspaar von sublime und beautiful kann auch von nicht zur Philosophie neigenden Engländern verstanden werden, die jetzt den Tourismus entdecken. Und die es auf ihrer Grand Tour in die Alpen zieht. Und damit man sich das auch schön merken kann (Engländer haben es gerne einfach), verbindet man diese Begriffe mit zwei Landschaftsmalern, Claude Lorrain und Salvator Rosa. Claude Lorrains ausgewogene Ideallandschaften, von einem milden goldenen Licht durchflutet, sind beautiful. Die zerklüfteten Felslandschaften mit banditti von Salvator Rosa sind dagegen sublime, weil sie ein Moment des Gefährlichen, Bedrohlichen in sich bergen. Es ist immer schön, wenn die Philosophie Begriffe anbietet, die man leicht begreifen kann. Das führt nun dazu, wie Elizabeth Manwaring gezeigt hat, dass die Engländer Bilder von Claude Lorrain und Salvator Rosa sammeln. Man möchte ja auch gerne philosophisch sanktionierte Naturerlebnisse an der Wand des Wohnzimmers haben. Was in Italien zu einer florierenden Industrie von gefälschten Salvator Rosa Bildern führt, die man gutgläubigen Engländern verkauft.

Und zur Entstehung des Claude glass. Das ist eine goldfarbig eingefärbte Glasscheibe mit blechernem Rahmen, die der englische Reisende in der Tasche trägt und bei Bedarf vor die Augen hält. Und schon sieht man die Landschaft gerahmt und beautiful im milden, goldfarbenen Licht des göttlichen Claude. Ein derart sublimiertes sublime ersetzt dem Engländer einen Gefühlsausbruch, denn mit dem Zeigen von Gefühlen haben es die Engländer nicht so. Die schöne Geschichte, dass der Sohn eines Adligen in die Armee eintritt, General wird, eine Kolonie für das empire erobert und nach Jahrzehnten auf das väterliche Anwesen zurückkehrt, nur um die Worte zu hören Tee gibt es um halb fünf, diese schöne Geschichte kann nur aus England kommen.

Die Alpen, die Albert von Haller schon 1729 in seinem gleichnamigen Gedicht verherrlicht hatte, werden jetzt zum bevorzugten Ziel der englischen Gralssuche nach der Naturschönheit. Die Alpen sind immer sublime, ihre Bergbewohner pittoresk. Obgleich das Erlebnis der Elementarnatur nicht immer so schön ist. Der Wolf, der den Lieblingsspaniel von Horace Walpole frisst, vermiest dem Engländer sein schönes Alpenerlebnis. Und sein Begleiter, der Dichter Thomas Gray, notiert indigniert, dass dies carries the permission mountains have of being frightful rather too far. Und dann die schrecklichen Erlebnisse, die man in den schmutzigen Gasthöfen (die sich jetzt alle Hotel Bristol nennen) hat. Aber mit der stiff upper lip wird der Engländer auch das ertragen. In Der Tragödie zweiter Teil fragt Mephistoteles: Sind Briten hier? Sie reisen doch so viel. Goethes Teufel weiß, wovon er spricht. Thomas Cook wird ein Reisebüro aufmachen, um die Engländer sicher in die Bergwelt zu bringen. Der Schöpfer von Sherlock Holmes und Dr. Watson wird sich von seinem Schneider extra dicke Tweedhosen machen lassen, damit er auf dem Hosenboden die schneebedeckten Berghänge herunterrutschen kann. Aus der Zeit von Sir Arthur Conan Doyle datiert auch eine kleine Geschichte, die man sich in Bremen erzählt. Wo man sich ja englischer als die Engländer gibt. Das tun die Hamburger ja auch, aber die sind für die Bremer ja nicht wirklich zurückhaltend englisch, eher schon neapolitanisch leichtlebig. Also, eine Bremer Senatorenfamilie fährt mit der Eisenbahn in die Alpen. Und angesichts des Panoramas der schneebedeckten Berge und des ewigen Eises springt der Sohn auf und ruft Guck mal, Vadder. Was scheun. Die Alpens. Und der Vater sagt Junge, exaltier Dir nicht so. Worauf die Mutter, das Verhalten des Juniors erklärend, einwirft Das musst Du verstehen, er studiert ja nun schon ein Semester in Hamburg.

Montag, 25. Januar 2010

Amerikanische Dandies


Amerikanische Dandies? Es muss sie gegeben haben. Denn das berühmte Lied Yankee Doodle, das in der Zeit der amerikanischen Revolution überall gesungen wird, spricht in Zeile drei und vier von stuck a feather in his cap and called it macaroni und in Zeile zwei des Refrains von Yankee Doodle Dandy. Nun hat macaroni hier nichts mit einem italienischen Gericht zu tun, es ist vielmehr eine Bezeichnung für einen ➱Dandy, die im England des 18. Jahrhunderts allgemein gebräuchlich wird. Horace Walpole benutzt das Wort, James Boswell auch. In der Mitte des 19. Jahrhunderts ist es so gut wie ausgestorben. Wir müssen bei dem Lied bedenken, das es von einem Engländer geschrieben wurde, voller Verachtung für die country bumpkins in den Kolonien. Die sich schon als Dandy fühlen, wenn sie sich eine Feder in den Hut stecken.

Aber was zuerst ein englisches Spottlied ist, wird von den Revolutionären übernommen. Und die singen es dann bei jeder Gelegenheit, wenn sie die Engländer schlagen. Es muss schmerzlich für den Ruhm eines englischen Offiziers sein, auf dem Schlachtfeld von einem Amerikaner in Lederhemd und mit Bärenfellmütze erschossen zu werden, während er gerade dabei ist, mit Hilfe seines Dieners die Seidenstrümpfe zu wechseln. Der Leutnant hieß John Dutton, und sein vor dem Revolutionskrieg gemaltes Portrait ist in schottischem Privatbesitz. Der General Lord Howe hat diese dandyhaften Bedenken des Strumpfwechsels nicht. Als er oben auf Bunker Hill ankommt, sind seine weißen Seidenstrümpfe rot von Blut. Er ist aber einer der wenigen englischen Offiziere, die an diesem Nachmittag überleben. Die Amerikaner haben nicht so schöne blutrote Uniformen wie die Engländer.

Dennoch entwickeln sie ihren eigenen sartorialen Dandyismus. General Daniel Morgans Truppe der Virginia Riflemen trägt Lederhemden, so wie wir uns den Lederstrumpf vorstellen. Und auf dem Bild von der Kapitulation von Saratoga, wo alle amerikanischen Generäle eine blaue Uniform mit goldenen Verzierungen tragen, trägt er ein weißes Lederhemd, mit einem Gürtel geschnürt. Und mit viel Pelzbesatz. Außergewöhnlich, aber doch elegant. Und sicherlich eine bewusste Inszenierung. Daniel Morgan hat auch eine blaue Generalsuniform besessen, aber so sollte ihn die Welt sehen. Kein aristokratischer Gentleman und Dandy, ein Mann aus dem Volke.

Einen der elegantesten englischen Dandies des Revolutionskrieges kann man in der National Gallery in London bewundern. Das Bild ist von Joshua Reynolds gemalt und zeigt General Sir ➯Banastre Tarleton. Allerdings ist der junge Mann auf dem Bild damals noch nicht geadelt, und ein General ist er auch noch nicht. Er kommt aus reichem Hause, war ein großer Dandy in der feinen Londoner Welt, kaufte sich seinen Rang als Oberstleutnant und ist in Amerika nun das, was die Franzosen einen beau sabreur nennen. Die Amerikaner nennen ihn Bloody Ban und hassen ihn, weil er amerikanische Soldaten, die sich schon ergeben hatten, niedergemetzelt hat. Sir Joshua hat den schneidigen Kavallerieoffizier so gemalt, dass wir nicht sehen können, dass ihm an einer Hand mehrere Finger fehlen. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass diesem englischen Möchtegern Aristokraten und Dandy seine größte militärische Niederlage durch Daniel Morgan zugefügt wird. Und das auch noch in einer Schlacht, die ➱Cowpens heißt. ➱Saratoga oder Princeton würde ja noch gehen, aber wer verliert schon gerne eine Schlacht an einem Ort namens Hannahs Kuhpferch? Den Platz hat sich Morgan ausgesucht, gegen jede Empfehlung aus dem Taktiklehrbuch. Einen Wald und einen Fluss im Rücken. Er kann sich nicht zurückziehen. Aber seine jungen Milizsoldaten können auch nicht wegrennen, darum geht es ihm jetzt. Und er ist oben auf einem Hügel, da müssen die Engländer erstmal rauf. Die Schlacht von Cowpens ist ein Beispiel dafür, wie man mit Intelligenz gegen eine gutausgebildete Übermacht gewinnen kann. Auch wenn man nicht so elegante Uniformen hat wie Banastre Tarleton. Es ist nicht bekannt, ob die Amerikaner nach der Schlacht von Cowpens den Yankee Doodle gesungen haben.

Im 6. Kapitel von Moby-Dick, das The Street heißt, beschreibt der Erzähler die seltsamsten Seeleute aus allen Teilen der Welt, Kannibalen und Schrumpfkopfhändler inklusive. Aber das Seltsamste besides the wild specimens of the whaling craft fährt der Erzähler fort, sei der bumpkin dandy vom Lande. Der sein Land mit buckskin gloves for fear of tanning his hands bestellt. Obgleich Melville ein gutes Auge für jedes Zeichen der Eleganz besitzt, ist ihm jeder Dandyismus fremd. Als er auf seiner Europareise bei seinem Freund Hawthorne (der jetzt amerikanischer Konsul in Liverpool ist) auftaucht, hat er nur zwei ungewaschene Hemden im Gepäck.

Aber das schönste Beispiel für den Dandyismus der neuen Welt ist sicherlich der Maler John James Audubon. Eigentlich ist er ja Franzose und heißt Jean Rabin, ein illegitimes Kind eines französischen Kapitäns. Aber der Vater wird ihn von Haiti mit nach Frankreich nehmen. Audubon, einer der begabtesten Lügner seiner Zeit, wird aus seinem Vater einen Admiral machen, der mit Washington bei Valley Forge gekämpft hat. Allerdings fand da nie eine Schlacht statt. Und aus seiner etwas geheimnisvollen Geburt wird die Legende werden, dass er der verlorene Dauphin des Hauses der Bourbonen sei. Die Ausbildung zum Maler und Zeichner will er bei Gérard und David erhalten haben. Nichts davon ist wahr. Es ist wahr, dass er einmal ins Gefängnis wandert, weil er einen Engländer namens George Keats um Geld betrogen hat. Dieses Geld hätte der Bruder von George besser gebrauchen können, denn es gehörte zum Teil ihm. Der Bruder heißt John, sitzt in London und schreibt Gedichte, die niemand liest. Aber wahr ist auch, dass Audubon durch halb Amerika zieht und seine Birds of America zeichnet. So ganz nebenbei ist der Münchhausen aus Amerika doch ein großer Künstler und Naturwissenschaftler. Als er nach Europa reist, um sein gigantisches Werk der Birds of America zur Subkription zu stellen und Gelder einzuwerben, da wird er sich nicht zurückhaltend kleiden wie der große Dandy Beau Brummell. Er erfindet für sich ein Phantasiekostüm eines amerikanischen Waldläufers.

Wenn Natty Bumppo, der Held von Coopers Lederstrumpfromanen, so herumgelaufen wäre, hätten ihn seine indianischen Freunde ausgelacht. Aber in Europa kommt er damit an. Hier in den Salons von Paris und London wird der Franzose Audubon zum Amerikaner. Weil sich amerikanische Trapper besser verkaufen, als angebliche Schüler von David. Man findet diesen kultivierten Primitivismus chic. Daniel Boone, der wahrscheinlich die Basis für all diese neuen amerikanischen Helden ist, wird diesen Look sorgsam pflegen. Andrew Jackson wird sich ein ähnliches Image geben. Und am Ende des Jahrhunderts zeigt Buffalo Bill Cody, dass dieser Look des amerikanischen Waldläufer-Dandies nicht totzukriegen ist. In England wird sich diese Mode nicht durchsetzen. Wenn man schon mit dem Wilden flirten möchte, dann liest man Lord Byron und trägt den Hemdkragen offen. Und außerdem ist man gerade auf einem Mittelalter Trip und verkleidet sich als Ritter. Und der Prince Consort entwirft schottische Tartans. Die englische Mode geht seltsame Wege.

Sonntag, 24. Januar 2010

Teddy Boys

Im Jahre 1948 sagt ein Verkäufer bei Simpson (Piccadilly) zu einer Dame der Londoner Gesellschaft, wie schön es wäre, wenn man Kleidung wieder frei kaufen könnte und dafür keinen Bezugsschein brauchte. Die Dame flüstert ihm zu, dass sie ihm voll zustimme. Sie könne das nur nicht laut sagen, denn ihr Ehemann sei Sir Stafford Cripps. Der verwaltet den Mangel, der jetzt überall herrscht, auch bei den Siegermächten. Ein Jahr später braucht man keine Coupons mehr, und die Schlange bei Simpson geht den ganzen Piccadilly entlang bis zur St. James Church. Während des Krieges hatte Simpson Uniformen produziert (und ihr modernistisches Geschäftshaus als Offiziersmesse für alle Waffengattungen zu Verfügung gestellt). Nach dem Krieg stellte man die demob Anzüge her, jeder britische Soldat bekommt einen Zivilanzug. Um getreu der Direktiven von Sir Stafford Cripps Stoff zu sparen, werden die Jacketts kürzer. Der Volksmund nennt so etwas bum freezer. Reinhold Beckmann trägt das ein halbes Jahrhundert später freiwillig und fühlt sich modisch auf der Höhe.

Aber diese Nachkriegsmode, aus der Not geboren, wird sich nicht lange halten. Wenig später verkündet die Savile Row den Neo Edwardian Style. Überlange Jacketts. Die Traditionshäuser der Row orientieren sich an Edward, dem Sohn von Victoria, der ein halbes Jahrhundert zuvor die Herrenmode revolutioniert hatte und ihr einen Stil für das 20. Jahrhundert gegeben hatte. Also gibt es jetzt lange, aber taillierte, Jacketts, häufig auch mit Seideneinfassung des Revers und vier statt drei Knöpfen. Enge Hosen und Brokatwesten, Samtkragen auf den Mänteln. Genau wie die Pariser Damenmode zeigt man, dass Stoff jetzt nicht mehr rationiert ist. Und man will sich auch von den weiten Gangsteranzügen der amerikanischen Mode absetzen. In Deutschland fühlen sich die wenigen Journalisten, die über Mode schreiben (und das ist beinahe nur der Alt-Nazi, Baron Hermann-Marten von Eeelking, in seinem Herrenjournal) an den Mayerlingstil der Jahrhundertwende erinnert.

Aber nun geschieht in England etwas ganz Seltsames. Der outrierte Dandy Look wird nicht von den Gentlemen angenommen, sondern von den Prollis der working class adaptiert. Die verdienen jetzt Geld bei Wiederaufbau von London, und sie geben Monatsgehälter bei Schneidern in Soho aus (bei Henry Poole würden sie sich wohl nicht in den Laden trauen), um solche Edwardian Style Anzüge zu bekommen. Natürlich noch etwas übertriebener und mit einigen amerikanischen Elementen gemischt, wie einem string tie und den brothel creepers mit der fetten Specksohle. Um sich dann in piekfeinen Klamotten Straßenschlachten mit anderen Gangs zu liefern.

Sie bekommen schnell den Namen Teddy Boys, die erste, klar erkennbare Jugendkultur ist geboren (wenn wir einmal von den zoot suits und den bobby soxers absehen). Aber es entstehen jetzt in der ersten Hälfte der Fifties in London noch andere Jugendkulturen. Da sind die modernists, auch Mods genannten. Die tragen scharfe enge Anzüge und Buttondown Hemden, haben einen Motorroller und hören Jazz. Und es kommen die ersten Motorradrocker, die schwarze Lederjacken tragen und so aussehen wie Marlon Brando in The Wild One. Und da sind die Jugendlichen aus den Einwandererfamilien aus der Karibik, die immer einen pork pie Hut tragen und Calypso und Reggae hören.

Der Stadtteil Notting Hill wird zu einem Problemstadtteil, er hat noch nichts von einem Schickeria Stadtteil an sich, in dem Julia Roberts plötzlich bei Hugh Grant im Buchladen auftaucht. Der Immobilienhändler Peter Rachman eignet sich halb London an, Gangster wie die Kray Zwillinge regieren Teile der Stadt. Soziale Spannungen entladen sich in Straßenschlachten, aber immer stilvoll mit Anzügen und Hüten. Die Mods fahren am Wochenende mit ihren Vespas und Lambrettas nach Brighton, einen Parka über ihren eleganten Klamotten, um sich am Strand mit den Lederjackenrockern zu kloppen.

Ist die Savile Row an allem schuld? Die feinen Schneider sind peinlich berührt, wie ihr neuer Edwardian Style adaptiert und degeneriert ist. Sie propagieren diese Mode auch nicht länger. Aber sie haben einer Jugendkultur ein Gesicht gegeben. Von nun an wird es wichtig, nicht nur zu einer bestimmten Jugendkultur zu gehören, sondern einen Stil zu haben. The Meaning of Style wird Dick Hebdige sein Buch Subculture untertiteln (das erste seriöse englische Buch über Jugendkulturen). Und am Center of Contemporary Culture in Birmingham bekommt Paul Willis einen akademischen Grad für eine Untersuchung der Lederjacken Rocker. Colin MacInnes hat Ende der Fifties eine Romantrilogie über London geschrieben, deren berühmtester Roman Absolute Beginners geworden ist (hat wenig mit der Musikfilmversion mit David Bowie gemein). Mods, Lambrettas, Jazz, Rassenunruhen: alles steht hier drin. Denn nicht nur die Kunden der Traditionsschneider der Savile Row sind klassenbewusst und stilbewusst, auch die working class hat ihren Stil. Wenn man ein Mann ist, braucht man in England in den Fifties einen Anzug, keine Jeans und Sweatshirts.

Der Londoner Radiomoderator Robert Elms hat das in The Way we Wore: A Life in Threads liebevoll beschrieben: Closing my eyes I see it now: petrol blue, wool and mohair, Italian cut, flat-fronted, side adjusters, zip fly, sixteen-inch bottoms, central vent on the jacket, flap pockets, ticket pocket, three button (only one done up, of course), high breaking, narrow lapels, buttonhole on the left, four buttons on the cuff - claret silk lining. Sein großer Bruder hatte lange dafür gespart, um sich diesen Anzug machen zu lassen. Und dazu die Musik von Otis Redding Too Hard to Handle. Damals hat die working class noch Stil, heute hat sie shell suits.


Lesen Sie auch: Notting HillToday there are no gentlemen

Samstag, 23. Januar 2010

Wiesengrund


Theodor Adorno ist ein bedeutender Philosoph. Auf jeden Fall hielt man ihn 1968 dafür. Heute ist man sich da nicht mehr so sicher. Th. Adorno hat eine philosophische Beinahe-Namensvetterin, die Thea Dorn heißt. Eigentlich heißt sie ja gar nicht so, aber sie hat sich diesen Namen ausgesucht, damit sie immer auf Th. Adorno hinweisen kann. Sie ist auch eine berühmte Philosophin. Auf jeden Fall staatlich zertifiziert mit einem Magistertitel aus Berlin. Sie soll eine Magisterarbeit über Selbsttäuschung geschrieben haben. Ich habe auch Philosophie studiert, aber ich habe niemals Adorno gelesen. Ich habe fünf laufende Regalmeter Philosophie im Wohnzimmer, davon entfallen auf Adorno fünf Zentimeter. Ich habe auch viel Adorno verschenkt. Thomas Hobbes würde ich nie verschenken, Kierkegaard und Schopenhauer auch nicht. Theodor Adorno heißt eigentlich gar nicht Adorno, er hat wie Thea Dorn seinen Namen geändert. Eigentlich heißt er Theodor Wiesengrund. Mit dem Adorno hat er nur seinen Namen adorned.

Adorno ist auch ein berühmter Musikwissenschaftler gewesen. Deshalb hat Thomas Mann seine Kenntnisse ausgebeutet, als er Doktor Faustus: Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn erzählt von einem Freunde schrieb. Wir können ja froh sein, dass Thea Dorn sich nicht Adriana Leverkühn nennt. Thomas Mann beutet immer andere aus. Den Namen Buddenbrook und vieles andere hat er bei Theodor Fontane geklaut, und ohne Karl Kerényi hätte er Joseph und seine Brüder nicht schreiben können. Schriftsteller sind professionelle Diebe, immature poets borrow, mature poets steal, hat T.S. Eliot gesagt. Aber Thomas Mann hat Theodor Wiesengrund zum Dank in Doktor Faustus hineingeschrieben. Wenn dort eine Figur namens Wendell Kretzschmar Beethovens Klaviersonate 111 erläutert, singt er zu dem zweiten molto cantabile Satz Wie-sengrund und Grü-ner Wiesengrund. Glenn Gould hat auch immer beim Spielen gesungen, aber niemals grüner Wiesengrund. Michael Korstick, den man Dr. Beethoven genannt hat, singt überhaupt nicht, wenn er Beethoven spielt.

Der Musikwissenschaftler Adorno hat auch über Jazz geschrieben. Dass die ganze Disposition des Jazzorchesters...mit der Militärkapelle identisch ist. Und sich der Jazz zum faschistischen Gebrauch gut schicken lässt. Auf solchen Unsinn muss man erst einmal kommen. Der berühmte englische Historiker Eric Hobsbawm einmal hat über Adorno gesagt: Adorno wrote some of the most stupid pages ever written about jazz. Adorno hat in Frankfurt in den sechziger Jahren grosse Schwierigkeiten mit seinen Doktoranden. Die sind alle Jazzfans, Adorno ist das nicht. Von Charlie Parker hat er noch nie gehört. Der bekannte Musikwissenschaftler Joachim Ernst-Behrendt, dessen Jazzbuch 1953 bei Fischer erschien und in viele Sprachen übersetzt wurde, hat eine lange Fehde mit Adorno über die Rolle des Jazz ausgetragen. Das Jazzbuch ist immer noch ein Standardwerk, über Adornos Auffassung vom Jazz redet niemand mehr. Mehr, als Hobsbawm mit einem Satz gesagt hat, kann man dazu auch nicht sagen. Joachim-Ernst Behrendt hat in seiner Autobiographie den wahren Grund für Adornos Hass auf den Jazz enthüllt. Der junge Adorno hatte versucht, sich in seiner Jugend als Jazzpianist in Berlin etwas zum Studium dazu zu verdienen, aber niemand wollte diesen Jazzpianisten haben. Wenn aus ihm ein Jazzpianist geworden wäre, hätte er nicht diesen Unsinn schreiben müssen und uns wäre vielleicht der Philosoph Adorno erspart geblieben. Und Thea Dorn hätte sich einen anderen Namen suchen müssen. Aber vielleicht hätte Tommy Mann dann nicht Teddie Adorno ausbeuten können und Doktor Faustus und Die Entstehung des Doktor Faustus nicht geschrieben. So muss man Adorno doch für etwas dankbar sein.

Mittwoch, 20. Januar 2010

Balladen


Er hatte es heraus, wie man Balladen schreibt. Schon die erste Zeile macht neugierig auf die nächste, ob es König Gorm herrscht über Dänemark, Die 'Schwalbe' fliegt über den Eriesee oder Schwedische Heide, Novembertag ist. Fontane gilt als Meister der deutschen Ballade im 19. Jahrhundert (wir lassen jetzt mal Goethes schaurigen Erlkönig und Heines Balladen aus). Man sollte aber Fontanes Lyrik nicht auf die Balladen reduzieren. Wenn der Wikipedia Artikel zu Fontane von über 250 Gedichten spricht, dann hat man nur die Sammlung der Ausgabe von 1898 und nicht die Gedichte, die in Band II und III der Ausgabe des Aufbau Verlages sind, mitgezählt. Diese Ausgabe hat ja auch immerhin 700 Seiten Kommentar zu den Gedichten.

Nicht alles von Fontanes Balladen, in denen er die Chevy Chase Strophe importiert, endet in Blut und Tod wie Das Lied des James Monmouth (Das Leben geliebt und die Krone geküßt/Und den Frauen das Herz gegeben,/Und den letzten Kuß auf das schwarze Gerüst-/Das ist ein Stuartleben) oder Die Brück' am Tay. Auch Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland ist eine Ballade. Viele seiner Balladen sind Übersetzungen aus der englischen und schottischen Balladentradition, wie Barbara Allen, Jung-Musgrave und Lady Barnard oder Die drei Raben (die englische Version, nicht das schottische The Twa Corbies, obgleich er das auch übersetzt hat). Das ist uns der Mann, der so lange in England war und der Jenseit des Tweed geschrieben hat, sicher schuldig. Solche Balladen sammelt zur gleichen Zeit ein Professor in Harvard namens Francis James Child, der noch zu Lebzeiten Fontanes seine English and Scottish Popular Ballads herausbringen wird. Professor Child ist ein Spätling im Sammeln des Volksguts, das schon Bischof Percy, Sir Walter Scott und die Gebrüder Grimm betrieben hatten. Die Grimms kannte Child, er hatte bei ihnen in Berlin studiert. Childs Ausgabe der englischen Balladen enthält 305 Texte (alle Nummern und Titel finden sich im Internet), aber man wußte immer, dass es noch mehr geben müsste.

Während des Ersten Weltkrieges zeichnete der englische Professor Cecil Sharp in Amerika weitere Text auf. Mit Hilfe seiner Assistentin Maud Karpeles und nach Vorarbeiten von Olive Dame Campbell (über deren Leben man den Film Songcatcher gedreht hat). Wahrscheinlich ist die wissenschaftliche Leistung von Karpeles und Campbell hierbei größer gewesen, als die von Sharp. Aber Männer heimsen nun mal immer den Ruhm ein. Es sind die südlichen Appalachen, wo man viele Lieder aus der elisabethanischen Zeit findet, eine abgeschlossene Region, die ihre orale Kultur bewahrt hat. Professor Sharp hat die schöne (aber sicherlich falsche) Theorie, dass alle Lieder a capella gesungen wurden. Als die Hinterwäldler das erfahren, packen sie Fiedel, Gitarre und Dulcimer weg und singen die Lieder dem englischen Professor a capella vor. Das sind höfliche Leute, da im Süden. Wenig später, als das Radio funktioniert, ist die Gegend das Zentrum der bluegrass music. Mit Gitarre, Fiedel und Hackbrett.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wird es ein folk revival geben. In dieser Szene haben Joan Baez und Bob Dylan (bevor er zur elektrischen Gitarre griff) angefangen. Harry Belafonte hat in seiner Frühzeit die alte Ballade von Lord Randall gesungen (das Lied mit 21 Varianten hat bei Child die Nummer 12). Fairport Convention und Joan Baez haben die Ballade, die bei Fontane Jung-Musgrave und Lady Barnard heißt, als Matty Groves gesungen. Schon vorher war sie von Benjamin Britten neu vertont worden. Woraus man sehen kann, dass Balladen ein langes zähes Leben haben. Wenn heute von Balladen die Rede ist, dann meint man langsame, schmalzige Stücke der Populärmusik. Der Londoner Steve Roud hat die Klassifizierung von Child auf alle bekannten Volkslieder erweitert, seine Sammlung und Nummerierung geht in die tausende. Whitney Houstons I will always love you aus ihrer Ballads Collection (2009) ist aber glücklicherweise nicht dabei.

Dienstag, 19. Januar 2010

Kurze Geschichte der amerikanischen Literatur


James Fenimore Cooper, der Begründer des amerikanischen Romans, ist auf Umwegen zur Literatur gekommen. Eigentlich hätte der Sohn eines Großgrundbesitzers das Leben eines englischen Landedelmannes im Staate New York führen können. Nicht jeder wächst in einer Kleinstadt auf (Cooperstown), die nach dem eigenen Vater benannt ist. Mit sechs konnte er Latein (angeblich), mit dreizehn war er in Yale, flog da aber schnell wieder raus. F. Scott Fitzgerald hatte später in Princeton das gleiche Schicksal. Hemingway konnte nicht von der Uni fliegen, der hat nie eine besucht. Yale hatte damals den Status eines besseren Gymnasiums. Es ist nie ganz geklärt worden, weshalb der Verweis ausgesprochen worden, aber die schöne Geschichte, dass er einen Esel auf den Platz des Professors gesetzt habe, hält sich hartnäckig. Vater Cooper steckt den jungen Nichtsnutz erstmal in die Marine. Das machen englische Landadlige genau so. Präsident Thomas Jefferson unterschreibt James Coopers (das Fenimore kommt erst 1826 zum Namen dazu) Ernennungsurkunde zum Offizieranwärter.

Er weiß nicht, dass dieser junge Mann eines Tages die Gattung des amerikanischen Seeromans begründen wird. Lange vor Dana und Melville und den Engländern wie Joseph Conrad, C.S. Forester und Patrick O'Brian. Den Atlantik wird Cooper in seiner nautischen Karriere nicht sehen, er schippert auf den großen Seen herum, die Amerika von Kanada abgrenzen. Aber das sind ja auch schon kleine Meere. Er läßt sich nach New York versetzen, um endlich auf den Atlantik zu kommen. Lernt dort seine Frau kennen. Der gefällt seine Tätigkeit als Marineoffizier nicht so sehr, und so bleibt nur der Abschied von der Marine und das Leben eines Gentleman Farmers. Was ihn langweilt. Heimlich hängt er doch an der Navy, und er wird eines Tages eine lange Geschichte der US Navy schreiben. Und wenn er seinen ersten Lederstrumpfroman, The Pioneers, schreibt, hat er schon seinen ersten Seeroman im Kopf. Der heißt The Pilot: A Tale from the Sea und wird in deutscher Übersetzung schon 1824 in Leipzig erscheinen. Den Roman hat Cooper seinem Freund aus der Marinezeit, William Branford Shubrick, gewidmet. Der ist bei der Navy geblieben, wird noch Admiral und Coopers Tochter wird nach seinem Tod eine biographische Skizze über ihn veröffentlichen.

Es ist die Zeit, in der alle Welt und vor allem Amerika die neue Literaturform liest, die jetzt aus England herüber kommt: Romane. Wie die von Jane Austen. Die gefallen Cooper nicht so sehr. Das kann ich besser, sagt er seiner Frau. Und sie sagt: Mach doch. So oder so ähnlich soll es gewesen sein. Cooper schreibt seinen ersten Roman, der sogar in England Erfolg hat. Das ist erstaunlich, denn aus Amerika kommt damals keine Literatur nach Europa (mit Ausnahme der Reiseskizzen von Washington Irving). Die führende Literaturzeitschrift, der Edinburgh Review, hatte gehöhnt, dass die Amerikaner keine Literatur haben und auch keine brauchen. Dank der schnellen Schiffsverbindungen sei jeder englische Roman in wenigen Wochen auch auf dem amerikanischen Markt. In the four quarters of the globe, who reads an American book? fragte 1820 Sydney Smith, der Literaturkritiker geworden war, weil er kein Bischof wurde.

Cooper wird diese Einbahnstrasse der Literaturvermittlung aufheben und enthusiastische Leser in Europa finden. Goethe hat ihn begeistert gelesen, und Schubert verlangte auf dem Sterbebett nach dem neuesten Lederstrumpfroman. Als er die schreibt, ist Cooper längst nicht mehr in den großen Wäldern oder auf den großen Seen des Staates New York. Je weiter sich sein Held Natty Bumppo, der Lederstrumpf, in den Westen bewegt, desto weiter bewegt sich Cooper von Amerika weg. Aber die großen Seen und die großen Wälder bleiben in der Erinnerung und wandern in die Romane. Ein eigener Kosmos für einen eigenen nationalen Mythos, das friedliche Zusammenleben von weiß und rot. So wie Mensch und Tier auf dem Bild von Edward Hicks The Peaceable Kingdom. In der Figur des Lederstrumpf, des American Adam, liegt die Überwindung der Rassenschranken. Aber auch der Kern für John Wayne oder den waffenverrückten Charlton Heston. Und in The Pioneers schreibt er eine Warnung vor der Umweltzerstörung hinein, der erste Ökoroman der amerikanischen Literatur.

Die Romane im Stil von Jane Austen sind nichts für Cooper, das hat er früh erkannt. Er hält sich lieber an den Schotten Sir Walter Scott. Der hat mit Waverley den historischen Roman erfunden, eine Zauberformel der Literatur, die bis heute funktioniert. Man hat Cooper den amerikanischen Scott genannt, was er immer gehasst hat. Als er Scott zum ersten Mal 1826 in Paris in einem Salon trifft, unterhalten sich die beiden Giganten des Romans auf Französisch. Englisch wäre ja naheliegender gewesen, aber beide Herren wollen zeigen, dass sie Gentlemen sind und sich in der feinen Welt auskennen. Sie wollen auch keine Berufsschriftsteller sein, igitt. Sie sind Gentlemen, die nebenbei schreiben. Und sie schreiben viel. Cooper mehr als 30 Romane (Scott noch mehr) und mehr als ein Dutzend anderer Bücher. Cooper bleibt nichts anderes, das große Familienvermögen ist heruntergewirtschaftet. Bei Scott ist die Lage nach der Pleite seiner Verleger ähnlich. Und die Schulden, die er für den Bau seines Schlosses gemacht hat, fressen ihn auf. So bleibt ihm nichts anderes, er muss er weiterschreiben. Allerdings nie unter seinem Namen, auf seinen Büchern steht nur, dass sie vom Autor von Waverley seien. Ich habe heute neben dem großen Unbekannten gesessen, schreibt Fürst Pückler nach einem Diner in der großen Gesellschaft in London. Der große Unbekannte war natürlich Sir Walter.

Das Leben in der feinen Welt Europas findet Cooper auch schöner als das Leben unter seinen Landsleuten, die er für prollige Barbaren hält. Was er auch sagen wird. Damit macht man sich bei den Amerikanern nicht so beliebt, auch wenn man die amerikanische Literatur begründet hat. Und die ist jetzt da, die amerikanische Literatur, jetzt schreiben sie alle gleichzeitig: William Cullen Bryant, Ralph Waldo Emerson, Edgar Allan Poe, Herman Melville, Nathaniel Hawthorne, Henry David Thoreau, Walt Whitman. Drei Jahrzehnte nach Smiths provokanter Frage konnte Herman Melville in Hawthorne and His Mosses die Antwort geben. Der Tag sei nicht fern, dass man fragen würde who reads a book by an Englishman that is modern? Zu der Zeit tauchen in Bernhard Tauchnitz' Collection of British Authors schon viele Amerikaner auf. An Sydney Smith, der die junge Literaturnation so beleidigt hatte, erinnert sich heute in Amerika niemand mehr. Mit einer Einschränkung: viele amerikanische Hausfrauen können ein Gedicht von ihm auswendig, in dem es um die richtige Zubereitung einer Salatsoße geht. Woran man sehen kann, dass Literaturkritik doch für irgendetwas gut ist.

Sonntag, 17. Januar 2010

Uwe Nettelbecks Melville


An diesem Tag vor drei Jahren ist Uwe Nettelbeck gestorben, er wäre heute 70 Jahre alt geworden. Und die schnelllebige Zeit hatte damals schon beinahe vergessen, wer er war. Nicht alle, wie die Nachrufe bewiesen. Er hatte Germanistik in Göttingen und Hamburg studiert, nachdem er das Abitur mit Ach und Krach in einem Internat geschafft hatte. Das Studium hat er nicht beendet, wahrscheinlich war er zu schlau dafür. Plötzlich war er bei der Zeit und machte die etwas verschlafene Hamburger Wochenzeitung mit dem Bremer Stadtwappen zu etwas Aufregendem. Er schrieb Filmkritiken, die über eine ganze Seite gingen, an so etwas ist heute nicht mehr zu denken. Es waren pointierte, wilde Artikel von jemandem, der einen scharfen Verstand und eine eigene Meinung hatte.

So etwas gibt es heute in dieser klebrigen Kuschelkultur nicht mehr. Plötzlich wurde die Zeit von Leuten gelesen, die sich sonst die Cahiers du Cinéma kauften. Er schrieb auch Gerichtsreportagen. Über den Kindsmörder Jürgen Bartsch und über die Baader Meinhof Bande. Er entfernt sich immer mehr von den Leitlinien der Redaktion der Zeit, gibt ein kurzes Gastspiel bei konkret, und macht dann eine Popmusik Kommune in der Lüneburger Heide auf, da wo die gefährlichen Heidschnucken wohnen, wie Madame de Stael schrieb. Er hatte die Tagesschausprecherin Petra Krause geheiratet. Die ist seit einem Selbstmordversuch querschnittgelähmt, aber das sieht man auf dem Fernsehbild nicht. Irgendwann macht er eine Erbschaft und zieht nach Maransin bei Bordeaux, weg aus der verhassten deutschen Republik. Er begründet eine Zeitschrift, die Die Republik heisst und ein wenig so aussieht wie Die Fackel von Karl Kraus. Und der wird zu seinem Vorbild. Die Fackel ist eine Art Einmann Unternehmen, ein exilierter Intellektueller gegen den Rest des Kulturbetriebs. Heute würde Nettelbeck einen Blog im Internet haben.

In der Republik vom 12. Dezember 1988 hat Nettelbeck einen 163 Seiten langen Melville Essay geschrieben, der immer noch eine großartige Einführung in Melvilles Leben und Werk ist. Etwas wie Charles Olsons Call Me Ishmael. Etwas, was man lesen soll, bevor man sich den langweiligen Schriften der amerikanischen Melville Mafia zuwendet. Nettelbeck ist kein Philologe, das abgebrochene Philologiestudium macht sich bemerkbar, es fehlen ihm einige wichtige Standardtexte der Melville Literatur. Seine Philologie ist eher die von Arno Schmidt, dessen Leistung für die deutsche Germanistik man ja nicht unterschätzen sollte.

Sie ist von einer tiefen Liebe zu Autor und Text getragen, das findet man bei vom Staat alimentierten Universitätsprofessoren heute kaum noch. Er bespricht am Anfang des Essays alle deutschen Moby-Dick Ausgaben, wobei er sehr ungerecht zu der Übersetzung von Fritz Güttinger ist. Dessen Moby-Dick in der Manesse Ausgabe habe ich zuerst gelesen, bevor ich ein dutzend Mal die Ausgabe von Mansfield und Vincent gelesen habe. Zu der Übersetzung von Friedhelm Rathjen möchte ich nichts sagen. Man kann sie wegen der schönen Holzschnitte von Rockwell Kent kaufen. Mit dem Schweizer Übersetzer Güttinger verbindet mich eine jahrzehntelange Brieffreundschaft, und auf den lasse ich nichts kommen. Nettelbecks Melville Esssay, der zu Hälfte aus klug montierten Melville Zitaten besteht, ist eine tour de force. Mit einem rührenden Ende. Und wir haben am Ende das Gefühl, dass wir Herman Melville kennen, von dem man trotz der 1.800 Seiten von Hershel Parkers Biographie so wenig weiß. Ich habe Nettelbeck gelesen, mich manchmal über ihn geärgert, ihn manchmal gehasst. Sicher ist Eckhard Henscheids Kritik, dass Nettelbeck sich als zweiter Karl Kraus geriere, sich nur auf das 18. Jahrhundert kapriziere und den gegenwärtigen literarischen Diskurs als drittklassig verurteile, zum Teil berechtigt. Aber ähnliches könnte man auch über Arno Schmidt sagen.

Auf Seite 184 von Nummer 82-85 der Republik steht: Innen an der Seitenblende seines Schreibtischs war das Motto befestigt: "Always keep true to the Dreams of thy Youth." Das Motto könnte auch über dem Werk von Uwe Nettelbeck stehen.

Happy Birthday














einen flur
voller moore
säle voll
maillol
und ein brütt
nicht zu lütt
ein rodin
und viel vin
la grande soirée
im eskadé
doch wieland nie
wünscht dscheipibi

* eskadé = SKD Staatliche Kunstsammlungen Dresden


Samstag, 16. Januar 2010

Poem for Henry Beissel


how do you do?
how do you do?
meeting a poet
just out of the blue
not being warned
that one is in the presence
of a V.I.P.
the President of the League of Canadian Poets.

you know Professor Beissel, of course?
and you,
watching me (with that ironic smile)
lighting my pipe,
just to gain time
to find le mot juste.

Allen Ginsberg wrote a poem
on wandering thru a Californian supermarket
with Walt Whitman
how do you do?
meet Mr. Whitman, who wrote Leaves of Grass
meet Mr. Bryant, who wrote The Prairies,
or something like this.

how does one behave in the presence
of a poet?
the professional small-talk
of professional men
professors
of Engl. Lit.
talking of Michelangelo etc.

meeting a poet
just out of the blue.
if I had but known
I had brought my camera
to catch the moment
(catch a falling star
and put it in your pocket,
save it for a rainy day)
and I would have donned
one of my London-tailored
flannel suits
instead of wearing jeans and sneakers.

would you have been impressed?
meeting a poet
for ten minutes,
cultured conversation
right out of Woody Allen's Manhattan.
parting.
what can one say
except something along those lines
which Bogart had
at the end of Casablanca?


Ich habe den kanadischen Dichter Henry Beissel 1980 getroffen und wusste nicht, wer er war. Das ist mir sehr peinlich gewesen. Um mich zu entschuldigen, habe ich dieses kleine Gedicht geschrieben und es ihm nach Kanada geschickt. Er fand es sehr witzig. Das sind schon höfliche Leute, diese Kanadier.

Poem


anno 1636 weinte
andreas greif,
gryphius genannt
tränen um das verwüstet vaterland.
doch feur, pest und tod:
das ist uns heute fern.
mindestens von hier bis hanoi, bagdad und kabul
oder auf der landkarte der seele
siebzig jahre zurück.
ist was, das nicht durch krieg, schwert, spiess und feur
zerstört?
ist solche grausamkeit, sind solche schanden
ganz ohne straf verübt?
sei froh andreas greif, dass du vor jahren starbst
du nicht zu sehen brauchst
dass mord und tod die welt regiert
zeus hat seine himmel bedeckt
und weint, wie einst
andreas greif, gryphius genannt
um sein verwüstet vaterland.
herr es ist genung geschlagen
angst und ach genung getragen
gib doch nun etwas frist.
dass ich mich recht bedenke
gib dass ich der handvoll jahre
froh werde einst vor meiner bahre
missgönne mir doch nicht dein liebliches geschick.

Freitag, 15. Januar 2010

Cliff Roberts, Artisan


Das englische Wort artisan heißt Handwerker, es kommt aus dem Lateinischen und das art von Kunst und Künstler steckt in dem Wort. Ich habe das Wort bewusst gewählt, denn wenn ich Cliff Roberts, shoemaker geschrieben hätte (oder cordwainer oder cobbler), hätte das es nicht getroffen. Andere nehmen das Wort artisan, weil sie es für den Reim brauchen. So Hilaire Belloc in dem wunderbar bescheuerten Knittelvers:

Lord Finchley tried to mend the Electric Light
Himself. It struck him dead. And serve him right
It is the business of the wealthy man
To give employment to the artisan

Cliff Roberts ist schon ein Künstler, mehr als ein einfacher Schuhmacher. Vor vier Wochen kannte ich den Namen noch nicht. Obgleich, wenn man den Internetforen wie askandyaboutclothes, newsaboutshoes oder stilmagazin glauben darf, das ein Name ist, den man eines Tages mit Namen wie George Cleverley oder Nikolaus Tuczek verbindet. Also solchen Schuhkünstlern, die in der Welt des Damenschuhs Manolo Blahnik heißen. Ich weiß noch, dass ich Gabi bei ihrem ersten Londonbesuch Manolo Blahnik empfohlen haben, das war lange, bevor die Blahniks durch Sex and the City popularisiert worden. Gabi hat im Laden beinahe einen Ohnmachtsanfall bekommen. Gabi hat einen Schuh-Tick, viele Frauen haben den, man denke nur an Imelda Marcos.

Aber offensichtlich werden auch Männer von dieser Krankheit befallen, wie man an den Einträgen in den oben erwähnten Foren ablesen kann. Die Jünger des Heiligen Crispin (nach dem die erste amerikanische Schuhmachergewerkschaft Order of the Knights of St Crispin hieß) entwickeln da schon beängstigende Fachkenntnisse. Kaufen Luxusschuhe und nehmen sie auseinander, um hinter die Geheimnisse des absoluten Schuhs zu kommen. Weird, würde da der Engländer sagen. Ich habe meine erstes Paar Cliff Roberts Schuhe von Urban B. gekauft, der versteht viel von Schuhen. Das hat mir auch Christian Geffers bestätigt, der hat eine Modeagentur und handelt mit Schuhen, die ➱Mack James heißen. Klingt sehr englisch, aber die Schuhe kommen aus Portugal. Sind besser als die Engländer, sagt Geffers, und da könnte er recht haben. Die Qualität mancher Engländer, die lange das nec plus ultra waren, hat nachgelassen. Die Schuhmacher rund um das Mittelmeer haben längst bewiesen, dass sie das alles auch können, was die Könige in der Welt des Schuhs in Northampton können. Zwischen meinen Mack James und den Königen des Schuhs wie Edward Green und Crockett und Jones sind keine großen Unterschiede. Englische Schuhe werden in und um Northampton hergestellt, es gibt noch über dreißig Fabriken, es sind einmal hunderte gewesen. Manchen geht es schlecht wie ➱Alfred Sargent, die schon Gegenstand einer Diskussion im englischen Parlament waren. Andere sind an die Italiener verkauft worden, wie Church an Prada. Aber andere halten weiterhin Englands Fahne hoch.

Als ➱John Lobb vor Jahren in einem Interview gefragt wurde, was er von Prada Schuhen hielte, fragte er naiv Wer ist Prada? Heute weiß er es. Einer der Vorfahren von Lobb soll in der Sträflingskolonie Australien wegklappbare Stiefelabsätze gebaut haben, damit man Wertsachen im Absatz verstecken konnte. Vielleicht stimmt die Geschichte nicht, aber seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ist die Firma in London. Der Herzog von Edinburgh trägt John Lobb (Charles angeblich ➱Trickers, auf jeden Fall steht das in goldenen Letter in jedem Trickers Schuh). Ich habe Philip ein einziges Mal getroffen. Vor lauter Aufregung und Verlegenheit konnte ich nichts anderes tun, als ihm auf die Schuhe zu starren. Die waren dunkelrot, irgendetwas zwischen maroon und bordeaux. Die gleiche Farbe wie sein Rolls Royce draußen.

Als mir vor Weihnachten ein überarbeiteter und unterbezahlter Paketbote meine Cliff Roberts Schuhe brachte, habe ich sie angezogen (man soll sie ja auf weichen Teppichen eintragen) und dann gar nicht mehr gemerkt, dass ich Schuhe trug. Ein Schuh für Götter, auch wenn keine kleinen Flügel dran sind wie bei Hermes, dem Gott der Kaufleute und der Diebe. Es sind wunderbare Schuhe, die auch in allen Stadien der Herstellung im Internet zu bewundern war (leider existiert die Seite nicht mehr).

Cliff Roberts hat dreißig Jahre für eine Firma in Northampton gearbeitet. Den Namen gibt er aus Diskretion nicht preis, man vermutet, dass es Edward Green war, die noch schöne Leisten aus den Zwanziger Jahren haben. Mit seinen Preisen für einen handgearbeiteten Schuh unterbietet er die Londoner Konkurrenz wie zum Beispiel W.S. Foster & Son um die Hälfte (viele der berühmten Firmen der Jermyn Street wie Codner, Coombs & Dobbie, Maxwell oder Peale sind ja verschwunden oder existieren nur noch dem Namen nach). Und dennoch scheint seine Rechnung aufzugehen; nachdem er durch das Internet bekannt wurde, kann er sich vor Aufträgen nicht mehr retten. Seine Frau photographiert den im Entstehen begriffenen Schuh in jedem Zustand und so kann der Kunde per Email Attachment an der Kreation des Kunstwerkes teilhaben. Hier entwickeln sich dank des Internet völlig neue Produktions- und Handelsformen. Die sich doch ein wenig von den in China zusammengeklebten Schuhen unterscheiden. Und auch etwas mehr kosten, als die zwei Euro, die ein chinesischer Schuh im Durchschnitt in der Herstellung kostet. There is nothing in the world that some man cannot make a little worse and sell a little cheaper, and he who considers price only is that man's lawful prey hat John Ruskin gesagt. Dem viktorianischen Kunstkritiker, der die traditionelle Handwerkskunst im Industriezeitalter retten wollte, würde das Konzept von Cliff Roberts gefallen haben.

Es gibt im festgeschrieben englischen Codex Schuhe für jede Gelegenheit und jede Tageszeit. No brown after six bedeutet nicht, dass man nach 18 Uhr von der Modepolizei arretiert wird, wenn man braune Schuhe trägt. Es bedeutet nur, dass man für Abendeinladungen einen schwarzen Schuh tragen soll. Vor Jahren haben die Etikettewächter der englischen Königin beklagt, dass neuerdings alle Welt zu Einladungen der Königin auf dem Land schwarze Schuhe trügen. Sie können ruhig braune Schuhe tragen, die Königin trägt sie auch, hieß die Botschaft an die geschmacklich verunsicherten Untertanen. Man braucht auch keine neuen Schuhe zu tragen. Kein Gentleman, knurrte ein Adliger über ein neues Mitglied seines Klubs. Als er gefragt wird, wie er zu dieser Ansicht komme, ist die Antwort: zu neue Schuhe.

Das schönste Beispiel für Schuhetikette findet sich bei dem unübertroffenen Meister des englischen Humors ➱P.G. Wodehouse. In der Kurzgeschichte The story of Cedric trifft der eleganteste Mann Londons (sprich: der Welt) eines Morgens im Hyde Park die junge Lady Chloe und seinen Freund Claude. Der ist auf dem Weg zu einer Hochzeit, elegant gekleidet im Morning Coat. Allerdings die Schuhe! Lady Chloe bekommt beinahe einen Herzinfarkt. Gelbe Schuhe. The foot-joy! The banana specials! The yellow perils! Der junge Claude sagt naiv: Don't you like them? I thought they were rather natty. Just what the rig-out needed , in my opinion, a touch of colour. It seemed to me to help the composition. Mit einem Augenaufschlag, dem kein Mann widerstehen kann (ich weiß nicht, wo Frauen das lernen, aber es funktioniert ja immer) bittet Lady Chloe Cedric, mit seinem jungen Freund die Schuhe zu tauschen. Als die beiden fort sind, merkt der eleganteste Mann Londons, dass er jetzt ein kleines Problem hat. Er steht in einem eleganten ➱Morning Coat mit gelben Schuhen (!) im Hyde Park. Über den weiteren Gang der Geschichte sei hier nichts verraten, man kann es in der Sammlung Mr Mulliner Speaking aus dem Jahre 1929 nachlesen. Die Heiligen Crispin und Crispinian mögen verhüten, dass wir je in eine solche Lage kommen.

Nicht nur bei P.G. Wodehouse oder bei den jungen Frauen im Märchen, die sich die Zehen abhacken, um in die Schuhe zupassen, finden wir Schuhe in der Literatur. Der Dichter Hans Sachs war ein Schuhmacher. Aber das schönste Stück Literatur über Schuhmacher ist schon 400 Jahre alt. Es ist Thomas Dekkers The Shoemaker's Holiday aus dem Jahre 1599, eine der witzigsten Komödien der Shakespearezeit. Hier geht es, wie so häufig in der englischen Literatur um class. Aber auch um Liebe. Ein junger Lebemann nimmt hier die Rolle eines Schuhmachers an, um eine geliebte Frau zu gewinnen. Und damals kann man noch Frauen damit beeindrucken, wenn man ihre genaue Schuhgrösse bestimmen kann. Das Aschenbrödel Motiv kommt schon hier in einer Nebenhandlung vor. Dekkers Komödie basiert ein wenig auf Thomas Deloneys The Gentle Craft, einer Verherrlichung von Londoner Schuhmachern seiner Zeit. Es enthält unter anderem die Geschichte von Simon Eyre, dem Schuhmacherlehrling der Lord Mayor von London wird. Den schreibt Dekker dann in seine Komödie hinein. Dort ist sich Simon Eyre seiner Stellung bewusst: Peace, am I not Simon Eyre? Are not these brave men, brave shoemakers, all gentlemen of the Gentle Craft? Prince am I none, yet Am I nobly born, as being the sole son of a shoemaker. Dekker macht damit den Schuhmacher literarisch unsterblich. Über die ausgebeuteten Arbeiter in China, die unter schlechteren Bedingungen als zur Zeit Shakespeares Schuhe herstellen, nur damit wir Billigschuhe kaufen können, wird niemand so bezaubernde Komödien schreiben.

Dies war einer meiner ersten Posts zum Thema Schuhe. Er begeisterte viele Leser, so beschloß ich, noch mehr von diesen kleinen Vignetten zu schreiben. Inzwischen reicht reicht es schon für ein kleines Buch: ➱Cliff Roberts, Artisan, ➱Wiener Leisten, ➱Englische Herrenschuhe (Trickers), ➱Englische Herrenschuhe (London) ➱Englische Herrenschuhe (Alfred Sargent), ➱Schuhe aus Portugal, ➱Italienische Herrenschuhe, ➱Französische Herrenschuhe ➱Dinkelacker, ➱Kuckelkorn, ➱Kiton/Chiton, ➱wayward cows, ➱Lord Byrons Schuhe, ➱Militärisches Schuhwerk, ➱Wildlederschuhe, ➱Chelsea Boots, ➱Wirkungen, ➱Zeit der Unschuld, ➱Gamaschen, ➱Christian Rohlfs, ➱Laurence Harvey, ➱Blazer, ➱Morning Coat, ➱Fernandel, ➱Léo Malet, ➱Schuhcreme, ➱Schuhhandwerk

Donnerstag, 14. Januar 2010

Ärmelknöpfe


Aus unerfindlichen Gründen haben die Ärmel von Jacketts Knöpfe. Manchmal kann man sie aufknöpfen, Charlton Heston macht das in einem wunderbaren Schwarzweißfilm (Touch of Evil. Marlene Dietrich und Orson Welles spielen da auch mit). Ganz langsam, Knopf für Knopf, um sich dann die Hände zu waschen. Ist furchtbar unpraktisch, das Jackett auszuziehen ginge schneller. Charlton Heston spielt in dem Film einen mexikanischen Polizeioffizier. Den Schneideranzug mit den knöpfbaren Knöpfen braucht er, um in der Welt der Gringos zu zeigen, dass auch ein Mexikaner ein Mann von Welt sein kann. Und er hat als weitere Trophäe mit Janet Leigh eine blonde Amerikanerin als frischangetraute Ehefrau. Nicht mehr die Janet Leigh von Lassies Heimat (1948), aber auch noch nicht die, die in der Dusche ermordet wird.

Knöpfbare Knöpfe an den Ärmel (im amerikanischen Englisch heißen sie surgeon's cuff) sind ein Statussymbol, Italiener lassen deshalb häufig ein oder zwei Knöpfe offen, um zu zeigen: Seht her, ich kann mir ein Jackett mit richtigen Knopflöchern leisten. Diese Demonstration wäre für den englischen Gentleman die höchste Schande. Es gibt eine hübsche kleine Anekdote aus dem 19. Jahrhundert, wonach ein russischer Großfürst zu Besuch in England einen englischen Lord fragt, was denn einen Gentleman ausmache. Und der Adlige antwortet (und schaut dabei aus dem Fenster des Clubs auf die regennasse Pall Mall): Alle Männer haben Knöpfe am Ärmel, bei einem Gentleman sind sie wirklich zum Knöpfen. Aber ein Gentleman würde NIEMALS auf diesen Umstand hinweisen. Jetzt wissen wir es, nur die Italiener nicht. Viele Geschichtswerke der Herrenmode erzählen uns (und da schreibt wohl ein Autor von dem anderen ab), dass die Knöpfe zuerst an die Uniformärmel gekommen sind. Womit man verhindern wollte, dass sich der gemeine Soldat mit dem Rock seiner Majestät die Ärmel schneuzte. Es ist völliger Unsinn, probieren Sie es aus. Man kann sich mit der Innenseite des Ärmels die Nase schneuzen, nicht mit der Aussenseite.

Richtige Knopflöcher am Ärmel sind teuer, es ist eine Heidenarbeit. Das macht auch in London nicht mehr der Schneider, dafür haben die Firmen Poole, Huntsman und wie sie alle heißen, im Hinterzimmer kleine Pakistanerinnen, die zu Dumpinglöhnen Knopflöcher nähen. Maschinen können viel schönere Knopflöcher nähen, als Schneider das können. Und es gibt diese Maschinen seit mehr als einen Jahrhundert. Aber dennoch wollen Herren in der ganzen Welt ein handgenähtes Knopfloch, vor allem die Italiener. Von der Vorderseite her sehen Maschinen- und Handknopfloch gleich aus. Erst auf der Rückseite erkennt man das handgenähte Knopfloch, alles ist grauenhaft gestichelt, nix von der Akkuratesse der Seidenraupe der Vorderseite. Die Maschine kriegt das auf beiden Seiten sauber hin. Aber auch bei den Schneidern der Savile Row sind nicht alle Knopflöcher funktional. Bei vielen sind nur zwei von vier Knöpfen knöpfbar. Manche Firmen weigern sich schlichtweg, diesen Unsinn mitzumachen. Manche Firmen überlassen es dem Kunden, ob er sich die angedeuteten Knopflöcher aufschneiden lässt. Die meisten Londoner Firmen verwenden Knöpfe mit vier Löchern, bei Huntsman und Poole haben die Knöpfe nur zwei Löcher (bei der deutschen Firma Regent drei), das mit den zwei Knopflöchern sieht irgendwie billig aus. Aber bei Huntsman und Poole möchte man eben anders sein als die anderen. Englische Knopflöcher werden in der Savile Row tiefer unten am Ärmel angesetzt als bei deutschen Konfektionsanzügen, damit will man betonen, dass der Anzug für diesen einen Träger gemacht wurde und dass man die Länge des Ärmels nicht mehr zu ändern braucht. Kleine Raffinessen. Petitessen? Alle Stilratgeber (eine florierende Gattung) füllen Seiten mit der Behandlung dieser Frage. Ganz zu schweigen von der Unzahl von Internetforen, in denen so etwas diskutiert wird. Offensichtlich haben die etwas bescheuerten Gentlemen vom Typ Bertie Wooster viele Nachfolger. Und da sagt man immer, nur Frauen hätten nur Klamotten im Kopf.

Ich persönlich finde das Ganze ja albern. Ich habe das zwar an einigen Anzügen, aber ich folge dem Rat des englischen Adligen und zeige es nie. Es gibt auch wichtigere Fragen auf der Welt. Ein Engländer (und diese Anekdote ist hundert Jahre jünger als die mit dem russischen Großfürsten) nimmt einen europäischen Gast mit in seinen Klub. Er weist auf eine Gruppe von jüngeren Männern hin, die alle nagelneue Anzüge aus der Savile Row und nagelneue John Lobb Schuhe tragen. Das sind alles Banker und Broker, sagt er. Dahinten in der Ecke sitzen die Herzöge. Die Herzöge tragen zwar auch Anzüge aus der Savile Row, aber die sind schon dreißig Jahre alt (und inzwischen abbezahlt), und ihre Schuhe stammen auch aus einem anderen Jahrzehnt. Das ist der wahre Stil. Wie das Touristenehepaar, das dem älteren Herrn in abgeschabten Klamotten, der im Vorgarten des Schlosses herumwerkelt, aus Mitleid sein mitgebrachtes Sandwich gibt, um dann bei der Schlossführung festzustellen, dass es sich bei dem Tramp um Lord Emsworth handelt. Ich borge mir mal diesen stilvollen Lord bei P.G. Wodehouse aus. In Wirklichkeit wird die Episode dem 15. Duke of Norfolk zugeschrieben. Der ja alte Kleidung tragen darf, weil er als Earl of Arundel den ältesten englischen Adelstitel besitzt. Und wenn die Angehörigen des Herzogs ihm sagen, dass er nicht in den schrecklichen alten Anzügen herumlaufen könne, entgegnete der nur: Warum nicht? In London kennt mich keiner. Und hier kennt mich jeder - was spielt es dann für eine Rolle? Henry David Thoreau hatte schon Recht als er sagte Beware of all enterprises that require new clothes.

Mittwoch, 13. Januar 2010

Loomings


Mit der ganzen Welt ist man plötzlich verbunden, wenn man ein(en) Blog hat. Das Wort vom global village, das Marshall McLuhan geprägt hat, ist wahr geworden. Diejenigen, die ihn damals als originellsten Denker außerhalb eines Irrenhauses bezeichnet haben, sind ganz kleinlaut geworden. Man braucht als Blogger für seine kleine Welt einen Namen, und da habe ich Loomings gewählt. Ich wußte damals nicht, dass Looming die älteste Literaturzeitschrift Estlands ist und dass es Schöpfung bedeutet. Ich habe das Wort einfach bei Melville geklaut, das erste Kapitel von Moby-Dick heißt so. Aber auch dieses englische Wort, das Melville so selbstverständlich (und beinahe als ein Programm des Romans) verwendete, scheint zu verschwinden. Mein im Computer eingebautes Lexikon kennt es nicht mehr, das Internetwörterbuch von Klett kennt es auch nicht und bietet mir stattdessen gloominess, blooming und incomings an. Nun mag meine Kolumne blooming sein, gloomy ist sie auf keinen Fall.

Und incomings wirft sie auch nicht ab. Es sei denn, ich pflastere die Seite mit Werbung voll. Pons, wie die Wörterbuchreihen von Klett schon lange heißen, ist lateinisch und bedeutet Brücke, aber diese Brücke führt ins Nichts. Oder in die Hoffnungslosigkeit. Man ist bei älteren Wörtern immer gut beraten, wenn man zu alten Wörterbüchern greift. Arno Schmidt hat das immer wieder propagiert. Also Wörterbüchern, die in der großen Zeit des Wörterbuchs im 19. Jahrhundert entstanden sind, als der Positivismus noch die Wissenschaft bestimmte, und über die wir schöne Bücher haben. Wie Jonathon Greens Chasing the Sun, Simon Winchesters The Surgeon of Crowthorne oder The Meaning of Everything. Als die Wörterbücher noch nicht vom Computer gemacht wurden. Jane Roberts, eine der Herausgeberinnen des Historical Thesaurus of the Oxford English Dictionary hat in einem Interview die erstaunliche Tatsache preisgegeben, dass man dieses größte Werk der englischen Sprache nicht mit dem Computer gemacht hat. Sondern mit kleinen Zetteln, wie damals bei James Murray und dem New English Dictionary. Ich finde das sehr beruhigend. Und der gute alte Muret-Sanders aus dem 19. Jahrhundert lässt uns auch nicht im Stich. Ein hübscher kleiner Anker vor dem Wort sagt uns, dass es aus dem nautischen Bereich kommt und Kimmung heißt. Soweit man sehen kann, der Horizont, da wo Wasser und Himmel ineinander übergehen. Nichts anderes hatte Herman Melville damit im Sinn. Dahin will Ishmael, heraus aus dem New York des 19. Jahrhunderts, weg von dem damp, drizzly November in my soul. Das haben die stage managers des Schicksals ihm bestimmt, wenn sie ihm auch die Illusion geben that it was a choice resulting from my own unbiased freewill and discriminating judgment. Mit dieser Illusion leben wir ja alle.

Dienstag, 12. Januar 2010

Ma Nuit Chez Maud


Wenn wir mit Jean-Louis Trintignant in einem aufgemotzten Ford Mustang in Regen und Schnee fahren und die Scheibenwischer zur Filmmusik von Francis Lai tanzen, dann sind wir in einem Film von Claude Lelouch. Der Film heißt Un homme et une femme, und wir wissen, alles wird gut. Wenn wir ohne Trintignant in einem Film von Lelouch in einem Auto sitzen und morgens um halb sechs durch Paris brettern und keine rote Ampel beachten, dann gibt es auch keine plüschige Filmmusik von Francis Lai. Dann gibt es als Soundtrack entweder einen Ferrarimotor oder Snow Patrols Open your eyes. Und Lelouch hat danach keinen Führerschein mehr. Wenn wir aber mit Trintignant in einem völlig unspektakulären Renault R16 im Schnee durch die Auvergne fahren (da wo Hölderlin im Winter 1802 zu Fuß gewandert war), und wenn wir uns auch nicht mehr an die Filmmusik erinnern können, dann sind wir in der Welt von Eric Rohmer.

Ma nuit chez Maud war 1969 bei Kritik und Publikum ein großer Erfolg. Das ist einigermaßen erstaunlich, denn es gibt wenige Filme, die so wenig Handlung haben und in denen so viel über Pascal diskutiert wird. Trintignant erhält in Cannes einen Preis, aber nicht für seine Rolle in dem Rohmer Film, sondern für seine Rolle in Costa-Gavras' Film Z. Der autoverrückte Trintignant, der am liebsten seinem Onkel Maurice als Rennfahrer nachgefolgt wäre, spielt hier einen Ingenieur, der für die Firma Michelin in Clermont-Ferrand arbeitet. Er ist erst seit wenigen Monaten in Frankreich, vorher war er lange in Kanada und Südamerika, er kennt kaum jemanden in Clermont-Ferrand. Er trifft Weihnachten seinen alten Freund Vidal, einen überzeugten Marxisten, der jetzt Philosophieprofessor ist.

Und er sieht in der Christmette, wohin es ihn als überzeugten Katholiken zieht, die schöne blonde Françoise, gespielt von Marie-Christine Barrault. Vidal nimmt ihn zu einer alten Freundin namens Maud, gespielt von Françoise Fabian, mit. Dort verbringt unser schüchterner Junggeselle die Nacht, der R16 ist eingeschneit. Es gibt keinen Sex, man redet die ganze Nacht. Das wäre bei Lelouch definitiv anders gewesen. Am nächsten Morgen versucht sich Trintignant Françoise Fabian zu nähern, wenn sie aus der Dusche kommt, aber sie weist ihn ab: J'aime bien les gens qui savent ce qu'ils veulent. Trintignant begehrt sie, und wer hätte das im Publikum damals nicht getan? Aber er wird die Blondine heiraten. Am Ende des Filmes treffen sich alle zufällig fünf Jahre später einmal kurz am Strand eines Seebades. Das ist Deine Frau, ich hätte es wissen sollen, sagt sie. Ich habe nie über sie geredet, sagt Trintignant: Mais je ne vous ai jamais parlé d'elle. Und sie entgegnet Et comment! De votre fiancée blonde, catholique. J'ai bonne mémoire, vous savez. Frauen haben in solchen Fragen nicht nur ein gutes Gedächtnis, Frauen können auch jeden Subtext lesen, wenn eine Nacht im Schnee nur über Pascal und Moral geredet wird. Françoise Fabian spielt eine emanzipierte Frau, Trintignant ist letztlich ein nerd (auch wenn er einen wahnsinnig eleganten Flanellzweireiher mit engen Hosen anhat).

Der Film öffnet die Türen für noch längere filmische Diskussionen, wie in My dinner with Andre. Ein begehrenswerte dunkelhaarige Frau, eine kleine Blonde, bei der sich Trintignant sicher fühlt: Avec vous, je me sens très bien. Das ist die Kombination für Kolportageromane, Leslie A. Fiedler hatte wenig zuvor sein epochales Werk Love and Death in the American Novel geschrieben, in dem dieser Gegensatz immer wieder vorkommt. Aber Rohmer entgeht solchen trivialen Fallen, dieser Film ist eine seiner Moralischen Geschichten. Obgleich man keine Moral mitnehmen kann, wenn das Licht im Kino wieder angeht. Die Kritiker in Cannes fühlten sich an Jean Renoirs La Règle du Jeu erinnert, sahen hier das Gegenteil zu den Filmen von Bresson oder verglichen Rohmer gar mit Flaubert

Alle lobten die Schauspielkunst von Trintignant und Fabian. Und alle mussten expressis verbis oder knurrend zwischen den Zeilen zugeben, dass hier ein Regisseur herangereift war, der ein ganz anderes Kino machte. Eigensinnig, immer seinen eigenen Weg gegangen ist. Den Flanellanzug von Trintignant fand ich damals toll. Françoise Fabian auch. Vom Film habe ich wenig verstanden. Bis mir mein Freund Peter das Drehbuch (L'Avant-Scène n°. 98) geschenkt hat, das habe ich gelesen und wieder gelesen. Dann habe ich Pascal gelesen. Ich weiß immer noch nicht, ob ich den Film verstehe. Ich habe viele Filme von Rohmer gesehen, und wenn ich auch vieles nicht verstehe und mich vieles auch nervt, dann muss man natürlich auch sagen, dass ein Rohmer Film meistens schon wegen der schönen Frauen lohnt. Denn das ist die Kunst des Kinos, hat sein Kollege Truffaut gesagt, Filme zu drehen, in denen schöne Frauen schöne Dinge tun.

Eric Rohmer ist gestern beinahe neunzigjährig in Paris gestorben. Wenn das öffentlich-rechtliche Fernsehen Stil hätte, würden sie jetzt alle seine Filme zeigen.

Lesen Sie auch: Jean-Louis Trintignant