Mittwoch, 30. November 2011

Jonathan Swift


Der große Spötter und Satiriker Jonathan Swift hat heute Geburtstag. Vieles von dem, was er schrieb, hat immer noch seine Bedeutung. Bei A Modest Proposal for Preventing the Children of Poor People in Ireland From Being a Burden on Their Parents or Country, and for Making Them Beneficial to the Publick müsste man nur Irland aus dem Titel streichen, es würden sich Länder finden lassen, in denen heute die Verhältnisse nicht viel anders sind. Gulliver's Travels lebt heute noch als Kinderbuch. Was es nie gewesen ist. Libertatis Vindicatorem hat er als Zeile für sein Epitaph geschrieben, He served human liberty hat Yeats es übersetzt. Zur Feier seines Geburtstags gibt es hier heute ein kleines Gedicht, das immer noch aktuell ist:

Advice to the Grub Street Verse-writers

Ye poets ragged and forlorn,
Down from your garrets haste;
Ye rhymers, dead as soon as born,
Not yet consign'd to paste;
I know a trick to make you thrive;
O, 'tis a quaint device:
Your still-born poems shall revive,
And scorn to wrap up spice.
Get all your verses printed fair,
Then let them well be dried;
And Curll must have a special care
To leave the margin wide.

Lend these to paper-sparing Pope;
And when he sets to write,
No letter with an envelope
Could give him more delight.

When Pope has fill'd the margins round,
Why then recall your loan;
Sell them to Curll for fifty pound,
And swear they are your own.

Nach fünfzig Jahren brauchen literarische Texte Fußnoten zum besseren Verständnis, hat Dr Johnson gesagt. Wie recht er doch hat. Manche Texte brauchen schon bei ihrem Erscheinen Fußnoten. Die Grub Street ist nach der Definition von Samuel Johnsons Dictionary: originally the name of a street... much inhabited by writers of small histories, dictionaries, and temporary poems, whence any mean production is called grubstreet. Oder, um es mit den Versen eines Anonymus im Grub Street Journal zu sagen:

Court fools and poets once illustrious lived:
With different titles graced distinct they shone:
But both are now so scarce; ‘tis well contrived
To join a poet and a fool in one.


Am Anfang seiner Karriere hat auch Dr Johnson in der Grub Street gewohnt. Der im Text erwähnte Pope ist natürlich der berühmte Alexander Pope, der den Homer ins Englische übersetzt hat (und Shakespeare verschlimmbessert hat). Curll bezieht sich auf Edmund  Curll (es lohnt sich, den Wikipedia Artikel zu lesen), den Verleger mit dem schlechtesten Ruf in der Geschichte englischer Verlage. Swift und Pope, deren Werke er unautorisiert nachdruckt, hatten ihre Privatfehden mit ihm. Swift schreibt einmal an Pope, dass man einen Hohlkopf (dunce) wie Curll aber vorzüglich für satirische Zwecke gebrauchen könne. Das tut Pope auch, er schreibt ihn in die Dunciad (in der auch die Grub Street eine Hauptrolle spielt). Edmund Key brachte sofort A Compleat Key to the Dunciad heraus, natürlich unautorisiert. Für Gulliver's Travels hatte er auch sofort so etwas parat: A Key, Being Observations and Explanatory Notes, upon the Travels of Lemuel Gulliver. By Signor Corolini, a noble Venetian now residing in London. In a letter to Dean Swift. Translated from the Italian Original. London: 1726. Das sind so die juristischen Tricks, die man jetzt erfindet, ein angeblicher Venetianer in London.

Alexander Pope hat seine Dunciad übrigens Jonathan Swift gewidmet hat, der auch gleich am Anfang vorkommt:

O thou! whatever title please thine ear,
Dean, Drapier, Bickerstaff, or Gulliver!
Whether thou choose Cervantes’ serious air,
Or laugh and shake in Rabelais’ easy chair,
Or praise the Court, or magnify Mankind,
Or thy griev’d country’s copper chains unbind;


Das Gedicht von Swift Advice to the Grub Street Verse-writers ist eine satirische Anleitung zum geistigen Diebstahl. Warum bin ich an dieser Stelle nur wieder versucht, den Namen von dem Baron Guttenberg-Münchhausen wieder zu erwähnen? Der hat natürlich niemals geklaut und betrogen, ih bewahre! Da ist ihm nur die Kontrolle über die achtzig Datenträger entglitten. Das ist jetzt eine schöne Kreativität beim Lügen. Es erinnert mich etwas an den Witz mit dem amerikanischen Studenten, der im Studienbuch in jedem Fach ein NG (für No Grade) stehen hat und seinen Eltern auf deren Frage sagt, dass die Abkürzung NG natural genius bedeutet.

Denn wer sind die denn, die da über den armen verwirrten Baron mit seinen achtzig Datenträgern und vier Computern rechten wollen? Ich bin nicht bereit, mir von einer Kommission, die noch nicht einmal mehrheitlich mit Juristen besetzt gewesen ist, eine rechtlich relevante vorsätzliche Täuschung vorwerfen zu lassen. Und es hätte rechtlich gar nicht zu einer solchen Überprüfung kommen dürfen. Denn bei dieser unrechtmäßigen Überprüfung seines großartigen Werkes ging es […] um den drohenden Verlust von Forschungsgeldern, was das Vorgehen rechtfertigen sollte. Denn schliesslich sei es ja so: Wenn ich die Absicht gehabt hätte, zu täuschen, dann hätte ich mich niemals so plump und dumm angestellt, wie es an einigen Stellen dieser Arbeit der Fall ist. Das musste an dieser Stelle ja mal gesagt werden. Aber wenn jemand so ehrlich ist, dann wird er nicht verstanden. Ein Professor in Bayreuth spricht von Realitätsverlust und der Stern titelt diese Woche mit Der Sound des Größenwahns.

Der Verleger Edward Curll, der mit Lug und Betrug reich geworden ist, hat auch immer die seltsamsten Ausreden für seine Machenschaften gefunden. Lügner und Betrüger haben immer Ausreden. Vous appellés cela betrügen? Corriger la fortune, l'enchainer sous ses doits, etre sûr de son fait, das nenn die Deutsch betrügen? betrügen! O, was ist die deutsch Sprak für ein arm Sprak! für ein plump Sprak!

Ich möchte zum Schluss dieser unerfreulichen Gedanken ein Zitat von dem berühmten Clifford Geertz bringen, der in Bezug auf die Definition der Kultur gesagt hat: Cultural systems must have a minimal degree of coherence, else we would not call them systems; and, by observation, they normally have a great deal more. Und dann hinzufügte: But there is nothing so coherent as a paranoid’s delusion or a swindler’s story. Der letzte Satz gefällt mir ganz besonders.

A lie does not consist in the indirect position of words, but in the desire and intention, by false speaking, to deceive and injure your neighbour. (Jonathan Swift)

Dienstag, 29. November 2011

Natalie Wood


Sie ist heute vor dreißig Jahren gestorben, über Bord gefallen, ertrunken. Unfall, Selbstmord, Mord? Die Fragen bleiben. Zumal der Kapitän der Yacht gerade gesagt hat, er habe die Polizei damals belogen. Die Ermittlungen sind letzte Woche wieder aufgenommen worden. Die Klatschpresse ist glücklich. Die Klatschpresse ist immer glücklich, wenn Hollywood Stars etwas zustößt. Was konnte man nicht alles über die arme Frances Farmer schreiben. Verkehrsunfälle lassen sich auch immer ausbeuten (Jayne Mansfield, Grace Kelly), der Tod durch Medikamente wie bei Pier Angeli natürlich auch.

Natalie Wood, die eigentlich Natalia Nikolaevna Zacharenko hieß, war ihr Leben lang im Film, wahrscheinlich fehlt einem dann etwas im Leben. Though I haven't ever been on the screen I was brought up in pictures. Rudolph Valentino came to my fifth birthday party - or so I as was told. I put this down only to indicate that even before the age of reason I was in a position to watch the wheels go round, so beginnt Fitzgeralds Hollywood Roman The Last Tycoon. Zur Geburtstagsparty der fünfjährigen Natasha kam zwar kein Hollywoodstar, mit fünf Jahren spielte sie schon in einer Hollywood Produktion. Mit sieben war sie schon ein Kinderstar, mit acht war sie die Most Talented Young Actress of 1946. Später war sie ein Teenie-Star (Oscar Nominierung 1955, Star of Tomorrow 1956, Star of the Year 1957), dann kam der Erfolg der West Side Story. Danach kam nicht mehr so viel. Vielleicht hätte sie Robert Wagner nicht heiraten sollen (und das gleich zweimal), der sie vielleicht umgebracht hat, man weiß es nicht.

Zwei ihrer Filme haben Filmgeschichte gemacht, da war sie noch ein Teenager. Der eine war Rebel Without a Cause (bei dem die Siebzehnjährige auch eine Affäre mit dem Regisseur Nicholas Ray hatte), der andere war The Searchers. Da spielte sie Debbie, die von den Indianern entführt wird. Und die Ethan Edwards jahrelang sucht. Jean-Luc Godard der John Wayne, eigentlich nicht ausstehen konnte, bekannte, dass er bei dieser Szene immer Tränen in die Augen kriegte, wenn John Wayne Let's go home, Debbie sagt. John Ford rahmt den ersten Teil des Shots durch die dunklen Felsen einer Höhle, durch die die Kamera per aspera ad astra immer mehr ins Licht kommt. John Ford liebt solche Shots. Der Western verblüffte damals die Filmkritiker, es ist vielleicht der Abgesang des klassischen Western. Die Zukunft sollte dem Spätwestern gehören

Er beginnt den Film mit einem Bildrahmen. Wir lassen mal die Sache weg, dass wir da groß TEXAS 1868 stehen haben und dann ist die nächste Landschaft, die wir sehen Monument Valley, das ist definitiv nicht in Texas. Für viele Western gilt Coleridges Satz von the willing suspension of disbelief, für John Ford Western beinahe immer. John Ford liebt das Monument Valley. Sieben Western hat er hier gedreht: Stagecoach (1939), My Darling Clementine (1946), Fort Apache (1948), She Wore a Yellow Ribbon (1949), The Searchers (1956), Sergeant Rutledge (1960) und Cheyenne Autumn (1964). Mit Ausnahme von Cheyenne Autumn sind das seine besten Western gewesen. Natalie Woods Name ist der letzte in der Liste der Stars, der in großen Buchstaben erscheint. Hank Worden, bekommt nur kleine Buchstaben, er kriegt auch nur fünfhundert Dollar in der Woche beim Dreh des Films. Eigentlich hätte er für seine Leistung als Old Mose Harper, der nur davon träumt a roof over his head and a rocking chair by the fire zu haben, einen Oscar verdient gehabt. Die deutsche Zeitschrift Filmkritik hat in einer Doppelnummer (249/250) im Jahre 1977 wenigstens seine Leistung gewürdigt.

Am Anfang des Films wird eine Tür geöffnet, die Dunkelheit des Rahmens weicht der Helligkeit. Eine Pioniersfrau blickt in die Landschaft, aus deren Mittelgrund ein Reiter auf das Haus zu reitet. Drei Jahre nach Ende des Bürgerkriegs kommt Ethan Edwards (in der Uniform eines Kavalleristen der Südstaaten) zum Haus seines Bruders zurück. Seinen Säbel hat er immer noch, Symbol dafür, dass er sich nie ergeben hat. Drei Jahre hat er sich herumgetrieben, wahrscheinlich war er auf der Seite Maximilians in Mexiko (so wie Gary Cooper in Vera Cruz). Jetzt ist er wieder zuhause, aber es ist nicht sein Zuhause: he was just a plain loner - could never really be a part of the family hat John Ford über die Rolle von Ethan Edwards gesagt. Zwischen dem Anfang des Films und dem Ende liegen viele Jahre einer geradezu epischen Suche nach der Nichte Debbie (die kleine Debbie am Anfang des Films wird von Natalie Woods kleiner Schwester Lana gespielt).

Ethan Edwards Schwägerin liebt ihn, wir sehen das in einer rührenden Szene, wenn sie zärtlich über seinen angelegten Mantel streicht. Wieder ist das als Bild im Bild gerahmt, im Hintergrund, beinahe wie ein Vermeer Bild. Es sind keine zehn Sekunden, aber wir haben es alle verstanden. Und zur Verdeutlichung erklingt die gleiche Musik wie am Anfang des Films: Lorena, das beliebteste Lied des amerikanischen Bürgerkriegs. Als Peter Bogdanovich John Ford in seinem Interview die etwas überflüssige Frage stellte, ob diese Szene bedeutete, dass Martha Edwards in ihren Schwager verliebt sei, bekam er die patzige Antwort: Well, I thought it was pretty obvious – that his brother’s wife was in love with Wayne; you couldn’t hit it on the nose, but I think it’s very plain to anyone with intelligence. Manches bleibt eben besser ungesagt. Wie diese scheue Liebe.

Am Ende des Films haben wir wieder den Rahmen der Tür. Einsam bleibt John Wayne in diesem Rahmen stehen und entfernt sich dann immer weiter vom Haus. Ein einsamer alter Mann, der seinen Hass auf die Rothäute überwunden hat, der seine Nichte Debbie nicht getötet hat. Und dann erklingt die Titelmelodie von The SearchersA man will search his heart and soul go searching way out there. His peace of mind he knows he'll find. But where, o Lord, Lord, where. Ride away. Ride away. Ride Way. Und dann ist der Film zu Ende. Als Peter Bogdanovich John Ford die Frage stellte: What was the meaning of the door opening on him at the start and closing at the end? hat Ford geantwortet: Mmhmm. Das war wahrscheinlich das bedeutungsvollste Mmhmm der Filmgeschichte.

Als Natalie Wood starb, war sie dreiundvierzig Jahre alt. Hollywood wollte sie längst nicht mehr haben, im Fernsehen fand sie noch Rollen. Was hätte aus ihr werden können? Dass Schönheit vergänglich ist, haben die Dichter des Barock immer wieder in Verse gefasst. Es genügt nicht, so auszusehen wie die jüngere hübschere Schwester von Liz Taylor. Dann erinnert man sich eines Tages nur noch an einen B-Picture Star. Vielleicht hätte sie mit besseren Regisseuren und besseren Drehbüchern bessere Filme gedreht, Splendor in the Grass gab dazu ja Hoffnung. Sie hat Vivien Leigh bewundert, die sie in A Streetcar Named Desire gesehen hatte. Sie wäre gut in Tennessee Williams Stücken gewesen. Wenn man in dieser TV-➱Inszenierung von Cat on a Hot Tin Roof einen besseren Regisseur gehabt hätte und darauf verzichtet hätte, die Rolle von Brick mit Robert Wagner zu besetzen, dann hätte das was werden können.

Ihre Mutter hat sie darauf abgerichtet - wie man einen Hund abrichtet - zu lächeln, wenn sie eine Kamera sah. Wenn sie eine Kamera sieht, lächelt sie und spielt das kleine hübsche Mädchen. Ihre Mutter hätte ihr auch gleich den Vornamen eager to please geben können: My mother used to tell me, No matter what they ask you, always say yes. You can learn later. Kinderstar, Teenie-Star, Sexsymbol. Wenn man sich hunderte von Photos anschaut, wird man kaum eins finden, das den wirklichen Menschen hinter der Maske zeigt. Wenn Sie in Splendor in the Grass von der Lehrerin gezwungen wird, Wordsworth zu interpretieren, sagt sie eigentlich das Richtige zu diesem Text:

What though the radiance which was once so bright
Be now for ever taken from my sight,
Though nothing can bring back the hour
Of splendour in the grass, of glory in the flower;
We will grieve not, rather find
Strength in what remains behind...

Sie ist dreiundzwanzig, eine erwachsene Frau (in dem Alter spielte Greta Garbo schon Anna Karenina), sie muss in dieser Szene wieder einen Teenie spielen wie in Rebel Without a Cause. Weil sie in solchen Rollen so gut beim Publikum ankommt. Erst ist sie das dressierte Püppchen ihrer Mutter, jetzt ist sie das dressierte Püppchen des Studios.

Als sie sechs war, ist sie bei einem Unfall bei den Dreharbeiten von The Green Promise beinahe ertrunken. Der Unglücksfall hat ihr eine pathologische Angst vor dem Wasser beschert, die sie ihre Leben lang nicht losgeworden ist. Obgleich sie vor ihrem Tod in Interviews darüber scherzte: I've been terrified of the water, and yet it seems I'm forced to go into in on every movie that I make. Sie hätte auf ihre Ängste hören und nicht an Bord der Yacht gehen sollen. Und Robert Wagner nicht heiraten sollen.

Und all das, was an Fragen offen bleibt, finden Sie auf dieser Seite. Das ist schon beinahe ein Liebesgedicht in der Form von Fragesätzen.

Montag, 28. November 2011

Tyger, Tyger











Im Band VIII der Wilhelm Lehmann Gesamtausgabe (Autobiographische und Vermischte Schriften) des Klett-Cotta Verlags fand ich, in einem Aufsatz von Lehman zitiert, die erste Strophe von William Blakes Tyger, Tyger, Burning Bright in einer schönen deutschen Übersetzung:

Tiger, Tiger, Flammenpracht
In den Wäldern düstrer Nacht!
Sag, welch Gottes Aug' und Hand
Dich so furchtbar schön erfand?

Wilhelm Lehmann schreibt die Übersetzung dem Grafen Stolberg zu (In der vortrefflichen Übersetzung seines Zeitgenossen Stolberg...). Und da heute William Blakes Geburtstag ist, dachte ich mir, ich stelle hier Blakes Text und Stolbergs Übersetzung ein und fertig. Allein, ich konnte den Text nicht finden. Das einzige was ich fand, war diese Übersetzung (die sich in der ersten Strophe ein wenig von dem Text bei Lehmann unterscheidet):

'Tiger, Tiger, Flammenpracht
In den Wäldern düstrer Nacht!
Sprich, welch Gottes Aug' und Hand
Dich so furchtbar schön verband?

'Stammt vom Himmel, aus der Höll',
Dir der Augen Feuerquell'?
Welche Flügel trägst du kühn?
Wer wagt wohl, zu nah'n dem Glüh'n?

'Welche Stärke, welche Kunst,
Wob so sinnreich Herzensbrunst?
Als dein Herz den Puls empfand,
Welch ein Fuss und welche Hand?

'Was ist Hammer, Kettenklirr'n?
Welche Esse schmolz dein Hirn?
Was ist Amboss? Welcher Held
Muth in deinem Arm behält?

'Aus den Sternen flog der Speer,
Thränend ward der Himmel Meer:
Schaut' er lächelnd da auf dich?
Der das Lamm schuf, schuf er dich?

'Tiger, Tiger, Flammenpracht
In den Wäldern düstrer Nacht!
Sprich, wess Gottes Aug' und Hand
Dich so furchtbar schön verband?'

Allerdings war bei der Fundstelle die Rede von einem gewissen Dr. Julius als Übersetzer: Dr. Julius's German translation of 'The Tyger' from the Vaterländisches Museum, Bd. II, Heft i. (Hamburg, 1806) [diese Jahresangabe ist leider falsch, es muss das Jahr 1811 sein]. This spirited and admirably literal rendering appeared, it will be noticed, at a time when Blake's Songs were almost unknown to his own countrymen. Der Name Julius wird an einer anderen Stelle durch die Buchstaben W.H. ergänzt. Es blieb rätselhaft. W.H. Julius ist zwar falsch, führte mich aber auf Umwegen zu Henry Crabb Robinson, da begann ich mich auf festerem Boden zu bewegen.

Robinson, der bedeutendste Vermittler zwischen der deutschen und der englischen Romantik ist der Gegenstand von Eudo C. Masons Buch Deutsche und englische Romantik. Eine Gegenüberstellung, das ich einmal gelesen habe. Der Professor aus Edinburgh war einer der angesehensten Germanisten Großbritanniens, aber das weiß das Internet kaum noch. Ich wühlte mich durch Berge von Daten und Fakten - das ist ja die Lieblingsbeschäftigung von Philologen. Leider waren viele Fakten keine Fakten. Irrtümer und Fehler werden durch das Internet hundertfach vervielfacht. Aber ich kam in den den Wäldern düstrer Nacht doch zu Ergebnissen.

Der Engländer Henry Crabb Robinson hat für die Zeitschrift Vaterländisches Museum von F.C. Perthes im II. Band (1811) den Artikel William Blake, Künstler, Dichter und religiöser Schwärmer geschrieben. Der Beitrag erschien anonym. In dem Beitrag wurden vier Gedichte von Blake zitiert - zu denen auch The Tyger gehörte - die im Original und in einer deutschen Übersetzung wiedergegeben wurden. Im Artikel findet sich kein Hinweis auf den Übersetzer des Artikels oder den Übersetzer der Gedichte. Henry Crabb Robinson hat übrigens Blake trotz seines enthusiastischen Eintretens für seine Dichtung damals nicht persönlich gekannt. Er hat ihn erst 1826 im Londoner Haus des Kunstsammlers und Mäzens Carl (auch: Charles) Aders kennengelernt. Der immens reiche Aders, der im Katalog der Hamburger Blake Ausstellung (1975) fälschlicherweise als Hamburger bezeichnet wird, war ein Bruder des berühmten Jacob Aders aus Elberfeld (der Katalog William Blake aus der Ausstellungsreihe Kunst um 1800 ist trotz dieses kleinen Fehlers immer noch eine Kaufempfehlung). Blake fühlte sich im Haus von Aders immer sehr wohl, was vielleicht auch daran lag, dass Mrs Aders die Tochter des Malers John Raphael Smith war. In ihrem Salon hat er auch die berühmt gewordene Geschichte mit dem Lamm (das ja in den Gedichten das Gegenstück zu dem Tiger ist) erzählt:

At one of Mr. Aders' parties -- at which Flaxman, Lawrence, and other leading artists were present -- Blake was talking to a little group gathered round him, within hearing of a lady whose children had just come home from boarding school for the holidays. "The other evening," said Blake, in his usual quiet way, "taking a walk, I came to a meadow, and at the farthest corner of it I saw a fold of lambs. Coming nearer, the ground blushed with flowers; and the settled cote and its woolly tenants were of an exquisite pastoral beauty. But I looked again, and it proved to be no living flock, but beautiful sculpture." The lady, thinking this a capital holiday-show for her children, eagerly interposed, "I beg your pardon, Mr. Blake, but may I ask where you saw this?" "Here, madam," answered Blake, touching his forehead.

Der anonyme Übersetzer des Artikel in der Zeitschrift von Perthes ist Dr Nikolaus Heinrich Julius, Sohn eines jüdischen Hamburger Bankiers, der mit Perthes bei der Herausgabe der Zeitschrift Vaterländisches Museum zusammenarbeitete. Von dieser literarischen Tätigkeit abgesehen, ist der Studienfreund Joseph von Eichendorffs eine ganz erstaunliche Persönlichkeit gewesen, die völlig zu Unrecht so gut wie vergessen ist. Natürlich nicht in diesem Blog. Er ist mit der Hamburgischen Legion im Feldzug von 1813 nach Frankreich gezogen, er gehörte zu den Mitbegründern des Hamburger Kunstvereins und besaß eine von Zeitgenossen bewunderte Bibliothek, über die bei ihrer Versteigerung ein Verzeichnis angefertigt wurde.

Das Vaterländische Museum versammelt in seinen beiden Bänden (der zweite Band von 1811 ist wegen der Wirren der napoleonischen Kriege auch schon der letzte) die Crème de la Crème der deutschen Literatur: Matthias Claudius, Jean Paul, Klopstock, de la Motte Fouqué und die beiden Grafen Stolberg sind dabei. N.H. Julius steuert einen Beitrag über Amerika bei (dorthin wird er 1839 noch eine Studienreise machen, deren Ergebnis das viel gelesene Werk Nordamerika’s sittliche Zustände ist). Ungeklärt bleibt weiterhin leider die Frage, wer die Gedichte in Henry Crabb Robinsons Artikel übersetzt hat. Etwa Henry Crabb Robinson selbst? Oder doch Nikolaus Heinrich Julius? Oder vielleicht Daniel Runge (der Bruder des Malers Philipp Otto Runge), der in einem alten Lexikon der hamburgischen Schriftsteller als Mitübersetzer von Henry Crabb Robinsons Text genannt wird?

Oder war es doch, wie es Wilhelm Lehmann (und auch 1831 der Philosoph Karl Rosenkranz) sagt, der Graf Friedrich Leopold Stolberg (der ja Beiträger für das Vaterländische Museum war). Oder Christian Stolberg, der auf dem Gut Windeby bei Eckernförde wohnte, bei Lehmann sozusagen um die Ecke. Friedrich Stolberg konnte gut Englisch, er und sein Bruder hatten Homer zuerst in der Übersetzung von Pope gelesen (ihre Eltern waren mit Edward Young befreundet), und später hat Stolberg den Ossian übersetzt. Woher weiß Lehmann das mit Stolberg? Ich kriege das nicht raus, bin aber dankbar für jede Lösung des Problems. Leider konnte mir der Spielzeugtiger (mit echtem Fell), den Heidi mir mal vor Jahrzehnten geschenkt hat, bei der Lösung der Frage auch nicht helfen.

Es ist, bye the bye, eine sehr schöne Übersetzung. Vergleichen Sie sie einmal mit der ➱Übersetzung von Alexander von Bernus. Oder mit Georg von der Vrings Tiger! Tiger! grauses Licht, Das aus Nacht und Wäldern bricht, Wessen Schöpferdrang gestillt Hat dein entsetzliches Gebild? Ich habe im Internet noch eine interessante Übersetzung von ➱Walter A. Aue gefunden. Auf den bin ich durch die Seiten von ➱MartininBroda gekommen, und dafür bin ich wirklich dankbar. Wenn ich schon den Übersetzer des Jahres 1811 nicht herausfinde, hab ich zum Schluss doch noch etwas Schönes. Zum einen Blakes Gedicht von dem jungen englischen Schauspieler Samuel West vorgelesen, zum anderen eine Vertonung von John Taverner. Was sicher sehr passend ist, weil Blake seine Songs of Innocence and Experience ja wirklich als Lieder gedacht hat.

Ich würde gerne damit enden. Wär' ein schöner Schluss. Aber ich muss noch einmal in die Tiefen - oder sollte ich sagen Untiefen, weil das Niveau so flach ist - der Popular Culture hinab. Wenn man die ersten Zeilen des Gedichtes bei Google einfütterte, sind die Ergebnisse sehr seltsam. Man kommt auf Red John (den Bösewicht der TV-Serie The Mentalist), James Bond, Otto Waalkes und ähnliches. Zweihundert Jahre nachdem dieses ausnehmend zarte und einfache Gedicht der deutschen Öffentlichkeit vorgestellt wurde, führt es ein neues Leben in der Subkultur. Es genügt offensichtlich, dass die ersten vier Zeilen des Gedichtes in einer amerikanischen Fernsehserie vorkommen, schon wird es für hunderttausende Kult. Und das auch nur aus dem Grund, weil es mit einem Massenmörder, mit Blut und Gewalt verknüpft wird. Wohin sind wir gekommen?

Neben Blake zitierenden Fernsehserien-Massenmördern hat ein Video eines gewissen Guilherme Marcondes im Internet die größte Beliebtheit. Das soll angeblich ganz, ganz toll sein. Schauen Sie es sich hier einfach mal an, ich sage dazu jetzt nix mehr. Wenn man nicht mit Büchern sondern mit Videospielen aufgewachsen ist, hält man das wahrscheinlich für Kunst.


Sonntag, 27. November 2011

Homestory



Martin Roth wirkt müde, und das liegt nicht allein an dieser 29-jährigen Praktikantin, die gerade anderthalb Tage lang seine volle Aufmerksamkeit gefordert hat.
Das ist jetzt nicht der Anfang eines schlechten Romans, in dem der Romanheld Martin Roth von anderthalb Tagen Sex ermüdet ist. Nein, dies ist deutscher Journalismus, es stand in der ➱Zeit. Der Verfasser, offensichtlich ein verhinderter Romanautor in der Courths-Maler Tradition, fährt fort: Er führte sie durch sein Museum, zu Skulpturen und Gemälden, Couture-Kleidern und Designermöbeln; sie plauderten angeregt mit Restauratoren, und zur Mittagszeit ließ Roth in seinem Büro Sandwiches servieren. Ach, ich liebe diesen Stil, voll von dem, was der Engländer purple passages nennt. Eine Homestory der ganz besonderen Art, die eine breite Schleimspur über die Seite der Zeit zieht. Wenn ich beim Zahnarzt im Wartezimmer die Gala oder ähnliche Blätter lese, dann erwarte ich nichts anderes. Aber dies ist die Zeit, kann man da nicht noch Reste eines seriösen Journalismus erwarten?

Nicht nur 29-jährige Praktikantinnen ermüden Martin Roth: Roth kippt einen Espresso. Eben hat er sich im Spiegel angeschaut und für zu blass befunden. Sein neues Leben, sagt er, »zieht viel Energie aus dem Leib«. Und was ist es, was ihn müde und blass werden lässt? Die Antwort ist: Seine ständigen Touren, die er unternimmt, um sich besser zurechtzufinden in dem weitläufigen wie verwinkelten Kulturpalast. Ja, das ist schon enervierend, wenn man sich am Arbeitsplatz ständig verläuft.

Das Ganze endet mit einem geradezu poetischen Absatz: Es ist schon Abend, als Martin Roth in die Eingangshalle seines Museums strebt. Sie ist bunt von Menschen. Einige tanzen, ein DJ legt auf. Bei einem Renaissance-Brunnen nippen Hipster an Espresso Martini. Nebenan lauschen sie Vorträgen über Postmoderne – Stil und Subversion 1970–1990. Die V&A-Ausstellung liefert diesmal das Motto für den monatlichen Themenabend »Friday Late«, inzwischen ein Pflichttermin für Londons junge Kreative. Von einer Empore aus blickt Roth auf die Szene. »Wahnsinn, nicht?«, ruft er. Dann geht er wieder arbeiten.

Ja, und wie es bei Eichendorff heißt: von fern schallte immerfort die Musik herüber, und Leuchtkugeln flogen vom Schloß durch die stille Nacht über die Gärten, und die Donau rauschte dazwischen herauf – und es war alles, alles gut!

Ich könnte jetzt natürlich eine philologische Stilanalyse des Zeit-Textes machen, das habe ich gelernt, das ist jahrzehntelang mein Beruf gewesen. Aber ich kann das auch lassen, weil bei solchen Texten vor meinem inneren Auge automatisch die Sprechblase eines Comics auftaucht, in der Kotz Würg! steht. Mehr braucht man dazu nicht zu sagen. Aber wo bleibt das Positive? Das Positive ist, dass wir einen neuen Hoffnungsträger haben, dieser Martin Roth ist in der Darstellung der Zeit ja larger than life, geradezu ein Renaissance Man, da bieten sich doch noch ganz andere Aufgaben an als Direktor des Victoria und Albert Museums zu sein. Und für den Verfasser des Artikels gelten die Sätze von Gustav Freytag aus dem Lustspiel Die Journalisten: Achten Sie vor allem auf Ihren Stil..., guter Stil ist die Hauptsache. Schreiben Sie gewichtig, schreiben Sie tief, man verlangt das heut zu Tage von einer Zeitung, daß sie tief ist. Man sollte tief schreiben aber nicht mit tief sinken verwechseln.

Was mich an der Homestory der Zeit ein klein wenig irritiert, sind die folgenden Sätze: Sir Mark trat unnahbar auf. Als sich Martin Roth der Belegschaft vorstellte, sprach er über seine Frau, die drei Kinder – und die Exfrau. »Seine Rede war so persönlich, dass vielen von uns der Atem stockte«, sagt eine britische Mitarbeiterin. Es war Roths erste kleine Revolution. Ich weiß nicht, ob das Wort Belegschaft hier richtig gewählt ist, aber ich weiß, dass mir auch der Atem stocken würde, wenn ich Engländer wäre. Bei der ersten sich bietenden Gelegenheit in der Öffentlichkeit von Frau, Kindern und Exfrau zu reden, dass würde kein englischer Gentleman tun. Kein wohl erzogener Mann würde das tun. Wir wissen natürlich, wer so etwas machen würde - jetzt einmal von Atze Schröder abgesehen. Richtig: Politiker. Hat Herr Roth nicht vielleicht auch noch einen Hund, der der Erwähnung wert gewesen wäre? Richard Nixon hat mit seiner Checkers Rede ja großen Erfolg gehabt.

Sir Mark trat unnahbar auf. Really? Mark Jones ist Engländer, die sind nun mal so. Sir Mark Jones, der gerade Master des St Cross College in Oxford geworden ist, hat das V&A in zehn Jahren gründlich modernisiert. Siebzig Prozent des Museumskomplexes wurden umgebaut. Ich habe in all den Jahren seiner Amtszeit im Observer nichts Negatives über ihn lesen können. Von Unnahbarkeit war da nie die Rede, eher stand da affable and unassuming, manchmal charismatic. Und dass er mit dem Fahrrad zur Arbeit kam. Er hat seine Arbeit still gemacht, für ihn war es kein Showbusiness, das größte Kunstgewerbe- und Designmuseum der Welt zu leiten. Da war er ganz anders als Sir Nicholas Serota, der Direktor vom Tate (dessen Wikipedia Artikel auch fünfmal so lang ist wie der von Jones). Und natürlich war er auch nicht so flamboyant wie Robert Neil MacGregor, der Direktor des British Museum. Der ist ja alle naselang im Fernsehen und macht Schlagzeilen mit dem Schwur, die Elgin Marbles niemals an Griechenland zurückzugeben. Wäre im Augenblick wohl auch keine gute Idee, die verscheuern die glatt weiter.

His leaving speech was a model of modesty, schrieb der Evening Standard vor Monaten, von Sir Mark trat unnahbar auf redete in England niemand. Vielleicht hätte der Zeit Journalist mal seine Hausaufgaben machen sollen, bevor er die Lobeshymne auf Martin Roth schrieb. Mark Jones, der im letzten Jahr als Knight Bachelor für services to the arts geadelt wurde, hat in zehn Jahren die höchsten Besucherzahlen in der Geschichte des Museums erreicht. Er hat auch die kulturellen Kontakte zu dem südostasiatischen Raum vertieft (das V&A hatte 1879 vom India Office das Indian Museum übernommen, eine der größten Sammlungen indischer Kunst). Er hat zu der Gegend ein besonderes Verhältnis, weil er mal ein halbes Jahr am National Museum of Singapore hospitiert hat. Mark Jones kommt aus einer Gelehrtenfamilie, seine Mutter ist die Historikerin Ann Paludan, sein Urgroßvater war der berühmte Gilbert Murray. Aber das wird er im Museum nicht erzählt haben. Weil er sein Privatleben wie alle upper middle class Engländer privat hält.

Er unterscheidet sich von seinem Nachfolger natürlich noch in einem wichtigen Punkt: er ist Kunsthistoriker. Studierte zuerst in Oxford, dann am Cortauld Institute. Danach war der Spezialist für Münzen und Medaillen achtzehn Jahre am British Museum tätig, unter anderem organisierte er die vielbeachtete Ausstellung Fake? The Art of Deception. Münzen und Medaillen interessieren nicht jeden Kunsthistoriker. Alfred Lichtwark interessierte sich schon dafür, wie man seinen Reisebriefen entnehmen kann. Die Kunsthalle Kiel interessierte sich überhaupt nicht für ihre Sammlung. Verstaute sie in einem Verschlag auf dem Dachboden. Bis sie vom Hausmeister geklaut und peu à peu auf dem Schwarzmarkt verscherbelt wurde. Das wäre Mark Jones, als er Keeper des Department of Coins and Medals im British Museum war, bestimmt nicht passiert.

1992 wurde Jones Director der National Museums of Scotland. Er hat das Museum of Scotland aufgebaut und sich dafür viel Anerkennung erworben. Martin Roth ist zwar Professor (Honorarprofessor an einer TU) und Doktor, aber er ist kein studierter Kunsthistoriker. Roth ist Kulturmanager, das ist eine neue Sorte Mensch. Den Studiengang Kulturmanagement kannten Leute wie ➱Wilhelm von Bode, Gustav Pauli oder ➱Alfred Lichtwark noch nicht. Die machten das noch so nebenbei. Bisher war Roth erfolgreich - aber das war Mark Jones auch. Und affable and unassuming.

Ich habe rein gar nichts gegen den umtriebigen ➱Selbstdarsteller Martin Roth (obgleich er die Engländer erst noch verstehen lernen muss, er arbeitet ja schon mal an der Verbesserung seiner Englischkenntnisse) - ich habe nur etwas gegen diese Sorte Journalismus. Die Zeit ist sehr oberflächlich geworden, seit Giovanni di Lorenzo mit Helmut Schmidt auf eine Zigarette plaudert oder dem Betrüger Guttenberg eine neue ➱Plattform gibt. Da sehnt man sich doch Karl Kraus und Kurt Tucholsky zurück. Ich habe beinahe ein halbes Jahrhundert lang die Sunday Times oder den Observer gelesen, da sehnt man sich nicht so sehr nach dem deutschen Journalismus. Ich lese die Zeit heutzutage ungern, obgleich sie das Bremer Wappen auf der Titelseite hat (die Hansestadt Hamburg wollte der Zeitung bei der Gründung ja die Verwendung ihres Wappens nicht gestatten, die ➱Bremer hatten nix dagegen).

Wenn man alles über das V&A wissen will, dann sollte man sich den Katalog A Grand Design: Art of the Victoria and Albert Museum kaufen. Wenn man wissen will, wie es in einem englischen Museum aussieht, dann sollte man nicht die Zeit lesen sondern lieber einen Roman. Wie The Hound in the Left-Hand Corner von Giles Waterfield, über den der ➱Observer schrieb 'The Hound in the Left-Hand Corner' is a rumbustious and hugely entertaining satire about the world of museums in the age of New Labour, where scholarship wilts and Mammon rules. Gebildet und bildend, geistreich und gleichzeitig schreiend komisch. Gibt es bei Amazon ab 0,01 €. Die besten Dinge im Leben sind häufig so gut wie umsonst. Der ➱Eintritt in das V&A ist auch frei, dafür hatte Mark Jones bei seinem Amtsantritt gesorgt (die Sonderausstellungen kosten allerdings einen happigen Eintritt).

In ➱Bonn wurde gerade die Ausstellung Art and Design for All: The Victoria and Albert Museum eröffnet. Die Ausstellung geht noch bis zum 15. April 2012, der Katalog kostet 32 €.

Samstag, 26. November 2011

De Profundis


The misfortune of mental derangement is a topic of such extreme delicacy that I consider it as the duty of a biographer rather to sink in tender silence, schreibt William Cowpers erster Biograph William Hayley 1803. Es ist ein Satz, den sich Biographen doch häufiger zu Herzen nehmen sollten. Worüber er lieber schweigen möchte, ist die Abwärtsspirale, in der sich das Leben seines Freundes William Cowper direkt in den Wahnsinn bewegt. Heute hat man Wörter wie Depression oder Borderline oder anderes dafür, damals ist man gegenüber dem Ganzen hilflos. Zumal sich Cowper nach seinen Selbstmordversuchen noch in einen religiösen Wahnsinn hineingeflüchtet hat. Zwar sagt das Dictionary of National BiographyCowper’s religious terrors were obviously the effect and not the cause of the madness, of which his earlier attack had been symptomatic, aber ich bin da nicht so sicher, ob das nicht auch vice versa funktioniert.

In dieser ersten großen Krise (andere sollen noch folgen) schreibt William Cowper ein Gedicht, das keinen Titel hat. In manchen Ausgaben wird es mit dem Titel Lines written under the influence of the delirium zitiert. Und noch mit einer Fußnote versehen: Composed while under the care of Dr Cotton at St Albans.

Hatred and vengeance, my eternal portion,
Scarce can endure delay of execution,
Wait, with impatient readiness, to seize my
Soul in a moment.
Damned below Judas: more abhorred than he was,
Who for a few pence sold his holy Master.
Twice betrayed Jesus me, this last delinquent,
Deems the profanest.
Man disavows, and Deity disowns me:
Hell might afford my miseries a shelter;
Therefore hell keeps her ever hungry mouths all
Bolted against me.
Hard lot! encompassed with a thousand dangers;
Weary, faint, trembling with a thousand terrors;
I'm called, if vanquished, to receive a sentence
Worse than Abiram's.
Him the vindictive rod of angry justice
Sent quick and howling to the center headlong;
I, fed with judgment, in a fleshly tomb, am
Buried above ground.

Ein klein wenig pervers ist das schon, der Autor suhlt sich ja in Selbstmitleid, Größenwahn und Blasphemie. Aber er hat sich wahrscheinlich wirklich so gefühlt. Vielleicht ist es seinen Zeitgenossen nicht so fremd gewesen, wie es uns heute erscheint. Sagt auf jeden Fall Lord David Cecil in seiner mehrfach preisgekrönten Cowper-Biographie The Stricken Deer: The Life of Cowper im Jahre 1929. William Cowper wurde heute vor 280 Jahren geboren. Vor einem Jahr habe ich ihn in diesen ➱Post hineingeschrieben. Da hatte ich kurz zuvor, diese grüne Lederausgabe mit Goldschnitt für 4,50 € gekauft und meine Cowper-Kenntnisse aufgefrischt. Alte selbstgeschriebene Texte wiederzulesen ist für mich immer etwas Erstaunliches, aber ich finde den Text nach 365 Tagen eigentlich immer noch gut. Falls Sie ihn im letzten Jahr verpasst haben sollten, dann lesen Sie ihn doch einfach. Mehr William Cowper gibt es hier nicht.

Die psychische Krise bewirkt für William Cowper eines: er beginnt zu schreiben. Er glaubt zwar immer noch, dass er verdammt ist, aber er schreibt. Er fängt erstmal mit Hymnen an. Schreiben als Therapie. Und dann wird die Therapie wieder zur Krankheit? Diese Schreibkrankheit, über die schon Juvenal spottete: Viele leiden an der unheilbaren Schreibkrankheit, und in ihrem kranken Geist wird sie chronisch. Ich erkenne bei mir auch schon pathologische Züge, aber ich nehme das noch nicht so ernst.

Lesen Sie auch: Modekrankheit

Donnerstag, 24. November 2011

Belfast Boy


Als Sir Stanley Matthews fünfzig wurde, hörte er mit dem Fußball auf. Als George Best fünfzig wurde, hatte er noch neun Jahre zu leben. Dies Georgie Best T-Shirt kann man heute kaufen. Ein Stan Matthews T-Shirt mit einem solchen Aufdruck gibt es nicht. Aber wenn George Best auch heute vor sechs Jahren gestorben ist, in der Erinnerung wird er ewig leben. Nicht nur weil Lieder über ihn gesungen werden und er dem Beruf des Fußballers eine ganz neue Dimension gegeben hat und das fußballerische ➱Äquivalent zum Swinging London wurde. Er war der erste Superstar des Fußballs. Und zugleich eine Art ➱style icon, angeblich sollen die Kinks an ihn gedacht haben, als sie ➱Dedicated follower of fashion schrieben.

Haare bis auf die Schulter, einen Sportwagen und einen Nachtklub hatte Günter Netzer auch, aber der hat irgendwann den Weg ins Seriöse gefunden. Und nicht sein Leben lang gesoffen. Ist ja für britische Fußballer eine Berufskrankheit. Ich habe letztens in der Süddeutschen gelesen, dass Gazza die Kurve noch gerade gekriegt hat (mein Freund Georg, der alle englischen Fernsehsender reinkriegt, hat natürlich das Interview von Gazza mit Piers Morgan gesehen). Wir wollen mal hoffen, dass das mit den guten Vorsätzen so bleibt.


Falls Sie zu einer Generation gehören, die George Bests Karriere bei ManU in den sechziger und siebziger Jahren nicht so verfolgt hat, habe ich heute ein cineastisches Schmankerl für Sie. Nämlich einen Ausschnitt aus Hellmuth Costards Film Fußball wie noch nie (1970). So sehen Märchenstunden des Fußballs aus, die auch von der Einsamkeit des Spielers mitten im Match erzählen, und der Titel war auch nicht nur ein leeres Versprechen, schrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung damals. Und die Welt am Sonntag setzte noch eins drauf: Costard hat hier etwas Zeitloses geschaffen und damit gleich drei Denkmäler errichtet. Eins für sich, eins für George Best und – das wichtigste – eins für den Fußball. Man kann den Film seit einigen Jahren sogar als ➱DVD kaufen. Es ist wohl der außergewöhnlichste Fußballfilm, der je gedreht wurde. Als die ARD ihn 1971 zeigte, wollten zahlreiche Zuschauer ihre Fernsehgebühren zurück haben. Ich sollte, bevor sie sich den Film bestellen, vielleicht noch sagen, dass man darauf einhundert Minuten nichts anderes als George Best sieht. Schauen Sie doch mal ➱hier hinein.



Mit Manfred Burgsmüller (als er bei Werder Bremen war) wäre das natürlich noch viel langweiliger geworden, weil der sich nie bewegt hat. Aber immerhin ist der Manni mit neununddreißig mit Werder noch Deutscher Meister geworden. In dem Alter spielte George Best schon lange keinen Fußball mehr. Aber Stanley Matthews spielte noch mit 42 Jahren in der Nationalmannschaft.

Nicolas Poussin


Was auf den ersten Augenblick wie eine ideale Landschaft aussieht, ist bei genauerem Hinschauen ein Schreckensszenario. Im fahlen unwirklichen Licht, unter zuckenden Blitzen, fliehen Menschen. Ein Löwe fällt einen Reiter an, eine Frau stürzt auf einen männlichen Leichnam zu. Und unheimlich ruhig liegt ein See mit einer spiegelglatten Oberfläche da. Ein rätselhaftes Bild, das Nicolas Poussin 1651 gemalt hat. Es heißt Gewitterlandschaft mit Pyramus und Thisbe, das Bild hängt heute im Städel in Frankfurt.

Ursprünglich war es nur eine Landschaft mit Gewittersturm, bevor der Künstler noch (sozusagen in letzter Minute) die tragische Geschichte von Pyramus und Thisbe auf die Leinwand brachte. Schließlich war das Bild für den Gelehrten Cassiano dal Pozzo (einen seiner Mäzene) gemalt, da mussten schon Bildungsanspielungen mit in die Landschaft. Wenn man ein "klassischer" Maler ist, wird die Natur nicht gemalt wie sie ist, sondern wie sie sein soll.

Eigentlich kommt in der Geschichte von Pyramus und Thisbe bei Ovid kein Gewitter vor. Das Gewitter als Motiv ist eine Zutat des französischen Dramatikers Théophile de Viau. Sein Theaterstück Les Amours tragiques de Pyrame et Thisbé war eins der erfolgreichsten Stücke des 17. Jahrhunderts, sehr wahrscheinlich hat Poussin es gekannt.

Dieux ! mon âme en est effarouchée.
J'ai vu tout au travers d'un bandeau du sommeil,
Au milieu d'un désert l'éclipse du soleil ;
C'est le premier objet de la funeste image
Qui marque à mon destin un assuré dommage.
En cette nuit épaisse où par tout l'univers
Les objets demeuraient également couverts,
J'ai senti sous mes pieds ouvrir un peu la terre
Et de là sourdement bruire aussi le tonnerre ;
Un grand vol de corbeaux sur moi s'est assemblé,
La lune est dévalée, et le ciel a tremblé ;
L'air s'est couvert d'orages, et, dans cette tempête,
Quelques gouttes de sang m'ont tombé sur la tête ;
Un lion, l'oeil ardent et le crin hérissé,
Dessus son large col hideusement pressé,
Rugissant sans me voir auprès de la caverne,
A fait autour de moi deux ou trois fois un cerne ;
Certains cris souterrains rompus par des sanglots,
Comme un mugissement de rivae et de flots,
Au travers le silence et l'horreur des ténèbres
M'ont transpercé le coeur de leurs accents funèbres.

Alle Figuren, die man sieht, spielen ihre Rolle gemäß dem Wetter, schrieb Poussin an einen Malerfreund, dem er das Bild beschrieb. In dem Bild hatte er versucht, einen Gewittersturm auf der Erde darzustellen, indem ich nach besten Gewissen und Können die Wirkung des ungestümen Windes nachahmte, ferner die von Finsternis erfüllte Atmosphäre. Das Bild ist auch eine Herausforderung an die Malerei. Erst Apelles, hat Plinius gesagt, malte, was nicht zu malen möglich war: Donnerschläge, Wetterleuchten und Blitze. Nun ist von Apelles kein einziges Werk erhalten, man muss Plinius glauben, dass der griechische Maler das alles konnte.

Aber Poussin, der kann es, er macht in diesem vieldeutigen Werk vielleicht auch einen Kommentar zu den Zeitläuften. Häufig finden sich in dieser Zeit Tragödien in seinen Ideallandschaften. So idyllisch zum Beispiel diese Szene mit Orpheus und Eurydike auf den ersten Blick ist, im Hintergrund brennt völlig unerklärlich eine Burg (die der Engelsburg ähnelt). Weit und breit sind keine Blitze zu sehen, die die Ursache sein könnten. Und vorne, an der Grenze von Hell und Dunkel (wobei das Dunkel vielleicht schon den zukünftigen Aufenthaltsort von Eurydike andeutet) hat sich gerade noch eine Tragödie abgespielt, die noch niemand von den Beteiligten bemerkt hat. Orpheus singt fröhlich weiter, während Eurydike den tödlichen Biss von der Schlange erhalten hat. Aber in diesem Bild ist die Tragödie nicht durch die entfesselten Naturgewalten orchestriert. Es ist sicherlich kein Zufall, dass Poussin ein Bild mit dem Titel Et in Arcadia ego gemalt hat.

Dieses Bild eines Sturmes ist ziemlich gleichzeitig mit der Gewitterlandschaft mit Pyramus und Thisbe gemalt, in diesen Jahren um 1650 ist viel Sturm und viel Unglück auf den Bildern von Poussin. Das Bild, das im Besitz des Musée des Beaux-Arts von Rouen ist, wirkt beinahe - ähnlich wie die Gewitterlandschaft mit Pyramus und Thisbe als wolle Poussin die Malerei der Romantik vorwegnehmen. Auch sein Schwager Gaspar Dughet (der sich später Gaspar Poussin nennen wird) fängt jetzt an, Gewitterstürme zu malen, vielleicht hat er sogar Poussin beeinflusst.

Gewitter erschrecken heute niemanden mehr, außer kleine Kinder und große Bobtails. Die Geheimnisse von Donner und Blitz sind längst erklärt, aber im 17. Jahrhundert haben die Naturkräfte noch ihren Schrecken. Weil sie als Strafe Gottes verstanden werden. Dagegen helfen nur Gebete oder das Geistliche Donner- und Wetter-Büchlein von Bonifacius Stöltzlin.

Ein Jahr nach dem Ende des dreißigjährigen Krieges hatte Poussin geschrieben: Wir erhalten hier sehr befremdliche Nachrichten aus England. Neuigkeiten aus Neapel gibt es auch. In Polen geht alles drunter und drüber. Wolle Gott durch seine Gnade unser Frankreich bewahren vor dem, was ihm droht. Wie unser Befinden hier ist, weiß nur Gott. Aber dann fährt er optimistisch fort: Dennoch ist es ein großes Vergnügen, in einem Jahrhundert zu leben, in dem große Dinge geschehen, vorausgesetzt daß man sich in einen kleinen geschützten Winkel setzen und die Komödie bequem verfolgen kann. So lange man nicht vom Blitz erschlagen wird. Oder von Schlangen gebissen (unten) und von Löwen angefallen wird. Sein kleiner geschützter Winkel ist Rom, doch das, was seiner Heimat Frankreich droht, sind bürgerkriegsähnliche Zustände, für die die Geschichte den Sammelbegriff Fronde gefunden hat. Poussins eigener Kommentar zur Politik sind jetzt seine Gewitterbilder.

Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch (ob sie in Griechenland Hölderlin kennen?). Das Bild mit dem Titel L'Orage in Rouen ist nicht als Einzelbild geplant, es gibt ein pastorales Pendant dazu, das Paysage par temps calme (Abbildung einen Absatz weiter oben) heißt und heute dem Getty Museum in Kalifornien gehört. Es hängt da noch nicht so lange in Los Angeles, man hat es erst 1997 (für wahrscheinlich 26 Millionen Dollar) gekauft. Zuvor hing es in Sudeley Castle. Da hatte man aber erst in den siebziger Jahren (als man begann, das Schloss zur Touristenattraktion umzubauen) begriffen, dass man hier einen echten Poussin an der Wand hatte. Die Familie braucht anscheinend ständig Geld. Henry Dent-Brocklehurst (Patenkind von Camilla Parker Bowles) wird in der englischen Presse als millionaire und socialite bezeichnet, und in der Welt der Schönen und Reichen läuft keine Party ohne ihn. Seine Freundin Liz Hurley hat in seinem Schloss geheiratet. Ich glaube, die Millionen, die er jetzt verjuxt, sind das Geld aus dem Poussin Verkauf. Aber so glücklich wird man in Sudeley Castle nicht, die Familie will (oder muss) da sogar ausziehen. Wahrscheinlich können sie es nicht ertragen, dass die letzte Gattin von Henry VIII Catherine Parr da als Geist spukt. Das ist die Strafe dafür, wenn man einen Poussin verkauft, der Paysage par temps calme heißt.

Mittwoch, 23. November 2011

Claude


We are Diana's Virgin-Train,
Descended of no Mortal Strain;
Our Bows and Arrows are our Goods,
Our Pallaces, the lofty Woods,
The Hills and Dales, at early Morn,
Resound and Eccho with our Horn;
We chase the Hinde and Fallow-Deer,
The Wolf and Boar both dread our Spear.
In Swiftness we out-strip the Wind,
An Eye and Thought we leave behind;
We Fawns and Shaggy Satyrs awe;
To Sylvan Pow'rs we give the Law:
Whatever does provoke our Hate,
Our Javelins strike, as sure as Fate;
We bathe in Springs, to cleanse the Soil,
Contracted by our eager Toil;
In which we shine like glittering Beams,
Or Christal in the Christal Streams;
Though Venus we transcend in Form,
No wanton Flames our Bosomes warm!
If you ask where such Wights do dwell,
In what Bless't Clime, that so excel?
The Poets onely that can tell.

On a Picture Painted by her self, representing two Nimphs of DIANA's, one in a posture to Hunt, the other Batheing heißt das Gedicht von Anne Killigrew (1660-1685). Sie war nicht nur eine Dichterin, sie war auch Malerin (das Bild oben ist von ihr). Man wagt es sich gar nicht vorzustellen, was aus ihr hätte werden können, wenn sie länger gelebt oder mehr gemalt hätte (auf jeden Fall eine bessere Malerin). Tanzende Nymphen kann man in der Lyrik immer gebrauchen, vor allem im 17. Jahrhundert. Wo die da nun genau herumtanzen und baden (In what Bless't Clime?), wird im Text nicht so ganz klar. Die englische Landschaftslyrik ist noch nicht erfunden.

Die Landschaftsmalerei ist allerdings schon erfunden, wenn auch nicht in EnglandDie Holländer sind die Meister der Landschaft, den Horizont flach gelegt, damit oben im Bild viel Platz für den Himmel ist. Das flache Land, wo man die Verwandten schon Ostern sehen kann, wenn sie Pfingsten zu Besuch kommen, verführt zu dieser Sehweise. Die Engländer, die in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wenig eigene Maler haben (sie müssen schon Leute aus Lübeck wie Gottfried Kniller als Hofmaler importierten), kaufen gerne Holländer. Am liebsten Holländer, die ein klein wenig italienisch sind. Wie diese Maler, die die Kunstgeschichte heute ➱Dutch Italianates nennt. Maler wie Jan Both oder der weniger bekannte (aber in England beliebte) Herman van Swanefelt. Dies Bild hier mit den badenden Nymphen ist von ihm. Ist natürlich schon glatter und routinierter gemalt als die Nymphen von Anne Killigrew.

Wenn Sie beim Betrachten des Bildes von Swanefelt angesichts des sanft goldenen Lichtes irgendwie an Claude Lorrain denken müssen, dann liegen Sie völlig richtig. Ich plaziere hier einmal zum Vergleich einen Claude. Auch mit Nymphen, wir wollen ja beim Thema bleiben. Ich glaube, dass jedem Betrachter die Unterschiede der malerischen Qualität deutlich werden. Wirkt Anne Killigrews Bild ein wenig wie Laienmalerei und Swanefelts Bild wie das eines routinierten Kopisten, so ist Claudes Bild sicher die höchste malerische Stufe dieser drei Bildern mit Nymphen in einer idyllischen Landschaft. Ich lasse jetzt einmal Sprüche wie Goethes Im Claude Lorrain erklärt sich die Natur für ewig weg, sie helfen uns nicht weiter. Wenn wir schon bei schönen Worten sind, dann gefällt mir John Constables all is lovely – all amiable – all is amenity and repose; the calm sunshine of the heart viel besser als Goethes apodiktisches Kunsturteil.

Aber ich möchte auf etwas ganz anderes hinaus. Auf die Frage: woher kommt das Licht? Und da ist ein zweitklassiger Maler wie Swanefelt unserem Claude in einer gewissen Phase seines Werkes sehr ähnlich. Er studirte unter Claude Lorrain, welcher als sein eigentlicher Lehrmeister anzusehen ist, und mit dem er gemeinschaftlich mahlte, schreibt Johann Kaspar Füssli in seinem Raisonirendes Verzeichniss der vornehmsten Kupferstecher und ihrer Werke 1771. Und beide beherrschen in der Zeit, da sie nebeneinander her leben und malen, einen Trick. Und der heißt: Nimm immer die auf- oder untergehende Sonne und versteck sie hinter Bäumen! Oder Felsen. Oder hinter was immer, was als Repoussoir im Vorder- und Mittelgrund herum steht. Es ist ein Trick mit weitreichenden Folgen, klicken Sie doch mal eben hier auf ➱Jan Both. Die ganzen Dutch Italianates in Rom machen eigentlich nichts anderes, als Claude Lorrain zu imitieren.

Es sind Gegenlichtbilder, contre lumière, die Claude malt. Nur ist die Lichtquelle selten zu sehen. Auf diesem Bild sehen wir sie natürlich. Es hängt in der National Gallery in London und zeigt die Königin von Saba, wie sie sich in einem Hafen einschifft, um den König Salomon zu besuchen. Das Bild ist das Komplementärbild zu einem Bild, das die Hochzeit von Isaak und Rebecca zeigt. Biblische Themen kann man den Kunden immer verkaufen, reine Landschaftsmalerei verkauft sich noch nicht. Erst ein Jahrhundert später wird man so etwas goutieren.

Neben biblischen Themen sind natürlich - wie in unseren Beispielen ganz oben - Themen aus der Mythologie der Götter und Helden angesagt. Hier hat Claude (der heute vor 329 Jahren starb) einige Probleme, er hat nicht die Bildung, die andere Maler haben. Wie zum Beispiel sein Freund Nicolas Poussin (über den gibt es hier morgen etwas). Als Claude nach Rom kommt, kann er weder lesen noch schreiben. Ist später wohl auch nicht viel besser. Es gibt nur drei Briefe von ihm, mit seltsamer Orthographie. Er konnte bis zehn zählen, aber nicht viel weiter (ich kenne Vierjährige, die schon bis 22 kommen). Er wird uns natürlich keine Theorie der Malerei liefern, wie Poussin das in vielen Schriften tut. Er ist auch nicht der Sohn eines Landedelmannes wie Poussin, er ist kein Multitalent wie Salvator Rosa. Er hat als Pastetenbäcker angefangen, aber er geht seinen Weg.

Und er kann malen (angeblich malt er sogar direkt in der Natur, wenn man Joachim von Sandrart glauben darf), und er malt Landschaften wegen der Landschaft. the most perfect landscape painter the world ever saw, hat John Constable über ihn gesagt. Die tanzenden Nymphen, die Königinnen von Saba sind für Claude nur Dekoration, weil das Publikum noch nicht reif für die reine Landschaftsmalerei ist. Bei Poussin ist es genau anders herum, für ihn ist die dargestellte Szene (meist aus der klassischen Mythologie) die Hauptsache. Die Landschaft ist nur Staffage.

And the whole fief, in right of poetry she claim'd.
The country open lay without defence:
For poets frequent inroads there had made,
And perfectly could represent
The shape, the face, with ev'ry lineament:
And all the large domains which the Dumb-sister sway'd,
All bow'd beneath her government,
Receiv'd in triumph wheresoe'er she went,
Her pencil drew, what e'er her soul design'd,

And oft the happy draught surpass'd the image in her mind.
The sylvan scenes of herds and flocks,

And fruitful plains and barren rocks,
Of shallow brooks that flow'd so clear,
The bottom did the top appear;
Of deeper too and ampler floods,
Which as in mirrors, show'd the woods;
Of lofty trees, with sacred shades,
And perspectives of pleasant glades,
Where nymphs of brightest form appear,
And shaggy satyrs standing near,
Which them at once admire and fear.
The ruins too of some majestic piece,
Boasting the pow'r of ancient Rome or Greece,
Whose statues, friezes, columns broken lie,
And tho' defac'd, the wonder of the eye,
What Nature, art, bold fiction e'er durst frame,
Her forming hand gave feature to the name.

So strange a concourse ne'er was seen before.

Das dichtet ➱John Dryden über Anne Killigrew in seinem Gedicht To the Pious Memory of the Accomplished Young Lady Mrs. Anne Killigrew Excellent In The Two Sister-Arts Of Poesy And Painting: An Ode. Hat er Bilder von ihr gesehen (sie soll fünfzehn gemalt haben) oder beschreibt er die Bildwelt von Claude Lorrain? Alles, was hier beschrieben wird, kommt in seinen Bildern vor. Ruinen nicht so häufig, das Motiv überlässt er anderen, die sich darauf spezialisieren.

Claude Gellée, den wir Claude Lorrain (oder Claude Le Lorrain) nennen - oder schlicht nur Claude - hat auf die Engländer des 18. Jahrhunderts einen Einfluss wie kaum ein anderer Maler. Die Royal Collection hat fünf Bilder von ihm (sechs von Rembrandt). Von Poussin hat hat die Königin die größte Sammlung von Zeichnungen aber kein Ölbild. Alan Bennett lässt das so beiläufig in seinem Theaterstück A Question of Attribution in den Dialog zwischen dem Landesverräter ➱Sir Anthony Blunt und der Königin einfliessen. Der Poussin-Spezialist Blunt besaß natürlich einen Poussin.

Die Geschmacksbildung der Engländer durch Claude Lorrain ist das Thema des Buches Italian Landscape in Eighteenth Century England: A Study Chiefly of the Influence of Claude Lorrain and Salvator Rosa on English Taste 1700-1800 von Elizabeth Wheeler Manwaring. Das 1925 erschienene Buch war die Doktorarbeit der späteren Professorin für Rhetoric and Composition am Wellesley College. Es ist ein phänomenales Buch, ganze Generationen von Kunst- und Literaturhistorikern haben sich davon ernährt.

Ich möchte mal eben daraus den Anfang des dritten Kapitels zitieren: The very ignorance of the English in matters of art, their tendency to judge of pictures by literature , or by names, as well as to follow artistic fashions sheeplike, helped to develop the taste for Italian landscape art. In the first place, that art represented the land which has always laid a spell over the English spirit; and in the second, these artists had, what the Dutch and Flemish had not - except those who, like the English favourites, Both and Swanevelt, had come under Italian influence — the classic tinge, the ruined fragments of that antique world which to the English was reverend.

Und nachdem sich der Engländer seinen Kunstgeschmack erarbeitet hat und weiß, dass er nie falsch liegt, wenn er Claude Lorrain ästhimiert, dann will er, dass auf seinen Italienreisen die ganze Welt so aussieht, als sei sie von Claude Lorrain gemalt. Was kann man da tun? Richtig, man kauft sich als sublime & beautiful suchender Tourist ein ➱Claude glass. Es hat diese ➱Claude glasses auch in einer etwas einfacheren (und sicher billigerer) Version gegeben. Da war es nur eine in einem Goldton eingefärbte Glasplatte mit einem vergoldeten Blechrahmen. Wenn man sich das Glas mit der Umrahmung vor die Nase hielt, hatte man einen ähnlichen Effekt wie bei dem schwarzen Konvexspiegel: Alles, was man sieht, wird goldfarbener Claude Lorrain. Funktionierte natürlich nur in Italien. Im englischen Nebel kann man damit nix werden.

Hamburg hat einen Claude Lorrain, Dresden hat zwei. Die meisten sind im Augenblick in Oxford zu sehen, weil das ➱Ashmolean eine große Claude Lorrain Ausstellung macht. Die im nächsten Jahr nach Frankfurt ins Städel wandert. Die haben auch einen Katalog, der 49,99 € kostet. Der reizt mich persönlich nicht so sehr, da ich alle Bände von ➱Marcel Roethlisbergers Werkverzeichnis und den hervorragenden Katalog von Helen Diane Russell (National Gallery of Art Washington 1982) habe. Aber vielleicht sollten Claude Lorrain Freunde den Katalog der Ausstellungen in Oxford und Frankfurt doch kaufen, weil es so gut wie keine vernünftige Literatur zu Claude auf dem Markt gibt. Die Deutsche Nationalbibliothek besitzt siebzehn Bücher über Claude (von denen dreiviertel irrelevant sind), die einführenden Bücher von Günther Bergmann (Prestel 1999) und Werner Schade (Schirmer/Mosel 2001) sind auf dem Markt leider vergriffen. Vergriffen ist natürlich auch das Buch von Elizabeth Wheeler Manwaring, obgleich man mit ein wenig Geduld noch die Neuauflage von 1965 (London: Frank Cass) finden kann. Alle Bilder von Claude kann man in etwas mickriger Qualität ➱hier sehen.

Dienstag, 22. November 2011

Endzeit


Was ich von dem neuesten Film von Lars von Trier hielte, wurde ich letztens gefragt. Meine Antwort löste in der Runde ein peinliches Schweigen aus. Die Franzosen haben dafür ein schönes Idiom: un ange passe. Was die französische Firma Seraphin, die luxuriöse Lederjacken herstellt, vor Jahrzehnten zu dem wunderbaren Werbespruch Un ange passe, Un Séraphin est éternel veranlasste. Meine Antwort bezüglich des neuesten Lars von Trier Filmes war ziemlich einfach gewesen, ich habe nämlich gesagt, dass ich noch nie einen Lars von Trier Film gesehen habe. Früher hielt ich den mal für einen guten Regisseur, aber das lag nur daran, dass ich ihn immer mit Lars Becker verwechselt habe. Das ist der Mann, der die Reihe Nachtschicht für das ZDF dreht, der versteht sein Handwerk, der ist wirklich gut.

Auf alles, was aus dem Weltall zu uns kommt, sind wir ja dank TV und Kino bestens vorbereitet. In den neurotischen fünfziger Jahren hatte Jack Arnold ein Genre perfektioniert, bei dem in die Ruhe der Eisenhower-Ära außerirdische Wesen einbrechen; sie kommen aus dem Weltraum oder sind aus der Urzeit übriggeblieben. Invaders from Mars und Invasion of the Body Snatchers sind typische Produkte dieser Zeit. Dann erschien The Thing (offensichtlich ein Erbe von Frankensteins Monster) am Nordpol, und dann kam The Creature of the Black Lagoon (mit zahlreichen sequels). Glücklicherweise siegen Wissenschaft und US Air Force in den fünfziger Jahren immer, aber endgültig besiegt kann die Gefahr natürlich nicht werden. Dann könnte Hollywood nämlich keine Katastrophenfilme mehr drehen. Und so gilt die Botschaft am Ende von The Thing weiterhin: watch the skies, watch everywhere, keep looking - watch the skies! Sie gilt natürlich auch für den neuesten Lars von Trier Film: watch the skies!

Das Feuilleton ist jetzt voll mit Lars von Trier, die Sache mit Adolf Hitler ist irgendwie vergessen, jetzt geht es um Melancholia und das Ende der Welt. Ich dachte immer, dass dieser Schundfilmregisseur Roland Emmerich (the master of disaster) das filmische Ende der Welt gepachtet hätte. Aber der ist ja jetzt weg vom Katastrophenfilm und serviert die ollesten Kamellen der Shakespeare-Verschwörungstheorien als neue Forschung. Diese filmischen Endzeitphantasien scheinen irgendwie periodisch wiederzukommen.

Kann sich irgend jemand noch an Enki Bilal erinnern? Seine Comics hat man ja auch einmal zu einem Film gemacht. Weshalb Charlotte Rampling da mitgespielt hat, weiß ich bis heute nicht. Der Film wurde prompt mit Blade Runner (aber auch mit The Fifth Element) verglichen. Die amerikanischen Großstädte wurden jetzt Endzeit-düster. Hatten nichts mehr von dem puritanischen Ideal, der city upon a hill, der Stadt, in die jeder hineinschauen kann. Jetzt ist Endzeit. Die postmodernen filmischen Großstadtversionen sind seit der city upon a hill einen langen Weg gegangen, wobei sie sich unterwegs bei Jules Verne, H.G. Wells, Franz Kafka, George Orwell und allen Comics der dreißiger Jahre bedient haben. Fritz Langs Metropolis wollen wir gar nicht erst erwähnen.

Blade Runner nach dem Roman Do Androids Dream of Electric Sheep? von Philip K. Dick ist inzwischen beinahe dreißig Jahre alt, damals fand man den ganz toll. Nicht jedermann. Halliwell's Film Guide sprach von little more than an updated Philip Marlowe case und Tom Milne beschrieb das Missverhältnis zwischen futuristischer Ausstattungsorgie und dürftiger Handlung als : The sets are indeed impressive, but they are no compensation for a narrative so lame that it seems in need of a wheelchair. Ich finde es immer toll, wenn Hollywood das wirkliche Amerika, L.A. oder New York in eine postmoderne futuristische Landschaft verwandelt. Amerika ist in seiner Infrastruktur eine der rückständigsten Nationen der Welt, die haben noch überirdische elektrische Leitungen. Kann man hier schon auf diesem Photo einer an eine Häuserwand gemalten Zukunftsvision (The Isle of California) sehen, überirdische Leitungen aber blockbuster über die Endzeit! Das Bild The Isle of California ist nach vier Jahrzehnten inzwischen völlig verblichen, aber Kalifornien ist immer noch da, soviel zu Zukunftsvoraussagen.

In den achtziger Jahren war überall Untergang. Der Kunsthistoriker Otto K. Werckmeister schrieb sogar ein Buch über die neue Endzeitmode: Zitadellenkultur: Die schöne Kunst des Untergangs in der Kultur der achtziger Jahre. Darin wurden die Comics von Enki Bilal philosophisch aufgewertet. Da haben Filme wie Blade Runner und Tarkowskis Stalker schon etwas angerichtet. Endzeit war plötzlich chic. Apokalyptische Endzeitängste plagten die dunklen achtziger Jahre, habe ich gerade in einer Rezension von Mark Greifs Bluescreen gelesen. Habe ich zwar nichts von gemerkt, aber apokalyptische Endzeitängste klingt schon mal toll.

Ich fand die ganzen Endzeitfilme, die jetzt sogar amerikanische Comics der dreißiger Jahre (wie Superman und Batman) recycelten, eigentlich nur komisch. Aber die Filmdesigner sorgten schon dafür, dass auch der simpleste kiddie stuff einen hochpolierten Endzeit-Touch bekam. Anton Furst, der für das Design von Neil Jordans Company of Wolves (und auch die leuchtenden Wolfsaugen) verantwortlich zeichnete, hatte als Designer für Batman das Ziel to make Gotham City the ugliest and bleakest metropolis imaginable...we imagined what New York City might have become without a planning commission. A city run by crime, with a riot of architectural styles. An essay in ugliness. As if hell erupted through the pavement and kept on going.

Es war alles Oberfläche in den Filmen, der Expressionismus des deutschen Films der zwanziger Jahre und der Film Noir wurde in eine von der Ästhetik des Videoclip dominierte postmoderne Farbwelt versetzt. Ob das nun Filme von Leo Carax (Mauvais Sang) oder die Brüder Coen (Barton Fink) waren, Cronenbergs Naked Lunch oder die Filme von David Lynch waren, Alien nicht zu vergessen. Klaustrophobische Innenräume (etwas, was ➱Ken Adam schon perfektioniert hatte) gewinnen immer mehr an Bedeutung. Und alles ist natürlich schön Endzeit-dunkel. Der Filmkritiker Tom Shone sprach von einem triumph of art direction over film direction.

Man kann das offensichtlich gut verkaufen, vor allem wenn man es noch mit Titeln wie Verblendung, Verdammnis oder Hell garniert. Zumal die neuen Szenarien auch noch einen tödlichen Virus nach dem anderen enthalten. Kein Computervirus. Nix mehr mit Schweinegrippe, gleich die Auslöschung der ganzen Menschheit. Bei diesem ganzen filmischen Unsinn sehnt man sich doch den deutschen Heimatfilm der fünfziger Jahre wieder zurück. El sueño de la razón produce monstruos hieß eine Bilderfolge von Goya. Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer. Ob sie nun Roland Emmerich, Lars von Trier oder Tim Fehlbaum heißen.

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