Samstag, 30. November 2013

Poet des Kinos


Im Kino gewesen, geweint, schreibt Franz Kafka in sein Tagebuch. Sagen Sie mir doch, warum man im Cinema jeden Augenblick weint oder vielmehr heult wie ein Dienstmädchen! sagt Thomas Mann. Wir waren neulich alle bei der Erstaufführung der 'Großen Parade', auch Olaf Gulbransson, dem wir am Ausgang begegneten. Der lustige, muskulöse Eskimo war tränenüberschwemmt. 'Ich habe mich noch nicht abgetrocknet', sagte er entschuldigend, und wir standen noch lange mit feuchten Augen in einfältiger Gelöstheit beieinander. Das Kino ist der Ort der Gefühle. Thomas Mann hat Bambi zweimal gesehen, war jedes Mal ergriffen. Was hätte er nur zu den Filmen von Terrence Malick gesagt? Hätte er mit dieser poetischen Bildsprache etwas anfangen können? Ich kann mit Bambi nicht so viel anfangen (es gibt dazu ➱hier einen kurzen Post), heute fällt mir dazu immer der ➱Kurzfilm Bambi Meets Godzilla ein.

Es wird nach einem happy end im Film jewöhnlich abjeblendt, wusste schon Kurt Tucholsky. Der Film ist zuende, das Leben geht weiter. Aber manche Filme bleiben in unserem Kopf, Kopfkino. Manche Bilder werden wir nicht mehr los. Das gilt natürlich besonders für die Filme von Terrence Malick, die Kritiker als cinematic poetry beschrieben haben. Malick is the modern American cinema's great poet-philosopher, whose images, painstakingly perfectionist in their historical accuracy yet imbued with the timelessness of myth, speak of a fascination with - and perhaps, faith in - the transcendent, hat Geoff Andrew in seinem Buch The Director's Vision gesagt. Malick wird heute siebzig, und das wäre für diesen Blogger eine schöne Gelegenheit, über seine Filme zu schreiben. Jedoch - Sie ahnen es schon: das habe ich längst getan. Vor genau drei Jahren gab es ➱hier schon einen Post zu dem Regisseur.

Da bleibt mir nur, Happy Birthday zu sagen. Vielleicht mit einem schönen Kino-Gedicht? Nicht das ➱Danach von Tucholsky, es soll schon etwas Poetisches sein für den Poeten des Kinos Terrence Malick. Und so habe ich mir von Jürgen Theobaldy Das alte Kino (aus seinem Gedichtband 24 Stunden offen, 2006) ausgesucht. Um diesen deutschen Dichter, der gleichzeitig mit Rolf Dieter Brinkmann die Bühne der Literatur betrat, ist es ein wenig still geworden. Aber er schreibt noch immer. Sein erster Gedichtband hatte auch etwas mit dem Kino zu tun, er hieß Sperrsitz. Erschien im gleichen Jahr, in dem Malick seinen Film Badlands präsentierteHans Christoph Buch hat Jürgen Theobaldy als ein im Verborgenen blühendes Talent bezeichnet und beklagt, dass dieser deutsche Schriftsteller viel zu wenig gewürdigt werde. In diesem Blog tun wir natürlich etwas dagegen, hier werden Dichter immer gewürdigt. Auch die Poeten des Kinos. Wie Terrence Malick. Man muss die wenigen Dichter, die wir noch haben, hegen und pflegen. Wo gerade mit Hans-Jürgen Heise einer der bedeutendsten deutschen Dichter der Gegenwart gestorben ist. Zwar haben wir heute poetry slams bis zum Abwinken, aber keine wirklichen Dichter. Wo wir doch das Volk der Dichter und Denker sind. Was bleibet aber, stiften die Dichter, sagt ➱Hölderlin. Und wer wollte ihm da widersprechen?








Das alte Kino,

in dem du deine ersten Filme sahst,
wird einem Supermarkt von Aldi weichen.
Das Fenster vor der Kasse ist verrammelt,
den Saal von einst, noch gibt es ihn,
und eben schmeißt der Kerl in Blau
den Pressluftbohrer an.

Zwei letzte Kinogeher drehen ab
und kommen dir entgegen Arm in Arm.
Auch du drehst ab, um deiner ersten Frau,
ihr, die doch gestorben ist, zu folgen,
auf dem schiefen Trottoir dort,
den Schienen nach der Straßenbahn,
bis sie innehält, sich umdreht und dich
mit ihrem Blick, wie leicht befremdet, streift.

Das alte Kino hätte es für immer geben
sollen,
für immer dieses Fenster auf die Welt hinaus,
die nirgends mehr versprach als hier,
am Rand des dunkelroten Vorhangs,
und wenn du nach den Bildern greifen wolltest,
ergriff dein Schatten dich.

Und du sagst du und nicht mehr: ich,
vielleicht weil du der Nächste bist,
der sich entfernen wird, wie hieß es einst?
Es hieß: Auf Nimmerwiedersehn. Und einst?
Das Einst, dem du dich nähern wirst,
dich näherst, als werde es dereinst das Jetzt.

Donnerstag, 28. November 2013

Robert Graves


Robert (von Ranke) Graves, der uns letztens in dem Post ➱Aktmalerei begegnete, ist ein englischer Dichter gewesen. Den Namenszusatz von Ranke hat er in vielen Nachschlagewerken, seine Mutter war eine Großnichte des berühmten deutschen Historikers. Von seinen Gedichten hätte er nicht leben können, aber er hat eine Vielzahl von Büchern geschrieben, die zu Bestsellern wurden. Wie zum Beispiel den historische Roman I, Claudius (hier Derek Jacobi in der BBC Verfilmung). Seine Einführung in die Götterwelt der Griechen, The Greek Myths, bleibt unübertroffen. Ich habe das Buch schon in dem Post ➱Heldensagen erwähnt, ein Post, der zu meiner großen Überraschung x-tausend Leser gefunden hat. Ist die Antike wieder in?

Seine Autobiographie über seine Jugend, seine Familie und den Ersten Weltkrieg mit dem Titel Goodbye to all that zählt für mich zu den eindrucksvollsten Büchern, die der Krieg hervorgebracht hat. Den der Captain Graves unsentimental und manchmal sehr komisch beschreibt. Wenn man fälschlicherweise für tot erklärt wird und seinen eigenen Nachruf in der Times lesen kann, entwickelt man wahrscheinlich solche Distanz. Das ist meilenweit von ➱Ernst Jüngers Der Kampf als inneres Erlebnis entfernt. Das Buch wäre immer noch uneingeschränkt meine Leseempfehlung. Nicht jeder wäre dieser Meinung. Graves' Vater (a minor Irish poet) war über das Buch so erzürnt, dass er als Antwort 1930 eine eigene Autobiographie To Return to All That schrieb.

Im Jahre 1962 (damals war Graves sogar auf der Liste der Nobelpreis Jury) hat W. H. Auden Robert Graves England's greatest living poet genannt. Professional compliments are always pleasing, wie Doc Boone in ➱Stagecoach sagt. Aber sein Lebenswerk ist schon eindrucksvoll: über 140 Bücher, davon fünfundfünzig Gedichtbände (die er immer wieder überarbeitet hat). Dazu kommen fünfzehn Romane, zehn Übersetzungen und vierzig Bände Essays und autobiographische Skizzen. Robert Graves war zweimal verheiratet, und er hatte eine lebenslange Affäre mit der Schriftstellerin Laura Riding. Wir können davon ausgehen, dass er die Frauen kennt. Er hat auch neben seinen vielen Büchern über die Antike schöne Liebesgedichte (die Liebe ist beinahe monoman das Hauptthema seiner Lyrik) und wunderbar witzige Gedichte über das Zusammenleben von Mann und Frau geschrieben. Die ein bisschen mehr nach John Betjeman klingen als nach dem Verfasser von The White Goddess. The deep melancholy and almost neurotic sense of fear and anxiety in much of his poetry is counterbalanced by a robust and irreverent sense of humour, sometimes bawdy, and by moments of very pure lyrical tenderness, schreibt der schottische Dichter George Sutherland Fraser in David Daiches' unübertroffenem Penguin Companion to English Literature.

Ich zitiere als Beispiel für diesen Humor mal eben den ➱Anfang von A Slice of Wedding Cake (Sie könnten ➱hier auch noch Beauty in Trouble lesen, dann bekommen Sie einen schönen Eindruck):

Why have such scores of lovely, gifted girls
Married impossible men?
Simple self-sacrifice may be ruled out,
And missionary endeavour, nine times out of ten.


Obgleich Robert Graves dichterisches Werk zur Moderne gehört, ist er in vielem sehr traditionell. Manchmal ist man bei all den Experimenten der Moderne ja geradezu glücklich, in einem Gedicht Reim und Versmaß wiederzufinden. Wie zu Beispiel in The Naked And The Nude. Das Gedicht erschien ein Jahr nach Kenneth Clarks Buch The Nude im New Yorker, und es scheint eins der  Gedichte von Graves gewesen zu sein, das er selbst am meisten schätzte. Es scheint auch im anglo-amerikanischen Bereich ein Lieblingsgedicht von Lehrern zu sein, davon zeugt eine Vielzahl von Kommentaren im Internet. Viele Literaturwissenschaftler sind der Meinung, dass Graves das Gedicht nicht geschrieben hätte, wenn er Kenneth Clarks The Nude: A Study of Ideal Art nicht gelesen hätte. Manche Wissenschaftler sind allerdings der Meinung, dass das Gedicht eine Reaktion auf den Artikel The Naked and the Nude (1910) des Malers ➱Walter Sickert ist (zu Sickert gibt es ➱hier einen Post). Aber bis auf den gleichen Titel gibt es da nicht viel Ähnlichkeiten.

Dass Graves' Gedicht eine Art Antwort auf Kenneth Clark ist, kann man leicht erkennen, denn die erste Strophe des Gedichts erscheint wie eine Replik auf ein Zitat von Kenneth Clark, wenn der den Begriff the nude gleich im ersten Absatz seines Buches definiert: The English language, with its elaborate generosity, distinguishes between the naked and the nude. To be naked is to be deprived of our clothes, and the word implies some of the embarrassment most of us feel in that condition. The word “nude,” on the other hand, carries, in educated usage, no uncomfortable overtone. The vague image it projects into the mind is not of a huddled and defenseless body, but of a balanced, prosperous, and confident body: the body re-formed. In fact, the word was forced into our vocabulary by critics of the early eighteenth century to persuade the artless islanders that, in countries where painting and sculpture were practiced and valued as they should be, the naked human body was the central subject of art.

Dem antwortet Robert Graves mit sechs Zeilen:

The Naked And The Nude

For me, the naked and the nude
(By lexicographers construed
As synonyms that should express
The same deficiency of dress
Or shelter) stand as wide apart
As love from lies, or truth from art.

Und weil das Gedicht so schön ist, serviere ich hier noch einmal den Rest:

Lovers without reproach will gaze
On bodies naked and ablaze;
The Hippocratic eye will see
In nakedness, anatomy;
And naked shines the Goddess when
She mounts her lion among men.

The nude are bold, the nude are sly
To hold each treasonable eye.
While draping by a showman's trick
Their dishabille in rhetoric,
They grin a mock-religious grin
Of scorn at those of naked skin.

The naked, therefore, who compete
Against the nude may know defeat;
Yet when they both together tread
The briary pastures of the dead,
By Gorgons with long whips pursued,
How naked go the sometimes nude!

Ich habe mich mal im Netz umgeschaut, ob ich eine Übersetzung diese Gedichts finden konnte. Es gab ja bei Suhrkamp einen Band mit Gedichten von Graves: Das kühle Netz. The Cool Web: Gedichte (der schöne Übersetzungen von Wolfgang Held enthält, leider aber keine von The Naked And The Nude). Und ich weiß auch, dass ➱Wilhelm Lehmann, der im Ersten Weltkrieg in die englische Kriegsgefangenschaft desertierte, von Graves beeinflusst war und einige Gedichte von ihm übersetzt hat. Und das, was Graves zur Dichtung gesagt hat, sehr genau gelesen hat. Aber das Treffen mit Graves in London (lesen Sie ➱hier mehr), das ➱Michael Hamburger arrangiert hatte, war für Lehmann eine große Enttäuschung. Eine Übersetzung von The Naked And The Nude habe ich doch im Internet gefunden. Und zwar auf der Seite eines gewissen Bryant McGill (a Best-Selling Author, Speaker and Activist in the Fields of Self-Development, Personal Freedom and Human Rights), der angeblich auch ein Dichter ist.

Ich lasse mal alle Übersetzungstheorien draußen vor (wenn Sie irgendwo noch ein Exemplar von ➱Fritz Güttingers Zielsprache finden, kaufen Sie es!) und mokiere mich auch nicht über Google Translate. Aber das auf der Seite von Bryant McGill ist eine Übersetzung, die so schreiend komisch ist, dass ich sie hier unbedingt abdrucken muss. Die Komik beginnt damit, dass Robert Graves in Robert Gräber eingedeutscht wird. Und der Gedichttitel heißt dann Das Blanke Und Der Nude:

Für mich, den blanken und nude (durch die Lexikographen analysiert als 
Synonyme, die den gleichen Mangel des Kleides oder des Schutz  
ausdrücken sollten), Standplatz wie weit auseinander als Liebe von 
den Lügen oder von der Wahrheit von der kunst. 
Geliebte ohne Vorwurf starren die blanken Körper und in Flammen an; 
Das hippokratische Auge sieht in Nacktheit, Anatomie; Und blanke 
Shines die Göttin, wenn sie ihren Löwe unter Männern anbringt. 
Der Nude sind fett, der Nude sind schlau, jedes treasonable Auge zu 
halten. Beim Drapieren durch den Trick eines Showmans ihres dishabille 
in der Rhetorik, grinsen sie ein verspotten-frommes Grinsen von 
verachten an denen der blanken Haut. 
Das blanke folglich das gegen den Nude konkurrieren, kann Niederlage 
kennen; Dennoch wenn sie beide zusammen sind die briary Weiden der 
Toten treten, durch Gorgons mit den langen ausgeübten Peitschen, wie 
blank der einmal Nude gehen! 

Ist dies das Werk von Mensch oder Maschine? Da kann man doch nur ein Gedicht von Vladimir Nabokov zitieren, das von seinen Schwierigkeiten mit der Übersetzung von Puschkin handelt. Es heißt On Translating Eugene Onegin:

What is translation? On a platter
A poet's pale and glaring head,
A parrot's screech, a monkey's chatter,
And profanation of the dead.
The parasites you were so hard on
Are pardoned if I have your pardon,
O Pushkin, for my stratagem.
I travelled down your secret stem,
And reached the root, and fed upon it;
Then, in a language newly learned,
I grew another stalk and turned
Your stanza, patterned on a sonnet,
Into my honest roadside prose—
All thorn, but cousin to your rose.

Robert Graves hat selbst sehr viel übersetzt, von Homer bis zu dem Rubaiyya't von Omar Khayyam. Und man kann immer nur dankbar sein, wenn ein feinfühliger Dichter einen Kollegen aus einer fremden Kultur in die eigene transferiert. In der Dichtung sind wir nicht bereit, das zu akzeptieren, was uns in den Bedienungsanleitungen japanischer Elektrogeräte geboten wird: A parrot's screech, a monkey's chatter, And profanation of the dead. Denn, wie der amerikanische Dichter und Übersetzer Willis Barnstone in seinem immens lesenswerten ➱ABC of Translating Poetry sagt: A translation is a friendship between poets. There is a mystical union between them based on love and art. As in ordinary religious mysticism, the problem of ineffability exists: how do you find words to say the unsayable? Since a vision cannot be replicated, you seek equivalents for the other. 


Es gibt im Internet eine Seite der Robert Graves Organisation, die viele Materialien enthält. Der Band Das kühle Netz. The Cool Web: Gedichte, zweisprachig (mit den Übersetzungen von Wolfgang Held) ist bei Suhrkamp lieferbar

Dienstag, 26. November 2013

Die Schöne Müllerin (Prolegomena)


Ich hatte in dem Post ➱Tränenregen versprochen, dass da noch mehr zu Schuberts Schöner Müllerin kommt. Ich hätte das heute natürlich auch Vorbemerkungen nennen können, aber mir gefiel dieses schöne Wort Prolegomena so gut. Manche Wörter verschwinden ja aus dem Sprachgebrauch, nur weil sie nicht häufig genug gebraucht werden. Für meine Prolegomena springen wir einmal ein halbes Jahrhundert zurück, in die Zeit der Adenauer Republik, die Zeit des Wirtschaftswunders. Als das Fernsehen noch in den Kinderschuhen steckte, aber Radio für die Bildung noch eine große Rolle spielte. Und man sehr viel klassische Musik im Radio hören konnte. Dafür hat man heute sogenannte Spartensender, die Klassik Radio oder ähnlich heißen. Damals gab es noch so schöne Sendungen, die Herr Sanders öffnet seinen Schallplattenschrank hießen, und Karl-Heinz Wocker tat beim NWDR und später beim WDR viel für die musikalische Bildung. Und den Chefdirigenten des NDR Symphonieorchesters Hans Schmidt-Isserstedt kannte jeder im Norden.

Damals hatte man noch Musiktruhen, ein Möbel, das heute nicht mehr so verbreitet ist, das aber in der Wirtschaftswunderzeit in beinahe jedem Haushalt war. Truhen bergen bekanntlich Schätze, und sicher war die Musik ein Schatz, den es zu entdecken galt. Unsere Musiktruhe zuhause hatte nicht nur einen Plattenspieler, sondern einen Plattenwechsler. Bei diesem Wort wenden sich HiFi- und High End Freaks heute mit Schaudern ab. Dann war da noch das Grundig Radio mit dem magischen Auge. Das grüne Licht diente zur Feineinstellung für die Sender. Das war sozusagen state of the art. Heute lächelt man darüber.

Heute kann man sich mit einem Klick bei Amazon beinahe alle Aufnahmen der Schönen Müllerin kaufen - nur die von ➱Hans Peter Blochwitz nicht. In den fünfziger Jahren gab es natürlich noch keine Personal Computer und kein Amazon oder jpc, aber es gab noch richtige Fachgeschäfte mit fachkundigen Verkäufern. Und schalldichte Hörkabinen zum Probehören, der Kauf einer Langspielplatte wollte sorgfältig überlegt sein. Viele Verkäufer kannten den Bielefelder Katalog auswendig (gut, das ist jetzt etwas übertrieben), man folgte als Kunde in der Zeit der geschmacksunsicheren Adenauer Republik gerne ihren Vorschlägen. Im Zweifelsfall kaufte man die Aufnahmen der Deutschen Grammophon oder orientierte sich an Christoph Eckes Ewiger Vorrat klassischer Musik auf Langspielplatten (in drei Bänden bei Rowohlt erschienen). Wo damals Petre Munteanu (mit Franz Holetschek), Ernst Haefliger (mit Yvonne Jacqueline Bonneau) und Peter Pears (mit ➱Benjamin Britten) empfohlen wurden. Die Musiklehrer der Schule spielten (auf jeden Fall für mich. Ich habe meine Musiklehrer in dem Post ➱Die Harmonie der Welt sicherlich nicht unfair beschrieben) bei der Geschmacksbildung in der klassischen Musik so gut wie keine Rolle. Das ist eigentlich eine erstaunliche Sache. Es war auch nicht daran zu denken, dass Schuberts Liederzyklen im Unterricht behandelt wurden. Was wieder einmal Senecas Satz Non vitae, sed scholae discimus bestätigte.

Es gab damals noch nicht so viele Aufnahmen der Schönen Müllerin auf dem Markt. Vielleicht ist ein Blick auf die Statistik auf der Seite von ➱Huib Spoorenberg ganz aufschlussreich, aus der man die ständig wachsenden Zahlen der Aufnahmen ablesen kann:

1950-1959: 16
1960-1969: 11
1970-1979: 25
1980-1989: 29
1990-1999: 56
2000-2009: 56

In dem Jahrzehnt von 2000 bis 2009 gibt es also mehr Aufnahmen von der Schönen Müllerin als in den dreißig Jahren von 1950 bis 1980. Das ist eine erstaunliche Entwicklung! Ist uns der Liedzyklus plötzlich so ans Herz gewachsen?

Kaum hatte ich meinen ersten eigenen Plattenspieler (dem habe ich schon in dem Post ➱Schneewittchensarg ein kleines Denkmal gesetzt), da besaß ich Aufnahmen von Der Winterreise und der Schönen Müllerin. Natürlich beide von Fischer-Dieskau mit Gerald Moore am Klavier. Dies waren die fünfziger Jahre, da hörte man nichts anderes. Auch wenn bei mir manchmal ein etwas ironischer Ton mitschwingt, wenn ich ➱Fischer-Dieskau erwähne, er hat meinen großen Respekt. Ich besitze auch viel von ihm, auch diesen dicken Packen Salzburger Liederabende von Orfeo d'Or. Dass ich seine Othmar Schoeck Aufnahmen schätze, habe ich ➱hier schon einmal gesagt. Fischer-Dieskaus Aufnahme von 1961 war bei der EMI erschienen und war in Stereo aufgenommen. Das war schön zu wissen, aber mein Braun Schneewittchensarg war eh nur für Mono gut. Was eine wirklich gute High-End Anlage eines Tages an Klang bieten würde, das konnte damals niemand ahnen. Das gilt jetzt nicht nur für Compact Discs. Auch Schallplatten (die ja irgendwie wieder im Kommen sind) bieten auf einer guten Anlage viel.

Die Platte mit Fritz Wunderlichs Aufnahme von 1957 (das Label hieß Baccarola oder ähnlich, die Platte ist längst entsorgt, wurde zu häufig gespielt) bekam ich von einem Freund geschenkt, der schon früh dem Wunderlich Kult huldigte. Ein Kult, der durch Wunderlichs unzeitigen Tod nur noch mehr Anhänger gewann. Denen man allerdings niemals mit Liedern wie Es steht ein Soldat am Wolgastrand oder Tiritomba kommen durfte, die Wunderlich (offensichtlich mit großem Genuss) auch im Repertoire hatte. In den letzten Jahren ist der Wunderlich Mythos auch aus kommerziellen Interessen weiter geschürt worden. Die Deutsche Grammophon, Haenssler und Orfeo d'or finden immer noch eine vergessene Aufnahme. Nicht alles, was noch auf den Bändern war, hätte man auf CD pressen müssen. Aber sei's drum, die beiden Aufnahmen der Schönen Müllerin von ihm kommen immer auf meine Bestenliste. Es gibt im Netz eine sehr interessante Wunderlich ➱Seite mit mehreren englischen Rezensionen der Aufnahme von 1957 (die ja nicht unter idealen Bedingungen entstanden ist), die einen leicht bewegen können, die erste Aufnahme zu kaufen. Zumal die Sony CD keine fünf Euro kostet.

Ich bekam dann irgendwann in den frühen sechziger Jahren von Verwandten eine Aufnahme von ➱Rudolf Schock geschenkt (bei der Electrola erschienen, mit Gerald Moore am Klavier), die mich aber nicht begeisterte, weil ich eine Antipathie gegen ihn hatte. Jedermann mochte damals Rudolf Schock, ich wollte nicht jedermann sein. Ich habe etwas gebraucht, um die Qualitäten dieses deutschen Tenors zu erkennen, ich hoffe, ich habe das inzwischen in dem Post ➱Rudolf Schock deutlich gemacht. Dass dieser Post von tausenden von Lesern angeklickt wurde, zeigt, dass Rudolf Schock heute immer noch seine Verehrer hat. Ich habe die Platte gerade noch einmal auf meinen alten Rotel RP 855 aufgelegt. Dafür dass sie vor einem halben Jahrhundert aufgenommen wurde (immerhin schon in Stereo), sind Klang und Aussteuerung hervorragend. Man kann diese Müllerin durchaus hören, aber man merkt auch, dassdies nicht wirklich seine Sache ist. Hier ist ein Opern- und Operettensänger, der viel zu viel Stimme für den romantischen liebeskranken Müllerburschen hat. Vielleicht haben das die Hörer damals anders empfunden, zu diesem Punkt hätte ich ➱hier (in dem hervorragenden holländischen Rudolf Schock Blog) eine Seite mit Publikumsreaktionen. Dennoch ist es eine respektable Aufnahme. Man hat das Gefühl, als wolle Schock der Welt von Schmalz, Schnulze, Film und Operette entkommen und zeigen, dass er auch ein seriöser Liedsänger kein kann. Sie können ➱hier eine Probe davon hören.

Ich hätte jetzt beinahe eine Aufnahme vergessen. Doch ein Blick ins Schallplattenregal belehrte mich, dass ich doch noch eine LP aus den sechziger Jahren besitze. Ich habe die Platte damals gut weggepackt und nicht so häufig gespielt. Damit sie sich nicht abnutzt. Denn eigentlich ist sie ein Juwel. Sieht nach nichts aus. Sastruphon (eine Unterabteilung von Da Camera), das klingt nach Billiglabel. Sieht auch so aus, quietschegelb, grauenhaftes Design. Was das Bild von Goya mit der deutschen Romantik zu tun hat, weiß ich bis heute nicht. Stereo - auch Mono abspielbar steht auf dem Cover. Man glaubt es nicht, das ist wirklich wahr, der Klang ist erstklassig.

Die Interpreten - der Tenor Werner Krenn und der Pianist Rudolf Buchbinder - sind es auch. Sie sind beide noch sehr jung, Buchbinder ist einundzwanzig, Krenn vierundzwanzig (mit neunzehn hatte er die Müllerin angeblich schon einmal für das deutsche Fernsehen aufgenommen). Was ist das nur für eine schöne Stimme! Kein Wunder, dass er für einen kurzen Augenblick als Nachfolger Fritz Wunderlichs gehandelt wurde. Aus der Hand seines Idols hatte Krenn 1966 beim Internationalen Opernwettbewerb im Wiener Konzerthaus den Preis für den Drittplazierten in Empfang nehmen können. Wenig später hat ihn Herbert von Karajan verpflichtet. Der sagte ihm beim Vorsingen: Singen Sie so laut und so leise, wie Sie können! und engagierte ihn nach wenigen Minuten. Im Internet findet sich nicht so viel zu Werner Krenn. Es sei denn, man liest im Blog Silvae den Post ➱La clemenza di Tito. Der englische Musikkritiker Alan Blyth schrieb über Krenns Schöne MüllerinWerner Krenn's 1967 record is certainly simple, unforced and musical with 6 beautifully sung, the questionings at the end of 12 very eloquent, and 18 touchingly plangent, but 11 is an anaemic affirmation of loving possession and in general the approach is withdrawn to the point of anonymity. Die Engländer, die für Gramophone schreiben, sind ja immer so zurückhaltend. Ein wenig mehr Begeisterung wäre angebracht gewesen. Leider ist die Aufnahme nie von der Schallplatte (die man mit Glück noch finden kann) auf die CD gewandert. Ist natürlich nicht bei YouTube, aber wenn sie wollen, können Sie ➱hier ein Schubert Lied von ihm hören.

Dieser Herr ist Österreicher wie Werner Krenn. Er ist aber nicht als Sänger der Schönen Müllerin berühmt geworden. Das ist Viktor Lederer, der jahrelang in unserer Fußballmannschaft mitgespielt hat. Er war kein Anglist wie wir anderen, er sang an der Kieler Oper. Er hatte einen Doktortitel (juris) und den Titel Kammersänger und brachte das gesamte Opernrepertoire mit auf den Platz: Wie konntest Du mich foulen, Du weißt doch, dass ich heute Abend noch den Cavaradossi singen muss! Ich erwähne Viktor aus dem Grunde, weil er vor Jahren auf einer Feier (bei der natürlich die halbe alte Fußballmannschaft zugegen war) ein Lied von Schubert gesungen hat. Er war vom Gastgeber dazu genötigt worden und sang den Lindenbaum aus der Winterreise. A capella. Sein Bariton war schon ein wenig brüchig, wir waren alle nicht mehr jung. Viktor hat in fünfunddreißig Jahren über dreitausend Mal auf der Bühne gestanden, jetzt war er Pensionär wie wir alle. Und dennoch, da war plötzlich diese Magie von Schubert, die einen packte. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte er in der Nacht die ganze Winterreise singen können, während draußen in der Nacht die Schiffe auf der dunklen Förde vorüberglitten.

Wer soll die Schubertschen Liedzyklen singen? Schubert hat die Müllerin einem Carl Freiherr von Schönstein gewidmet. Der war kein professioneller Sänger, der Tenor-Bariton war ein begabter Amateur. Franz Liszt hat Schönstein 1838 gehört und schrieb: In den Salons hörte ich mit lebhafter Freude und oft bis zu Tränen gerührt einen Kunstliebhaber, den Baron von Schönstein, die Lieder von Schubert vortragen und sprach von der Musik Schuberts, des poetischsten Musikers, der je gelebt hat. Im französischen Original heißt es: Le baron Schönstein les diclame avec la science d'un grand artiste et les chante avec la sensibiliti simple d'un amateur, qui se laisse aller à ses émotions, sans se preoccuper du public. Kann man aus dieser Zueignung Schuberts folgern, dass der Komponist nicht wollte, dass Opernsänger seine Liedzyklen singen? Den ganzen Zyklus wird Schubert nicht aufgeführt gesehen haben, erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts sind einzelne Aufführungen (alle von Baritonen) belegt. Es ist aber anzunehmen, dass neben dem Widmungsträger Carl von Schönstein Schuberts Freund und Lieblingssänger Johann Michael Vogl Teile der Müllerin zu Lebzeiten Schuberts dargeboten hat.

In dem Booklet zu seiner CD An Dich hab ich gedacht: Hannes Wader singt Schubert sagt Hannes Wader einige interessante Dinge zu Schuberts Liedern: Seine Lieder üben auf mich einen Zauber aus, den ich nicht erklären kann. Und zwar nicht wegen, sondern trotz der herkömmlichen Art, in der die Sänger - so sehr ich ihr Können bewundere - Schuberts Lieder interpretiert haben. Ich meine sogar: Schuberts Lieder sind auf eine ebenfalls unerklärliche und so zauberische Weise unsingbar... Vielleicht, weil die Lieder für den Interpreten voller Fallen stecken. Sie sind musikalisch äußerst anspruchsvoll gebaut. Bei oft opulenter Klavierbegleitung täuschen sie gleichzeitig eine Bescheidenheit in der Melodieführung vor, die den schon erwähnten schlichten, volksliedhaften Ton fordert. Den der Profi gerade aufgrund seiner Ausbildung nicht mehr zur Verfügung hat. Ideal, so könnte ich mir denken, wären Stimmen, wie die der evangelischen Pastoren, die ich in meiner Kindheit in der Kirche habe singen hören. Klar und kräftig, aber nicht groß....

An diesem Gedanken ist etwas daran. Er trifft sich vielleicht mit der sensibiliti simple d'un amateur, qui se laisse aller à ses émotions, von der Liszt sprach. Hannes Wader hat sich seine Gedanken gemacht, die gar nicht so dumm sind. Das geht aber nicht so weit wie Fischer-Dieskau, der neben seiner Tätigkeit als Sänger auch immer Schriftsteller gewesen ist. 1974 veröffentlichte er sein Buch Auf den Spuren der Schubert-Lieder: Werden, Wesen, Wirkung. Das mit dem Wort Wesen im Titel muss wohl sein, wir sind deutsch. Fischer-Dieskau nennt das der Schönen Müllerin gewidmete Kapitel Die Liedernovelle, das ist ein Titel, der mir gefällt.

Hannes Wader, der die Stimmen von Fritz Wunderlich und Joseph Schmidt liebt, hat für seine Schubert Aufnahme sogar ein Jahr lang Unterricht genommen. Aber er wollte keine professionellen Liedsänger nachahmen: Ich habe nur versucht, die Stücke nicht wie Schubert-Lieder zu singen, sondern so wie meine eigenen. Das hört sich leichter an, als es in Wirklichkeit war. Ich habe zwanzig Jahre gebraucht, um mich vom Vorbild der anerkannten Schubert-Interpreten zu lösen. Es gab ja keine anderen Muster... Die Einfachheit, mit der Wader an die auf unerklärliche und so zauberische Weise unsingbaren Lieder herangeht, ist also eine studierte Einfachheit. Schubert einfach zu singen, geht offensichtlich nicht mehr. Doch das Paradies ist verriegelt und der Cherub hinter uns; wir müssen die Reise um die Welt machen, und sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist, heißt es in Heinrich von Kleists Marionettentheater

Aber das Beispiel von Hannes Wader (hören Sie zum Schluss einmal ➱hier hinein) sollte Mut machen, dass andere Sänger das auch hinbekommen. Noch immer hat er unter den Liedermachern die schönste Stimme – mit leisem Belcanto-Zittern. Ach, wenn er doch auch Schubertlieder sänge. (Bei Freunden, ganz privat, kann es schon mal vorkommen, daß er plötzlich singt „Fremd bin ich eingezogen/ fremd zieh ich wieder aus“), schrieb Elke Heidenreich 1985 in der Zeit. Manchmal wünschte ich, er hätte den ganzen Zyklus gesungen. Gleichgültig, wie man zu Wader steht, wird man aber zugestehen müssen, dass er Schuberts Lieder einem großem Publikum vermittelt hat, die sonst niemals auf die Idee gekommen wären, diese Lieder der deutschen Romantik zu hören. Und die mit der Schönen Müllerin vielleicht nur diesen deutschen Heimatfilm verbanden.

Dies geht irgendwann, wie schon einmal gesagt, mit Die schöne Müllerin (Helle Stimmen) und Die schöne Müllerin (Fremde Zungen) weiter.

Sonntag, 24. November 2013

Trismegistus


That of all the several ways of beginning a book which are now in practice throughout the known world, I am confident my own way of doing it is the best——I’m sure it is the most religious——for I begin with writing the first sentence——and trusting to Almighty God for the second. Das wäre ein schöner Romananfang. Aber der Autor beginnt sein Buch nicht mit diesen Worten, die finden sich erst im zweiten Kapitel des achten Buches. Unser Autor mit dem Hang zur Weitschweifigkeit beginnt seinen Roman so:

Ich wollte, mein Vater oder auch meine Mutter, oder eigentlich beide – denn es wäre wirklich Beider Pflicht und Schuldigkeit gewesen – hätten sich ordentlich zu Gemüthe geführt, was sie thun wollten, als sie mich zeugten. Hätten sie sich gehörig vor Augen gestellt, wie viel von dem abhänge, was sie gerade thaten, daß es sich nicht nur um die Erschaffung eines vernünftigen Wesens handle, sondern daß möglicherweise die glückliche Bildung und Beschaffenheit seines Leibes, vielleicht auch sein Geist und das eigenthümliche Gepräge seines Gemüthes und sogar – sie wußten wenigstens das Gegentheil nicht – das Glück seines ganzen Hauses von den Launen und Stimmungen beeinflußt werden konnten, die in dem Momente gerade die maßgebenden waren, hätten sie das Alles gehörig erwogen und überlegt und demgemäß auch gehandelt, so bin ich lebhaft überzeugt, daß ich eine ganz andere Figur in der Welt gespielt haben würde, als diejenige ist, in welcher mich der geneigte Leser vermuthlich erblicken wird. Ja ihr lieben Leute, glaubt mir nur, diese Sache ist nicht so unerheblich, als Manche von euch glauben mögen. Ihr habt wol alle davon gehört, wie die thierischen Regungen vom Vater auf den Sohn übertragen werden u. s. w. und noch vieles Andere in dieser Richtung. 

Nun gut, ich kann euch mein Wort daraufgeben: neun Zehntel von eines Mannes Vernunft oder Unvernunft, von seinen Erfolgen und Mißerfolgen in dieser Welt hängen von seiner Bewegung und Thätigkeit, von den verschiedenen Spuren und Geleisen, in die man sie bringt, ab, so daß, wenn sie einmal im Gange sind, – gleichviel ob auf gutem oder schlechtem Wege, darum gebe ich keinen Groschen –, sie dahin poltern wie ein Verrückter. Indem sie aber immer wieder denselben Weg treten, machen sie am Ende eine so ebene und glatte Straße daraus wie ein Gartenpfad, und wenn sie einmal daran gewöhnt sind, bringt sie der Teufel selbst oft nicht mehr daraus.
     Höre, Alter, sagte meine Mutter, hast du nicht vergessen die Uhr aufzuziehen? – Ach du meine Güte! rief mein Vater ungeduldig, gab sich jedoch zugleich Mühe, seine Stimme zu mäßigen, – hat seit Erschaffung der Welt eine Frau ihren Mann jemals mit einer so dummen Frage unterbrochen? – Was sagte denn Ihr Herr Vater vorher? – O Nichts.

Hier redet jemand mit dem Leser. Mit uns. In der Hoffnung, dass wir ihn lieb gewinnen: I have undertaken, you see, to write not only my life, but my opinions also; hoping and expecting that your knowledge of my character, and of what kind of a mortal I am, by the one, would give you a better relish for the other: As you proceed further with me, the slight acquaintance which is now beginning betwixt us, will grow into familiarity; and that, unless one of us is in fault, will terminate in friendship. Er hat viel Zeit, um uns seine Geschichte zu erzählen. Es wird ein langes Zwiegespräch mit dem Leser: Writing, when properly managed, (as you may be sure I think mine is) is but a different name for conversation. Und wir brauchen viel Zeit, um die Geschichte zu lesen. Es gibt keine short cuts zu diesm Roman. Weil der Autor seine Geschichte mit vielen Abschweifungen erzählt, denn schließlich ist er den Überzeugung: Digressions incontestably are the sunshine; they are the life, the soul of reading. Glücklicherweise teilen viele englische Autoren des 18. Jahrhunderts (und ihre Leser) diese Überzeugung.

Trismegistus hätte er heißen sollen, der da gerade gezeugt wird, als Mrs Shandy die Frage stellt Pray my Dear, have you not forgot to wind up the clock? Es ist ein Ritual im Hause für Walter Shandy, am ersten Sonntag des Monats die Standuhr aufziehen und Sex mit der Gattin zu haben. He shall be christened Trismegistus, brother, sagt der Vater zu Onkel Toby. Aber da hat seine Gattin etwas in den falschen Hals gekriegt, der Junge wird vom Pfarrer Yorick (der natürlich von Shakespeares Yorick in Hamlet abstammt) auf den Namen Tristram getauft.

Er ist der Held des Romans The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman, dessen Anfang Sie oben sie oben in der Übersetzung von Adolf Seubert lesen können. Es war diese Übersetzung, die ich zuerst las, weil ich mir vor fünfzig Jahren die Ausgabe in der Reihe von Fischers Exempla Classica gekauft hatte. Dieser Adolf Seubert ist Oberst in der württembergischen Armee gewesen, und ich vermute einmal, dass er Tristram Shandy übersetzt hat, weil darin soviel über den Festungsbau im 18. Jahrhundert steht.

Wahrscheinlich wäre die Übersetzung von Johann Joachim Christoph Bode, Tristram Schandis Leben und Meynungen (Hamburg 1774), besser gewesen. Sie ist im Laufe der Jahrhunderte immer wieder überarbeitet worden, unter anderem von ➱Fritz Güttinger. Wenn man sich heute den Roman in deutscher Übersetzung kauft, sollte man die Übersetzung von Michael Walter bevorzugen, der für seine Leistung mit dem Johann Heinrich Voß Preis ausgezeichnet wurde. Wenn wir ehrlich sind, geht natürlich nichts über das Original. Meinen Band in der Reihe der Exempla Classica habe ich immer noch, aber ich kaufte mir später die englische Everyman Ausgabe. Weil die damals am preisgünstigsten war. Sie ist inzwischen weggeschenkt, denn ich besitze jetzt den Roman in der sogenannten Florida Edition, etwas Besseres gibt es nicht.

Und ja, ich weiß, dass es eine graphic novel von Martin Rowson gibt. Sogar schon auf deutsch. Vergessen Sie es. Read, read, read, read, my unlearned reader! read—or by the knowledge of the great saint Paraleipomenon—I tell you before-hand, you had better throw down the book at once; for without much reading, by which your reverence knows I mean much knowledge, you will no more be able to penetrate the moral of the next marbled page (motley emblem of my work!) than the world with all its sagacity has been able to unravel the many opinions, transactions, and truths which still lie mystically hid under the dark veil of the black one. Und damit wir auch wissen wie the next marbled page aussieht, gibt es in der Originalausgabe natürlich diese Abbildung (in der Penguin Ausgabe der Florida Edition ist sie leider nur schwarzweiß). Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung, alles ist in diesem Buch enthalten.

Laurence Sterne, der Autor des wunderbaren Werkes, über das Arno Schmidt sagte, daß es zu den zehn größten Büchern gehöre, die bisher in englischer Sprache geschrieben worden sind, wurde heute vor dreihundert Jahren geboren. Seine Schriften fanden in Deutschland Bewunderer und  Nachahmer, oder, wie Jean Paul (der von allen Sterne am nächsten kommt) so schön boshaft sagte: Als man Sterne in Deutschland zuerst ausschiffte, zog er hinter sich einen langen wässerigen Kometenschweif damals sogenannter (jetzo ungenannter) Humoristen, welche nichts waren als Ausplauderer lustiger Selbstbehaglichkeit.

Ich weiß nicht, aus welchen Gründen Heinrich Heine Jean Paul nicht mochte, denn er sagt im fünften Kapitel von Die romantische SchuleWie Lorenz Sterne, hat auch Jean Paul in seinen Schriften seine Persönlichkeit preisgegeben, er hat sich ebenfalls in menschlichster Blöße gezeigt, aber doch mit einer gewissen unbeholfenen Scheu, besonders in geschlechtlicher Hinsicht. Lorenz Sterne zeigt sich dem Publikum ganz entkleidet, er ist ganz nackt; Jean Paul hingegen hat nur Löcher in der Hose. Mit Unrecht glauben einige Kritiker, Jean Paul habe mehr wahres Gefühl besessen als Sterne, weil dieser, sobald der Gegenstand, den er behandelt, eine tragische Höhe erreicht, plötzlich in den scherzhaftesten lachendsten Ton überspringt; statt daß Jean Paul, wenn der Spaß nur im mindesten ernsthaft wird, allmählich zu flennen beginnt und ruhig seine Tränendrüsen austräufen läßt. Nein, Sterne fühlte vielleicht noch tiefer als Jean Paul, denn er ist ein größerer Dichter. Dichter können ja so gemein zu ihren Kollegen sein.

Ich kann mich heute sehr kurz fassen. Tristram Shandy bleibt immer eine Leseempfehlung, man sollte sie nicht aufschieben. Meist sagt man angesichts der immer wieder gelobten Werke der Weltliteratur: das lese ich im Alter. Aber das Leben ist jetzt. Und was wäre das Leben, wenn man alles aufschiebt? The desire of knowledge, like the thirst of riches, increases ever with the acquisition of it. Als Leser dieses Blogs sind sie auf die Lektüre von Tristam Shandy gut vorbereitet, denn auch dieser Blogger glaubt daran: Digressions incontestably are the sunshine; they are the life, the soul of reading. Ich kann mich heute auch aus einem anderen Grunde kurz fassen, weil es ➱hier vor drei Jahren schon einen langen Post zu Laurence Sterne gab. Ich musste den damals an seinem Geburtstag schreiben, weil ich nicht wusste, ob ich an seinem dreihundertsten Geburtstag noch Blogger sein würde. Die Empfehlung für den Film A Cock and Bull Story (die Photos auf dieser Seite stammen aus dem Film), die sich in dem Post findet, gilt auch weiterhin. Wunderbar schräg und komisch, richtig shandyesque.

Freitag, 22. November 2013

Benjamin Britten


Heute ist der hundertste Geburtstag des englischen Komponisten Benjamin Britten, in seinem Heimatland wird das natürlich gefeiert. Es gibt im Internet eine Website, die Britten 100 heißt. Und es wird im Vereinigten Königreich sogar eine neue 50 Pence Münze ausgegeben, auf der die Gedichtzeile von Tennyson Blow, bugle, blow, set the wild echoes flying steht, die Britten vertont hat. Doch nicht nur in England, auch in Städten wie Köln oder Leipzig gedenkt man in diesen Tagen des englischen Komponisten.

Kein englischer Tonsetzer des zwanzigsten Jahrhunderts ist beim Publikum so beliebt gewesen wie er. Weder William Walton, noch Michael Tippett oder Malcolm Arnold (der die Musik zu dem Film Die Brücke am Kwai schrieb). Und wahrscheinlich sind die Kompositionen seiner Kollegen niemals so häufig aufgeführt worden wie seine Werke. Auch ist kein englischer Komponist vor ihm je zum Lord ernannt worden. Seinen Adelsnamen hat er sich passend ausgesucht: Baron Britten of Aldeburgh. Denn in Aldeburgh (wo er auch zwanzig Jahre in seinem Red House gewohnt hat) ist das berühmte Musikfestival, das er einst aus der Taufe gehoben hat. Er war nicht immer so unumstritten, in einem Artikel aus dem Jahre 1950 zitiert der Spiegel den Spectator mit den Worten: Britten ist der Dichter der Unreife, was seiner Orchestrierung ein entsprechendes Aroma verleiht. Er läßt sich nicht genügend Zeit, seine Ideen abzuwägen, reifen zu lassen und dann dem Gesamtinhalt des Gedichtes, das er gewählt hat, zu vermählen.

Selbst die englischen Hörer, die der modernen Musik zweifelnd gegenüberstehen, werden an seinen Bearbeitungen englischer Folksongs Gefallen gefunden haben. Und natürlich hat man The Young Person's Guide to the Orchestra immer geliebt (➱hier gibt es eine Aufnahme mit dem WDR Symphonieorchester). Aber sicherlich werden Musikfreunde seine großen Werke wie das ➱War Requiem und seine Opern mehr schätzen. Wobei ich gestehen muss, dass ich mit Peter Grimes nicht so recht etwas anfangen kann, da höre ich als Banause doch eher die Four Sea Interludes als die ganze Oper. Britten selbst schien Zweifel an seinem Werk gehabt zu haben, so sagte er 1944 zu seinem Freund und Lebenspartner Peter Pears My bloody opera stinks & that's all there is to it.

Henry James ist entschieden, was auf englisch ein 'acquired taste' genannt wird, etwas, worauf jeder zuerst mit Widerwillen reagiert, um es nach langer, beharrlicher Selbstüberwindung schließlich doch genießbar zu finden (Beispiele: moderne Musik, Spinat, Frühaufstehen), hat ➱Fritz Güttinger über ➱Henry James gesagt. Ich könnte das auch auf die englische Musik des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts sagen. So sehr ich mich für Gilbert und Sullivan begeistern kann, und so gerne ich bei der Übertragung der ➱Last Night of the Proms Land of Hope and Glory höre, mit Elgar, Delius und Holst habe ich meine Schwierigkeiten.

Da kann ich mich eher mit Benjamin Brittens Oper The Turn of the Screw anfreunden. Wenn Sie sich jetzt fragen, was David Hemmings aus dem ➱Film Blow Up hier soll, habe ich dafür natürlich eine Erklärung. Er war der erste Miles in der Oper 1954. Damals war er dreizehn Jahre alt, Britten war von ihm begeistert. Und so schreibt er, im gleichen Alter wie Thomas Manns Gustav von Aschenbach in Tod in Venedig (ein Text, den Britten auch vertont) in ähnlicher Liebe ergriffen sein dunkles Selbst in die Oper.

Es ist eine Welt von Angst, Depressionen und ständigem Selbstzweifel: It is cruel, you know, that music should be so beautiful. It has the beauty of loneliness of pain: of strength and freedom. The beauty of disappointment and never-satisfied love. The cruel beauty of nature and everlasting beauty of monotony. Von Brittens dunkler Seite kann man hier auf Cecil Beatons Photo von Britten mit dem hochpolierten Steinway nichts spüren. Aber man kann es in seiner Musik hören. Leonard Bernstein sagte über Brittens Musik: It's strange because on the surface his music is decorative, positive, charming and it's so much more than that. When you hear his music, really hear it, not just listen to it, you become aware of something very dark, gears that are grinding and not quite meshing. And they make a great pain. His was a lonely time. Yes, he was at odds with the world in many ways and he didn't show it. Bernstein sagt das am Anfang von Tony Palmers Film A Time There Was, von dem ich leider nur ➱diesen Schnipsel habe.

Es ist eine seltsame Beziehung zwischen dem Dirigenten und seinem jugendlichen Sänger, der Dirigent Charles Mackerras bemerkte dazu: David Hemmings was an extremely good looking young chap and he also very much played up to Ben's obvious adoration of him, and drank it in...Obviously it was a sexual attraction but I'm sure that it was never actually fulfilled. David Hemmings hat später gegenüber John Bridcut (der das Buch Britten's Children geschrieben hat) erklärt: He was not only a father to me, but a friend – and you couldn't have had a better father or a better friend. [...] Everybody asks me whether or not he gave me one, whether or not it was a sexual relationship. The answer to that question, as I have often said, is: no, he did not. In seinem Nachruf auf den Australier Sir Charles Mackerras schrieb der TelegraphThis native Australian bluntness and honesty got him into trouble on occasion, notoriously so when as a young man working at the Aldeburgh Festival, he dared to make a throwaway joke about Benjamin Britten's fondness for young boys. When Britten found out, he banished Mackerras from his kingdom ­ a pity, as Mackerras would prove a superb advocate of his work after Britten's death. Wir lassen die dunkle Seite des Benjamin Britten jetzt mal beseite. Die sexuellen Aberrationen der Exzentriker der englischen upper class sind ja ein unerschöpfliches Thema.

Aber Britten ist kein ➱Jimmy Savile, er setzt seine erotischen Infatuationen der Pädophilie künstlerisch um. Unter Kindern fühlt er sich sicher, dieser hochneurotische und nervöse Musiker, den seine Zeitgenossen immer wieder als schoolboyish beschrieben haben. Es bleibt aber festzuhalten, dass kein Komponist des 20. Jahrhunderts so viel Musik für Kinder geschrieben hat wie dieser Peter Pan der englischen Musik. Ich habe zu dem Thema ➱hier eine schöne Dokumentation der BBC. Diese komplizierten sexual overtones geben der Geschichte The Turn of the Screw natürlich noch eine weitere Dimension. Als ob es zu der Novelle von Henry James nicht schon genug ➱Interpretationen gäbe! Dies ist ein anderer Henry James als wir ihn aus Portrait of a Lady kennen, hier lässt er seinen morbiden Fantasien in einer Gespenstergeschichte freien Lauf, die alle Elemente der Gothic Novel hat. Es ist ein Buch, das wir eher Edgar Allan Poe zuschreiben würden als diesem Oberklassen Amerikaner des fin de siècle.

Das Libretto für die Oper hatte ➱Myfawny Piper (die Gattin des Malers John Piper) geschrieben. Sie war die Muse des Dichters John Betjeman. Mit dem Britten einiges gemeinsam hat. Wo Betjeman Lyrik für jedermann schreiben wollte, wollte Britten Musik für jeden Engländer komponieren: What matters to us now is that people want to use our music. For that, as I see it is our job. To be useful to the living. Myfawny Piper hat beinahe zwanzig Jahre mit Britten zusammengearbeitet und noch die Libretti für Owen Wingrave und Death in Venice für Britten geschrieben. Dieses Bild, das in Venedig aufgenommen wurde, zeigt sie in der Bildmitte. Ganz links ist John Piper, daneben sitzen Benjamin Britten und Peter Pears.

Wie macht man aus einer Novelle, die jeder Leser und Interpret anders versteht, eine Oper? Oder einen Film? Für ein Libretto oder ein Drehbuch muss man aus dem Originaltext bestimmte Teile herausnehmen und betonen, andere vernachlässigen. Es ist also eine Interpretation. Die nicht schlechter zu sein braucht als die Interpretation eines gelehrten Literaturkritikers. Ich habe das mit dem Filmdrehbuch natürlich absichtlich ins Spiel gebracht, denn für die Verfilmung von Jack Clayton, die den Titel The Innocents (1961) hatte (und in Deutschland Schloß des Schreckens hieß), hatte kein Geringerer als Truman Capote das Drehbuch geschrieben. Wenn der Film eine atmosphärisch dichte und stimmige Verfilmung der ➱Novelle von Henry James (etwas was Clayton bei The Great Gatsby nicht gelingen sollte) ist, dann liegt das aber nicht an Capote.

Er hatte Helfer, die versierter waren als er. Zum einen war da William Archibald, der die Novelle schon 1950 zu einem Theaterstück umgeschrieben hatte. Und dann war da noch John Mortimer. Den Juristen Sir John Clifford Mortimer, der die additional dialogues schrieb, kennen wir besser als den Autor der wunderbaren Romane, die Rumpole of Old Bailey als Helden haben. Und natürlich lebt der Film von Deborah Kerr, die in diesem Film großartig ist. Das hier ist selbstverständlich Deborah Kerr, das Photo im Absatz darüber zeigt noch einmal Myfawny Piper, umgeben von Benjamin Britten und Peter Pears.

Sie können sich von der Qualität des Filmes (der beim Publikum ein Flop war) selbst überzeugen und sich den Film ➱hier ansehen. Die Filmmusik war übrigens von einem renommierten Komponisten, dem Franzosen Georges Auric. Da hätte man auch Benjamin Britten nehmen können, der ja als Komponist für den Film genügend Erfahrung hatte. Ist es in Vergessenheit geraten, dass er 1935 die Musik zu dem vielleicht berühmtesten englischen Dokumentarfilm Night Mail geschrieben hat? Falls Sie diesen Klassiker des Dokumentarfilms noch nie gesehen haben, sollten Sie mal eben ➱hier klicken. Es hat noch andere Verfilmungen von The Turn of the Screw gegeben, aber da enthalte ich mich lieber der Stimme. Warum ein Remake anschauen, wenn es einen Klassiker gibt?

Bei den CDs von Brittens Oper ist die Wahl nicht so eindeutig, es gibt eine Vielzahl von Einspielungen. Die Oper war eine Auftragsarbeit der Biennale in Venedig, und im berühmten Teatro La Fenice fand am 14. September 1954 die Uraufführung statt (die englische Erstaufführung war am 6. Oktober 1954 in der Sadler's Wells Opera). Jetzt wissen wir auch, dass die Engländer beim Picknick da oben auf dem Photo keine normalen Touristen sind, sie sind wegen der Uraufführung hier in Venedig und machen gerade eine Pause. Der Blondschopf im weißen Hemd ist übrigens (rechts neben Pears) ist übrigens David Hemmings. Später im Jahr hat die Decca die Oper aufgenommen, der Komponist dirigierte selbst. Das ist natürlich noch Mono, obwohl die Decca im gleichen Jahr schon mit Stereoaufnahmen (und der berühmten Decca Tree) experimentiert.

Aber wer die Opernaufnahmen der Decca kennt, weiß, dass bei ihnen eine Monoaufnahme (die dann eines Tages sorgfältig auf das Digitalformat transferiert wurde) auch hervorragend klingen kann. Die alte Aufnahme ist heute immer noch unter dem Sub-Label der Decca namens London lieferbar. Wenn dies auch ein Sub-Label ist, es wurde an nichts gespart. Den beiden CDs liegt ein booklet mit dem Libretto bei, das auch einen hervorragenden einführenden Essay von Christopher Palmer (dem Herausgeber des Britten Companion) enthält. Der Mitschnitt aus Aldeburgh von 1993, den es bei Naxos gibt, wäre sicherlich auch keine schlechte Wahl. Die Redaktion von Gramophone hat vor Jahren die Aufnahme mit Ian Bostridge in den höchsten Tönen gelobt (empfahl aber auf der gleichen Seite die alte Decca Aufnahme), zu der Aufnahme sage ich mal nichts. Weil ich Ian Bostridge nun partout nicht mag.

Es gibt natürlich auch zahlreiche DVDs. Ich besitze eine Aufnahme vom Festival Aix-en-Provence (Regie Luc Bondy) mit der Französin Mireille Delunsch. Die vielleicht besser aussieht als sie singt (ja, ich weiß, dass ich das schon ➱einmal gesagt habe), aber sie hat eine große schauspielerische Begabung. Und die ist für die Rolle der Gouvernante (die ein wenig wie Brontës Figur der Jane Eyre in den Text von Henry James hereingewandert ist) auch erforderlich. Bondys Bühne für die Inszenierung von Aix-en-Provence war karg und spartanisch möbliert, war eine kalte Fläche, vor der sich die psychologische Kammeroper entfaltete. Ich erwähne Luc Bondys Inszenierung nicht nur, weil ich sie habe, sondern auch, weil Sie sie ➱hier in ganzer Länge sehen können.

Benjamin Britten ist nicht nur Komponist und Dirigent gewesen, er ist auch - und das sollte nicht vergessen werden - ein vorzüglicher Pianist gewesen. Wenn William Mann, der Musikkritiker der Times, über Gerald Moore gesagt hat, dass er the greatest accompanist of his day, and perhaps of all time sei, dann ist das sicher richtig. Aber Gerald Moore, dem wir die wunderbaren Erinnerungen Am I too Loud? verdanken, hat seinerseits über Britten geschrieben, dass der the greatest accompanist in the world sei. Machen Sie den Test und hören sich ➱Die schöne Müllerin oder ➱Die Winterreise an, wo Britten Peter Pears begleitet (der im Gegensatz zu ➱Ian Bostridge ein hervorragendes Deutsch singt). Was Britten hier als Begleiter spielt, ist von einem anderen Stern. Als ich das vor Jahrzehnten zum ersten Mal hörte, dachte ich, er wolle Schubert neu komponieren. Da ich Die schöne Müllerin erwähnt habe: ja, ich weiß, dass ich in ➱Tränenregen eine Fortsetzung versprochen habe. Und ja, sie kommt. In den nächsten Tagen oder in der nächsten Woche.

1992 erschien in London die erste große Biographie Brittens von Humphrey Carpenter. Der Rezensent des London Review of Books war voll des Lobes. Und das kann man bei den Büchern des viel zu früh verstorbenen Humphrey Carpenter auch sein. Doch auch für den deutschen Leser gibt es ein empfehlenswertes Buch, Norbert Abels Benjamin Britten in der der Reihe der rowohlts monographien. Ellen Kohlhaas hat die Leistung von Abels in der FAZ zu Recht in ihrer Rezension gewürdigt. Das Britten Jahr sah in England zwei neue Biographien, die erste, Benjamin Britten: A Life For Music, war das Buch des englischen Dichters Neil Powell, der Britten und sein Werk verehrt.

In ihrem Ansatz kritischer ist die neue Biographie von dem Dirigenten (und Professor am Gresham College) Paul Kildea. Er hat in Benjamin Britten: A Life in the Twentieth Century auch die unangenehmen Seiten von Britten aufgezeigt. Die vielen, die ihn kannten, nicht unbekannt waren, wenn Sie an das Zitat von Leonard Bernstein oben denken. Sie können übrigens auf der Seite des Gresham College eine lange ➱Vorlesung von Paul Kildea hören. Ich glaube, das war genug Britten für diesen Tag.