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Samstag, 6. März 2010

London


Jahrhundertespät,
Novemberkühl.
Schallplatten dreht
Chaplinischer Greis
Im Citygewühl.

Die Schallplatte verspritzt
Quäkenden Jazz.
Er knöpft die Hemdbrust
Wie Kinde den Latz.

Er schiebt einen Pram,
die Schallplatten darin
Er gräbt nicht mehr
Nach einem Sinn.

Die Melone drückt er
Übers dünne Gesicht.
Den Kopf hält er schief,
London stört nicht.

Aus der wüsten Welt
Lande ich im Zoo:
Pagodeneule
Hält den Kopf auch so.

Aus Südostasien
Hergeweht
Zweihändehoch
Majestät.

Einsamer Schauer
Nimmt mich hin,
Mir glänzt ein Weg,
Mich streift ein Sinn.

Sie übersieht mich,
La belle Dame sans Merci,
Ich bin der Greis,
Die Göttin sie.

Wilhelm Lehmann hat dieses Gedicht 1964 geschrieben, da war er 82. Der in Berlin geborene englische Dichter und Übersetzer ➱Michael Hamburger hat es in The Truth of Poetry (dem besten Buch über moderne Dichtung) erwähnt. Michael Hamburger hat Lehmann sehr geschätzt, weil der ein Naturdichter ist. Kennt jedes Tier und jede Pflanze rund um Eckernförde beim richtigen Namen. London interessiert ihn nicht wirklich, die Großstadt wird reduziert auf den chaplinesken Greis, der Schallplatten dudelnd durch die Straße zieht. Für den London, die wüste Welt, nicht stört, für den Naturdichter Lehmann offenbar schon. Die Eule im Zoo ist für ihn interessanter als ganz London. Hamburger hat damals Wilhelm Lehmann und ➱Robert Graves (der in Deutschland immer Robert von Ranke-Graves heißt) miteinander bekannt gemacht. Den hatte Lehmann schon beinahe ein halbes Jahrhundert vorher übersetzt. Da war er im letzten Kriegsjahr desertiert, in englische Gefangenschaft geraten. Seitdem ist er anglophil. Graves hat Lehmann wie einen Schuljungen behandelt und ihn gefragt Are there any poets in Germany now? Hamburger, der Lehmann für eine Vortragsreise nach England eingeladen hatte, hat sich furchtbar dafür geschämt. Und war nachträglich froh, dass er sich schon ein Jahrzehnt vorher dem übermächtigen Einfluss von Graves entzogen hat. Dabei hätte Graves das wissen können, dass sein Gegenüber ein Dichter war. Schon 1945 hatte der Engländer John Manifold in der Zeitschrift Our Time einen Artikel, Meeting a German Poet, geschrieben.

Wilhelm Lehmann war 1933 aus Angst um seine berufliche Stellung in die NSDAP eingetreten, hat sich dafür aber immer geschämt. Es kam ihm vor, als hätte er seinen Freund Werner Kraft verraten, der 1933 nach London emigriert war. In einem Brief aus einem kurzen Englandaufenthalt schreibt er im Juli 1933 nach London Ich bin noch exilierter als Sie. In Lehmanns Heimatort Eckernförde wütet zu der Zeit Helmut Lemke in einer braunen SA-Uniform als Bürgermeister. Der wird später noch Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, aber dann ist er in einer anderen Partei. Wilhelm Lehmann ist einer der ganz wenigen, für den der Begriff der Inneren Emigration wirklich passt. Sein Gedichtband Die Antwort des Schweigens erschien beim Berliner Widerstands Verlag kurz bevor der verboten wurde. Der Lektor Alexander Mitscherlich hatte das Manuskript angenommen. Den hat die Gestapo später eingesperrt. Nach dem Krieg ist Lehmann dann doch noch berühmt geworden. Seine naturmagische Dichtung galt vielen als ein Gegenentwurf zu der technokratisch kühlen Welt von Gottfried Benn. Leider ist er heute beinahe vergessen. Das ist sehr schade, denn er ist wirklich ein bedeutender Dichter. Man sollte ihn unbedingt lesen und wieder entdecken. Michael Hamburger hat sich später in Marsh Acres ein Haus mit einem riesigen Garten gekauft, wo er jeden Apfel von seinen Apfelbäumen kannte. Lehmann hat keinen so großen Garten gehabt, für ihn wird ganz Norddeutschland (und die geliebte Landschaft Jütlands) zu einem Garten der Dichtung (obgleich auch Marlene Dietrich und Claire Bloom in seiner Dichtung auftauchen). Ich konnte mein Leben nur mit Hilfe der Dichtung führen, hat Lehmann in einem Interview 1956 gesagt. Und das macht er wahr, sein letztes Gedicht, wenige Monate vor seinem Tod geschrieben, ist nicht so etwas Großartiges wie John Donnes Hymn to God, my God, in my Sickness. Wieder einmal ist es klein und still, aber die Natur ist noch da, wenn auch nur als Blumen, die ans Krankenbett gestellt werden.

Letzte Tage

Ausgelaufen ist der Krug.
Erde spricht, es ist genug.

Chrysanthemen hat ein Freund vors Bett gestellt,
Lockenhäupter, Würzgeruch der Welt.

Ehe meine Finger kalten,
Fühlen sie die Lust, die Stengel festzuhalten.

Halt ich so das letzte Stück noch aus,
Bringt das große Qualenlose mich nach Haus.

Das Gedicht London (1964) gehört nicht unbedingt zu den besten Gedichten von Lehmann, aber ich habe es abgetippt, weil Birte in London ist und morgen Geburtstag hat. Hi, Birdy, happy boifday!


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