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Sonntag, 18. Juli 2010

The Battle at Farnborough


Die reizende Medizinerin, die die Darwin Ausstellung organisierte, war verzweifelt. Was ist die Schlacht von Farnborough? fragte sie. Keine Ahnung, war meine Antwort. Sie hatte eine englische Quelle gefunden, worin die Hitzigkeit der Diskussion der Thesen Darwins mit der Schlacht von Farnborough verglichen wurde. Da ich ihr Alan Mooreheads wunderbares Buch Darwin and the Beagle und noch einige andere Bücher zu Darwin geliehen hatte, hielt sie mich für einen Darwin Fachmann. Was ich auf keinen Fall bin. Heute würde ich die Antwort auf eine solche Frage innerhalb von zwei Minuten mit dem Computer finden, aber damals hatten wir keine Computer und keine Suchmaschine namens Google. Ich wälzte einen Tag lang Bücher, dann fragte ich meinen Freund Georg, der alles über England weiß. Der wußte auch nicht weiter, aber er fragte seinen Vater. Der, bestens versiert in der englischen Geschichte, konnte sofort mit einem kleinen Gefecht zehn Meilen von Farnborough während der Zeit von Oliver Cromwell aufwarten, aber es machte keinen richtigen Sinn. Die Frau aus dem Institut der Geschichte der Medizin hatte inzwischen schon die Historiker der Universität sowie Leute in Cambridge mit der Frage verfolgt, keiner wußte Rat.

In solchen Fällen heißt es Ruhe bewahren und zu den Quellen zurückzukehren, allerdings besaß Frau Dr. L. nicht den Originaltext, sondern nur einen Satz daraus. Aber da stand schon mal etwas Wichtiges, es war von the battle at Farnborough die Rede, nicht von the battle of Farnborough. Ein kleiner, aber feiner Unterschied. Und ich dachte mir, wir machen alle etwas falsch, wir suchen nach einem militärischen Ereignis. Was ist, wenn battle nur bildlich gemeint ist, wenn das ein ganz anderes Ereignis ist? Was gibt es in Farnborough im Jahre 1860, was einer Schlacht gleichkommt? Ich weiß nicht, aus welchem Grunde ich in diesem Augenblick zum Oxford Companion to Sports and Games gegriffen habe und unter Boxing nachgeguckt habe. Aber da war sie, die Lösung: der berühmte Boxkampf von Tom Sayers gegen John C. Heenan vom 17. April 1860 in Farnborough.

Ich weiß jetzt nicht, ob öffentliche Prügeleien der Höhepunkt der Evolution sind oder schon eine Form der Regression sind, aber man kann die Richtigkeit aller Evolutionsthesen am Beispiel von Boxern ganz leicht beweisen. Vor einem halben Jahrhundert hatte der Kölner Boxer Peter Müller (Rädebomm, dä Jong dä fällt nit om) den Beinamen de Aap. Weil er ein bisschen so aussah. Heute hat Klitschko einen Doktortitel. Vom Affen zum Doktor in fünfzig Jahren, das ist doch ein Fortschritt.

Hätten wir damals den vollständigen Originaltext aus dem Athenaeum 1860 gehabt, und nicht nur einen verstümmelten Satz, wäre die Suche natürlich viel leichter gewesen:

Yet the main interest of the week has unquestionably centred in the Sections, where the intellectual activities have sometimes breathed over the courtesies of life like a sou'-wester, cresting the waves of conversation with white and brilliant foam. The flash, and play, and collisions in these sections have been as interesting and amusing to the audiences as the Battle at Farnborough or the Volunteer Review to the general British Public. The Bishop of Oxford has been famous in these intellectual contests, but Dr Whewell, Lord Talbot de Malahide, Prof. Sedgwick, Mr Crawford, and Prof. Huxley have each found foemen worth of their steel, and have made their charges and countercharges very much to their own satisfaction and the delight of their respective friends. The chief cause of contention has been the new theory of the Development of Species by Natural Selection - a theory open - like the Zoological Gardens (from a particular cage in which it draws so many laughable illustrations) to a good deal of personal quizzing, without, however, seriously crippling the usefulness of the physiological investigation on which it rests. The Bishop of Oxford came out strongly against a theory which holds it possible that man may be descended from an ape - in which protest he is sustained by Prof. Owen, Sir Benjamin Brodie, Dr Daubeny, and the most eminent naturalists assembled at Oxford. But others - conspicuous among them Prof. Huxley - have expressed their willingness to accept, for themselves as well as for their friends and enemies, all actual truths, even the last humiliating truth of a pedigree not registered in the Herald's College. The dispute has at least made Oxford uncommonly lively during the week.

Man muss das den Engländern ja lassen, witzig sind sie schon. Schreiben über die großen Fragen der Menschheit, als ob sie über ein cricket match schreiben. Wenn ich daran denke, wie viele Bücher meine Freunde und ich damals gewälzt haben, um den Sinn dieses kryptischen Satzes zu finden, und wenn ich daran denke, dass ich das heute in zwei Minuten schaffe, dann muss ich natürlich auch die Evolution und das survival of the fittest auf dem Computersektor bewundern. Aber ich kann das natürlich nur in wenigen Minuten herausfinden, weil ich gelernt habe, wissenschaftlich zu denken und zu recherchieren. Und weil ich (und meine Generation) das früher noch in nächtelanger Arbeit mit Exzerpieren und Zettelkästen gemacht haben. Von wegen alles Erworbne bedroht die Maschine, man muss nur damit umzugehen wissen. Es hilft einem Dreijährigen nichts, wenn man ihn an das Steuer eines Ferrari setzt, er kann nicht damit fahren.

Meine geringen Verdienste um die Darwin Ausstellung haben dazu geführt, dass mein Name damals gleich rechts vom Eingang im Zoologischen Museum auf einer Liste von Leuten stand, denen die Ausstellungsleitung dankte. Zwischen zwei englischen Lords, die offensichtlich aus ihren Schlössern irgendwelche Darwin Heiligtümer ausgeliehen hatten. Für fünfzehn Minuten berühmt, Andy Warhol hatte schon Recht. Ich habe die Liste mit den Namen natürlich bei meinem zweiten Besuch der Ausstellung photographiert. Falls mir das jemand nicht glauben sollte, dass ich zwischen zwei englischen Adligen auf der Liste stehe.

Ich bin immer noch kein Darwin Fachmann, aber ich bin im Besitz der wirklich relevanten neuen Literatur. Habe ich kiloweise gekauft. Hat meine Buchhandlung um die Ecke (die längst keine eigene Buchhandlung mehr ist, sondern Teil eines größeren Konzerns ist) zum Kilopreis verhökert, und packte es dann (na ja, nicht nur Darwin, sondern auch alles was weg musste) auf lange Tapeziertische, Kilo Buch fünf Euro. Wurde mit einer alten Babywaage abgewogen. Sie hatten soviel Darwin, weil letztes Jahr sein zweihundertster Geburtstag war. Da haben sie alles eingekauft, was der Markt hergab. Hat natürlich kein Schwein gekauft (weil Schweine auch nicht lesen können. Noch nicht.). Ist jetzt alles bei mir.

Aber ich hätte ein kleines Literaturprogramm der neuesten Literatur für Sie (jenseits des Internets, das natürlich gute Darwin Seiten wie diese hat und wo es auch einen Darwin Blog gibt), falls Sie jetzt alles über Darwin wissen wollen. Im amerikanischen Staat Tennessee hätte ich das im Jahre 1925 nicht schreiben dürfen, denn die hatten gerade ein Gesetz erlassen, das die Verbreitung der Lehren von Charles Darwin verbot. Was dann zu dem in der amerikanischen Rechtsgeschichte berühmten (oder sollte man sagen: berüchtigten?) monkey trial  Tennessee v. John Scopes führte, worüber es den eindrucksvollen Film Inherit the Wind mit Spencer Tracy und Fredric March gibt. Aber wenn man das nun für einen hinterwäldlerischen Witz aus Amerikas bible belt hält, sollte man vorsichtig sein, der creationism ist in Amerika schwer im Kommen.

Natürlich kann (und sollte) man als Leser mit der Autobiography anfangen:
A German editor having written to me to ask for an account of the development of my mind and character with some sketch of my autobiography, I have thought that the attempt would amuse me, and might possibly interest my children or their children. I know that it would have interested me greatly to have read even so short and dull a sketch of the mind of my grandfather written by himself, and what he thought and did and how he worked. I have attempted to write the following account of myself, as if I were a dead man in another world looking back at my own life. Nor have I found this difficult, for life is nearly over with me. I have taken no pains about my style of writing.

Wir sehen schon nach dem ersten Absatz, dass Darwin sich klar und unprätentiös ausdrücken kann. Seine Autobiographie ist immer irgendwie bearbeitet und verstümmelt erschienen, eine vollständige englische Ausgabe gibt es im New Yorker Norton Verlag, eine gute deutsche Ausgabe beim Insel Verlag. Ich lasse jetzt mal diese mehrbändigen oder über 800-seitigen Biographien aus, die als Standardwerke gelten, wie zum Beispiel Janet Browne oder Adrian Desmond und James Moore. Die kann man ja später immer noch lesen. Die drei Stars der Biographieszene können aber auch anders, wie ihr gemeinsames Buch Charles Darwin - kurz und bündig zeigt.

Die sonst so verlässlichen Bände der Reihe von Rowohlts Monographien können wir in diesem Fall außer Acht lassen, der Band des Anthroposophen Johannes Hemleben ist vierzig Jahre alt, immer wieder aufgelegt (inzwischen in der 14. Auflage), aber das ist irgendwie eine Leiche, die immer wieder schön angemalt wird. Alan Mooreheads Darwin and the Beagle ist ein schönes Buch, dagegen gibt es gar nichts zu sagen. Natürlich ein wenig randständig, weil es nur ein kleiner Teil von Darwins Leben ist, aber es bleibt ein Klassiker (ich habe ihn damals auch unversehrt von der Ausstellungsleitung zurückbekommen). Randständig, aber wunderschön ist auch der reich bebilderte Katalog der Schirn Kunsthalle Frankfurt Darwin: Kunst und die Suche nach den Ursprüngen, herausgegeben von Pamela Kort und Max Hollein. Wenn Sie jetzt knallharte state-of-the-art Information suchen, dann kann ich nur den Cambridge Companion to Darwin (second edition 2009) empfehlen. Lesen Sie die 548 nach Themen organisierten Seiten, und Sie können überall mitreden, wenn das Gespräch auf Darwin kommt. Und dann kann ich Ihnen noch David Quammen ans Herz legen, der Amerikaner ist berühmt als Autor populärwissenschaftlicher Schriften (das ist jetzt nicht negativ gemeint), und sein Buch The Reluctant Mr. Darwin ist hervorragend geschrieben. Herzerfrischend, mit trockenem Witz. So in der Art von Dava Sobels Longitude. Was kann man als Leser mehr verlangen? Die Jahre auf der Beagle lässt er allerdings aus, dieser Teil des Lebens sei häufig genug erzählt worden.

Ich habe am 12. März hier unter dem Titel Biographien über eine neue Art von Buch geschrieben, die aus England kommt und auf elegante Art und Weise Biographie, Sachbuch und Roman miteinander kreuzt. Es gibt erstaunlicherweise ein deutsches Buch, das an diese Bücher heranreicht: Darwin: Die Entdeckung des Zweifels von Petra Werner. Die Verfasserin ist Wissenschaftlerin (Biochemikerin), aber ein wenig auch Schriftstellerin und Dichterin. Und das gibt dem Buch seinen Charme. Wenn Darwin am Anfang des Buches den Maulbeerbaum des Hauses betrachtet, dass er vielleicht kaufen möchte, dann fühlen wir uns gleich dort im Dörfchen Downe zu Hause. Vom Erzählen einer Geschichte geht immer eine Magie aus, und wenn uns diese Magie in die Geschichte der Wissenschaft mitnimmt, so folgen wir ihr als Leser gerne. Wenn das delectare aut prodesse stimmt, kann man nichts dagegen haben, wenn Wissenschaft als Roman daherkommt. Denn was wären wir ohne die Literatur? Das hat Darwin mit 72 Jahren auch gemerkt:

Up to the age of thirty or beyond it, poetry of many kinds gave me great pleasure; and even as a schoolboy I took intense delight in Shakespeare, especially in the historical plays. I have also said that pictures formerly gave me considerable joy and music every great delight. But now for many years I cannot endure to read a line of poetry. I have tried lately to read Shakespeare, and found it so intolerably dull that it nauseated me. I have also almost lost my taste for pictures or music. My mind seems to have become a kind of machine for grinding general laws out of large collections of facts; but why this should have caused the atrophy of that part of the brain alone, on which the higher tastes depend, I cannot conceive.

If I had to live my life again, I would have made a rule to read some poetry and listen to some music at least once every week; for perhaps the part of my brain now atrophied would thus have been kept alive through use. The loss of these tastes is a loss of happiness.


2 Kommentare:

  1. Danke für den Hinweis auf das Buch von Petra Werner über Darwin. Ich habe es sofort bestellt. Auch ich möchte versuchen, als Wissenschaftler mit meinem Roman "Der Herr der Düfte" den Leser in die Geschichte der Wissenschaft/Chemie mitzunehmen. Ihre Aussage, "vom Erzählen einer Geschichte geht eine Magie aus", kann ich gut nachempfinden. Sie sagen, im deutschsprachigen Raum gibt es wenige dieser Geschichten.
    Ist der Roman von K.A. Schenzinger: "Anilin" bekannt? Immerhin wurde es von vielen angehenden Chemikern vor 80 Jahren mit Begeisterung gelesen, wenn man einmal den politischen Hintergrund ausblendet.
    Ich bin nach wie vor ebenso wie Norbert Monitor von Ihrem Blog sehr begeistert.

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  2. Der Schenzinger gehörte ja früher zu den Klassikern, die man gelesen haben musste. Meine Ausgabe war gelb, daran erinnere ich mich noch genau.

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