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Dienstag, 10. August 2010

Menschen am Sonntag


Eine Gruppe von Amateuren möchte einen Film drehen, sie müssen sich dafür Geld leihen und können sich keine bekannten Schauspieler leisten. Der Film wird ein Erfolg, und wenig später sind sie alle in Hollywood und werden noch richtig berühmt. Eine schöne Geschichte. Sie ist schon achtzig Jahre alt. Die jungen Leute heißen Curt Siodmak, Robert Siodmak, Edgar G. Ulmer, Fred Zinnemann, Billie Wilder und Eugen Schüfftan. Sie gehen nicht freiwillig nach Hollywood, es bleibt ihnen nach 1933 nicht viel anderes übrig. Der Film, der 1930 ins Kino kam, heißt Menschen am Sonntag. Er wird ewig ein Klassiker bleiben, obgleich ihn viele mit Berlin - Sinfonie der Großstadt von 1927 verwechseln. Der ist auch nicht schlecht, sie könnten ihn sich hier anschauen. Menschen am Sonntag habe ich hier auch. Die Großstadt ist in dieser Zeit, die die Amerikaner The Roaring Twenties nennen, als Thema des Romans und des Films en vogue, man denke an Döblins Berlin Alexanderplatz oder Dos Passos' Manhattan Transfer und Alberto Cavalcantis Paris Film Rien que les heures.

Menschen am Sonntag ist eine Mischung von Dokumentarfilm und Spielfilm. Dokumentarfilme sind jetzt, seit Robert Flaherty Nanuk, der Eskimo gedreht hat, etwas ganz Neues. Zeitgleich mit Menschen der Großstadt wird der Engländer John Grierson anfangen, als Direktor der Filmabteilung des Empire Marketing Board, den englischen Dokumentarfilm bekannt zu machen. Sein erster Film Drifters über den Heringsfang in der Nordsee hatte seine Premiere 1929 gleichzeitig mit Panzerkreuzer Potemkin und erhielt gute Kritiken. Falls Sie noch nie etwas von John Grierson gehört haben sollten, schauen sie doch einmal in den berühmten Film Night Mail hinein.

Menschen am Sonntag kam bei der Kritik gut an, so schrieb die Lichtbild-Bühne (die ich hier abdrucke, weil sie mir die Inhaltsangabe des Filmes erspart) im Februar 1930: Ein Experiment! Ein Film ohne Schauspieler. Ein paar junge Menschen – ein Taxi-Chauffeur, ein Reisender, eine kleine Verkäuferin und ein anderes junges Ding – verleben draußen, vor den Toren Berlins, ihren Sonntag, ihren freien Tag. Getändel, Spielereien! Auch Ernsteres passiert! Eifersüchteleien. Schließlich Trennung. In Berlin. Ein Sommertag. Ein Frei-Tag. Ist das Berlin? Die Jugend Berlins? Unbedingt zuzugeben, daß der Film der Wirklichkeit ungeheuer nahekommt! Die Perspektive ist richtig. Nicht ganz überzeugend die Darstellung, die immerhin größere Aufgaben als das Personal sogenannter Reportage- oder Dokumente-Filme hat. Dem Publikum gefiel’s. Im höchsten Maße! (...) Das atmosphärische Kolorit entscheidet. Und in dieser Beziehung sind Siodmak und Ulmer, die den Film inszenierten, und dem Kameramann Schüfftan Bilder von überraschender Lebendigkeit geglückt. Man darf sagen, daß landschaftlich reizvollere Bilder von der Umgebung Berlins nicht gedreht wurden. Nicht minder gut der Betrieb in der Großstadt, erfreulich auch, daß der Kurzschnitt nur da, wo es sich darum handelte, Tempo und Bewegung zu charakterisieren, Verwendung fand. Herrlich einige stille Bilder von der schlafenden sonntäglichen City. Die Jungen behaupten sich besser als die Mädchen. Das heißt darstellerisch. Wolfgang von Waltershausen ist ein spielsicherer hübscher Bursch, der sich seiner Aufgabe mit einer Eleganz entledigt, die fast an Routine grenzt. Sehr nett auch der dicke Erwin Splettstößer. Beide offensichtliche Begabungen. Sehr viel gehemmter und gemachter die Mädel. Brigitte Borchert und Christl Ehlers gute Köpfe. (Dabei kaum hübsch!) Es ist möglich, daß die Mädel, die sicherlich Instinkt und Intelligenz besitzen, zu besseren Leistungen disponiert sind. Alles in allem darf man den Beteiligten, vor allem Moritz Seeler, dem Leiter des Studios, für einen sehr interessanten Film danken. 

Ich finde es ja schön, dass hier der Kameramann Eugen Schüfftan genannt wird, denn den kennt heute außer Cineasten niemand mehr. Und weil ich endlich einmal über Eugen Schüfftan schreiben wollte, habe ich den Anlass genommen, dass Curt Siodmak (der Bruder von Robert) am 10. August des Jahres 1902 geboren wurde. Er hat das ganze 20. Jahrhundert durchlebt, es ist vor zehn Jahren gestorben. Da lebte von der Gruppe, die Menschen am Sonntag gedreht hatte, nur noch Billy Wilder. Eugen Schüfftan ist schon seit 1977 tot, er war der einzige Profi bei den Dreharbeiten von Menschen am Sonntag.

Kameraleute haben ja das traurige Schicksal, dass ihre Arbeit nie so recht gewürdigt wird, man kennt die Stars des Films und den Regisseur. Außer Cineasten kennt niemand den Kameramann. Und dabei ist Eugen Schüfftan einer der wichtigsten des 20. Jahrhunderts. Ohne ihn gäbe es keinen Poetischen Realismus des französischen Film und keinen amerikanischen film noir. Wenn Sie einen Blick auf das Bild da oben werfen, wissen Sie, was ich meine: diese wunderbare Abstufung von Grau- und Schwarztönen, diese Photographie, die wir im film noir in seinen besten Werken wiederfinden werden. Es ist aus dem Film Quai de Brumes, von dem alle Regisseure des film noir abgekupfert haben, und der Kameramann ist niemand anderes als Eugen Schüfftan, der jetzt in Frankreich Eugène Shuftan heißt (im Post Lederjacken taucht übrigens einer seiner Verwandten auf).

Ob das nun Gabin und Michèle Morgan sind, oder Bogart und Bacall, die Art der Photographie bleibt die gleiche. Schüfftan ist zuerst nach Frankreich emigriert, deshalb arbeitet er jetzt mit Marcel Carné zusammen. Später wird er in die USA auswandern und dann auch amerikanischer Staatsbürger werden. Er bekommt (sehr spät) auch einen Oscar für Haie der Großstadt. Damals hatte der American Cinematographer Schwierigkeiten, etwas über ihn herauszufinden.

Er hat als Maler angefangen, und das kann man in seiner Photographie immer wieder sehen, die Bilder sind durchkomponiert bis ins Detail. Der Realismus des Poetischen Realismus ist allerdings ein wenig fragil, die Hafenstadt von Hafen im Nebel besteht größtenteils aus Studiobauten. Eugen Schüfftan hat auf der Breslauer Kunstakademie studiert, hat Bilder bei der in der Berliner Sezession ausgestellt, hat als Theatermaler und Architekt gearbeitet. Besonders für den berühmten Hans Poelzig, der ihn auch zum Film bringt.

Daneben erfindet er in aller Stille das Schüfftan Verfahren, wodurch man mittels einer Spiegeltechnik kleine Modelle ganz groß in den Hintergrund einer Filmszene kopieren kann. Leider setzt sich das Verfahren in den USA nicht durch, aber die UFA wird es benutzen, ohne das Schüfftan Verfahren hätte Fritz Lang die Nibelungen oder Metropolis nicht drehen können. Auch bei bei Abel Gances Napoléon ist Schüfftan für die Trickaufnahmen zuständig.

Er erhält im amerikanischen Exil nicht die Anerkennung, die ihm eigentlich zustehen würde. Da er nicht in die American Society of Cameramen aufgenommen wird, beschäftigen ihn die Regisseure als supervisor oder lighting cameraman, sein Name taucht dann im Abspann im Kleingedruckten auf. Aber eigentlich hat er Douglas Sirks Summer Storm und Imitation of Life schon photographiert. Vielleicht ist der berühmte, hochartifizielle Douglas Sirk Stil in Wirklichkeit nur ein Eugen Schüfftan Stil.

Bei der Leichtigkeit des Sommertags von Menschen am Sonntag ist es schon erstaunlich, das man dem Film nichts davon anmerkt, dass der Kameramann vorher für Monumentalfilme wie Die Nibelungen, Metropolis oder Napoléon zuständig war. Menschen am Sonntag ist heute noch auf DVD zugänglich, Sie können aber auch einmal hier hineinschauen. Das letzte Wort überlasse ich heute mal dem Filmkritiker Claudius Seidl, der am 21. Februar 2010 in der Frankfurter Allgemeinen schrieb: Und andererseits werden Filme, je älter sie sind, umso mehr zu Dokumentationen ihrer Dreharbeiten und der Zeit, die seither vergangen ist - und wenn man heute, einundachtzig Jahre nach den Dreharbeiten auf diesen Film schaut, dessen Blicke immer wieder abschweifen von den Hauptdarstellern und die Sonntagsstimmung einfangen, am Strandbad Wannsee, im Biergarten, auf den Straßen und in den Parks der großen Stadt: dann treibt das Wissen, wie es weiterging mit diesen Schauplätzen und den Menschen, die sich da vergnügen, einem fast die Tränen in die Augen. Es ist der Sommer 1929, der letzte Sommer des Booms, eine Heiterkeit ist zu sehen und zu spüren, eine grundsätzliche Freundlichkeit, die noch nicht weiß, dass im Oktober die Börse krachen und die Welt in die Wirtschaftskrise treiben wird. Einmal sieht man Teenager mit schlechten Zähnen und breitem Grinsen und kann gar nicht anders, als sich zu fragen: Wohin seid ihr wohl zehn Jahre später marschiert? Und was habt ihr dort getan?

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