An den Herrn gehen heute von dieser Stelle meine Geburtstagsgrüße. Der Professor Hermann Bausinger kennt mich nicht, aber ich kenne ihn, weil ich eine Vielzahl seiner Bücher gelesen habe und sein Wirken über die Jahre verfolgt habe. Er hat leider im Internet nur einen etwas kläglichen Wikipedia Artikel (hat der Mann keinen Fanclub, die ihm da was Besseres hinschreiben können?), und die Bundesrepublik hat es versäumt, ihm ein richtig großes Verdienstkreuz zu geben. Immerhin hat ihm das Land Baden-Würtemberg im letzten Jahr den Verdienstorden verliehen. Im letzten Jahr ist auch sein Assistent und langjähriger Weggefährte Utz Jeggle gestorben, der war erst 68 Jahre alt. Hermann Bausinger wird heute 84 Jahre alt, und ich hoffe, es geht ihm gut. Er hat ein ganzes Universitätsfach nach 1945 verändert, das können nicht so viele in Deutschland von sich sagen.
Das Fach hieß Volkskunde, es heißt heute Europäische Ethnologie oder auch Kulturanthropologie (und es gibt noch andere Namen). Es ist ein Fach, das sich immer noch mit der Definition schwer tut. Vor 1945 war in der Volkskunde alles klar, als man Begriffe wie Volksgemeinschaft, Volksleben und Volkskultur hatte und alles blond und germanisch war. Jahrzehnte später haben wir von dem ▹Germanentum nur noch den Cartoon Hägar der Schreckliche und mit so etwas beschäftigen sich in Amerika die Popular Cultural Studies, die sich mit der deutschen Volkskunde inhaltlich in vielem überschneiden.
Bausinger hat in Tübingen promoviert, hat sich dort 1959 habilitiert und wurde 1960 dort Professor. Seine Habilitationsschrift Volkskultur in der technischen Welt markiert die Neuorientierung des Faches, und mit Bausinger wurde Tübingen zum Zentrum der progressiven Forschung des Faches. Während man sich andernorts noch mit germanischen Gemmen und keltischen Hinkelsteinen beschäftigte, gab es in Tübingen schon 1969 eine Dissertation von Jens-Ulrich Davids Das Wildwest-Romanheft in der Bundesrepublik. Die war in ihrem amerikanistischen Teil etwas schwächlich, aber sonst wirklich originell, und sie erlebte auch eine zweite Auflage. In Amerika hätte Davids dafür an der Bowling Green University in Ohio, dem Zentrum der amerikanischen Popular Culture Studies, wohl auch einen Doktortitel bekommen, in Deutschland außer in Tübingen aber wohl nirgends.
Als Davids' Dissertation erschien, war das Fach (das ja nicht an allen deutschen Universitäten vertreten ist) gerade im einem Richtungsstreit, ob man sich mehr der Soziologie oder mehr der Ethnologie als als Leitwissenschaft zuwenden solle. Und so richtig wissen sie das wohl immer noch nicht, seit Albrecht Dieterich im Jahre 1902 Über Wesen und Ziele der Volkskunde schrieb. Der ist mehr als ein halbes Jahrhundert später für den Verfasser des Artikels Das Studium der Volkskunde in dem Hochschulführer, den die Christian Albrechts Universität zu Kiel zur 300-Jahr-Feier herausgab, noch immer eine Autorität, wenn hier von der Kultur seiner Stämme und Besiedlungslandschaften, insgesamt seiner Grundschicht als 'Mutterboden der Kulturnation' die Rede ist. Der ganze Artikel liest sich so, als ob er noch aus einer anderen Zeit käme, was natürlich an einer Universität, die einmal eine Vorzeigeuniversität der Nazis gewesen war und in den sechziger Jahren noch eine Vielzahl von Altnazis in ihrer Professorenschaft hatte, nicht so ganz verwundert.
Die Auswege aus dem Beschreiben der eigenen nationalen Herrlichkeit bieten mit dem neuen Jahrhundert zum einen die Ethnologie und Anthropologie, die aus dem Beschreiben sehr fremder Völker jetzt neue Definitionen davon offeriert, was eine Kultur ausmacht. Und zum anderen macht sich, spätestens mit Max Weber, Ferdinand Tönnies und Georg Simmel eine neue Wissenschaftsrichtung bemerkbar, die Soziologie heißt. Es mag für nationalgestimmte Herzen schwer zu ertragen sein, dass diese neue Wissenschaft nicht von einem Germanen, sondern von einem Froschfresser namens Auguste Comte erfunden wurde, aber so ist es nun mal. Was seit Tacitus' Bestandsaufnahme in De Germania noch ein gutgepflegtes Vorurteil war, wird jetzt zur Wissenschaft.
Und jetzt sind sie alle dabei, das Volk und die völkische Kultur zu definieren. Die Germanistik sowieso, die war ja mit den Brüdern Grimm von Anfang an dabei. Die Anglistik erfindet vor hundert Jahren die Englandkunde, weil manche Professoren gemerkt haben, dass es ja wunderschön ist, wenn ihre Studenten Alt- und Mittelenglisch können. Nur blöd, dass ihr Alltagsenglisch so schlecht ist, dass sie auf einem Bahnhof nicht nach dem Zug fragen können. Und die Wesensart der Engländer sowieso nicht verstehen. Also gibt es jetzt auch die Englandkunde. Vielleicht hätte man so etwas allen Völkern Europas vor hundert Jahren empfehlen sollen. Allerdings muss man sagen, dass diese ganzen schönen Theorien der Soziologen und Anthropologen, die heute in jedem Cultural Studies Reader zitiert werden, nicht ins Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit dringen. Eher der aus der Biologie geklaute Begriff Rasse, der zur gleichen Zeit Konjunktur hat, als die Wissenschaft die Kultur neu definiert. Und wenn ein französischer Parlamentarier 1895 sagt Die höherwertigen Rassen haben Rechte über die minderwertigen Rassen, dann könnte das auch in Deutschland gesagt worden sein. Na ja, es wird ja heute beinahe wieder gesagt. Ja, und dann landet das Fach Volkskunde bei den Nazis, kaum ein anderes Universitätsfach hat sich so kompromittiert.
Lernen wir je etwas dazu? Nachdem dieser Herr mit dem fremdländischen sarazenischen Namen (klingt türkisch oder gar hebräisch. könnte auch klingonisch sein, steht so im Forum gutefrage) die Tore aufgestoßen hat und eine angeblich aus Polen Vertriebene als erste mit der Fackel zum Zündeln nach draußen gerannt ist, haben wir ja eine nationale Diskussion, die nur so strotzt vor Ressentiments. Hatte ich schon gesagt, dass ein solches Universitätsfach, das das eigene Volk, die eigene Region wissenschaftlich zu beschreiben sucht, ein gefährlich Ding ist? Ob es nun ein Theoriedefizit hat oder nicht. Sicher ist man ja nur, wenn man Feldforschung betreibt. Dann kann man auch über die ▹Bremer Kohl und Pinkelfahrten: Geschichte und Struktur einer Festzeit in Nordwestdeutschland promovieren. Und mir persönlich hat der Artikel Lebkuchen aus der Fabrik: Zur Geschichte der Firma Heinrich Schulze in Borgholzhausen in der Festschrift zum sechzigsten Geburtstag von Hermann Bausinger sehr gut gefallen. Die Produkte aus Borgholzhausen kennen Sie von jeder Kirmes oder jedem Jahrmarkt, diese Herzen Ich bin immer Dein, alles aus Borgholzhausen. Und eine kleine Papiertüte mit Borgholzhausener Pfefferküchlein war für mich, als ich klein war, das Schönste auf der Welt. Sowas nenne ich noch mal erdverbundene Wissenschaft, auch die Arbeit von dem Doktor Grünkohl. Und von hier ist es nicht weit bis zum Schlagwort Alltagskultur, das ist ja etwas, was die Volkskunde heute beschäftigt.
Und plötzlich merken wir, dass wir beinahe jedem Begriff das Wörtchen Kultur hinzufügen können, Sportreporter reden von Spielkultur (die meistens nicht vorhanden ist), die Politkommentatoren reden von politischer Kultur (überhaupt nicht vorhanden), Journalisten von Kneipenkultur (immer vorhanden). Der Begriff der Kultur hat heute leider eine Inflation, zumal auch noch alle möglichen Leute, die durch keinerlei Vorbildung dazu qualifiziert sind, heute cultural studies betreiben. Das ist ein klein wenig so, als wenn der kleine Adrian Mole in Sue Townsends wunderbarem Secret Diary of Adrian Mole über das neue Schuljahr sagt: But they do give you a choice of Cultural and Creative subjects. So I have chosen Media Studies (dead easy, just reading newspapers and watching telly)...Es wird nicht verwundern, dass in den Büchern, die von Literaturwissenschaftlern gemacht worden sind, die sich über Nacht nach dem Adrian Mole Prinzip in Kulturwissenschaftler verwandelt haben, die Ergebnisse des Faches Volkskunde oder der Name Hermann Bausinger nicht auftauchen. So zum Beispiel in den voluminösen Bänden des Metzler Verlages: Metzler Lexikon Kultur der Gegenwart, Konzepte der Kulturwissenschaften oder Handbuch Populäre Kultur.
Ich würde jetzt ja gerne einen Blick über den Ärmelkanal zu den Inselaffen werfen und über die Mass Observation von Tom Harrison und das Centre for Contemporary Cultural Studies in Birmingham reden, aber ich hebe mir das für ein anderes Mal auf. Wenn es in drei Metzler Lexika keine Volkskunde und keinen Hermann Bausinger gibt (und wenn man wie viele der neuen Generation cultural studies Spezialisten noch nie etwas von Raymond Williams, Richard Hoggart, Stuart Hall oder Dick Hebdige gehört hat), dann könnte man auf die Idee kommen, es handelt sich bei dem Ganzen um eine wissenschaftliche Chimäre.
Aber dem ist natürlich nicht so. Hermann Bausingers Typisch deutsch: Wie deutsch sind die Deutschen? hat mehrere Auflagen erlebt, und bei Amazon sind viele Bücher von Bausinger noch lieferbar. Leider nicht mehr lieferbar ist der 63. Band der Schriften des Tübinger Instituts Jeans: Beiträge zu Mode und Jugendkultur, der eigentlich das Zeug zu einem Bestseller hatte. Von einem Kollegen Bausingers, dem emeritierten Professor Rolf Wilhelm Brednich, stammen allerdings eine Vielzahl von Titeln, von denen jeder schon gehört hat. Wie Die Spinne in der Yucca-Palme. Sagenhafte Geschichten von heute (1990), Die Maus im Jumbo-Jet. Neue sagenhafte Geschichten von heute (1991), Das Huhn mit dem Gipsbein. Neueste sagenhafte Geschichten von heute (1993) und Die Ratte am Strohhalm. Allerneueste sagenhafte Geschichten von heute (1996). Auch diese urban folklore fällt unter das Forschungsinteresse des Faches. Das Fach hat sich, dank Hermann Bausinger, von einem kleinen Orchideenfach zu einem wichtigen Fach gewandelt, dessen Untersuchungsgegenstände so vielfältig sind wie die uns umgebenden Kulturen. Vielleicht sollte Thilo Sarrazin sich jetzt, wo er soviel Freizeit hat, mal am Ludwig Uhland Institut in Tübingen als Student immatrikulieren.
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