Der Göttinger Geschichtsprofessor Hermann Heimpel ist heute vor zweiundzwanzig Jahren gestorben. Er war nach dem Krieg ein bedeutender Mann. Er hätte Kultusminister von Niedersachsen werden können und war als Kandidat für die Nachfolge von Theodor Heuss im Gespräch. Das alles weiß ich noch aus der Presse, weil Heimpel dort immer wieder erwähnt wurde. Vorsitzender der Westdeutschen Rektorenkonferenz, erster Direktor des Max Planck Instituts für Geschichte etc. Er war damals einer der bekanntesten deutschen Historiker. Obgleich sein Göttinger Kollege Percy Ernst Schramm auch weit über Göttingen hinaus bekannt war. Nicht zuletzt deshalb, weil er das Kriegstagebuch der Wehrmacht geführt hatte.
Ich habe Hermann Heimpel nicht gekannt, aber ich kenne eine Menge Leute, die bei ihm studiert haben. Und er hat Heike mal wegen ihrer schönen blauen Augen zum Kaffeetrinken in die Mensa eingeladen. Er soll ein großes Charisma besessen haben. Ich hätte nicht gewusst, dass er noch aus einem anderen Grund in Deutschland bekannt war, wenn mich nicht Ignaz Miller dazu gebracht hätte, Die halbe Violine: Eine Jugend in der Haupt- und Residenzstadt München zu lesen. Ignaz Miller ist ein promovierter Mediävist, er hat Heimpel sehr gut gekannt, und ich bin ihm ewig dankbar, dass er mir diese poetischen Jugenderinnerungen empfohlen hat. Es war mein schönstes Leseerlebnis im letzten Jahrzehnt. Ähnliches müssen viele Leser gedacht haben, denn das im Insel Verlag erschienene Buch (zuerst Stuttgart: K.F. Koehler, 1949) ist immer wieder aufgelegt worden.
Es gibt einen anderen Hermann Heimpel, den Hermann Heimpel vor 1945, der leider 1933 die Nationalsozialisten begrüßt hat, aber nie Parteimitglied war. Der ist heute das Objekt von jüngeren Wissenschaftlern, die weder das so genannte Dritte Reich, noch den Krieg oder die Nachkriegszeit erlebt haben und aus einzelnen Dokumenten begierig eine Nazikarriere des Historikers konstruieren wollen. Das wird ja hierzulande neuerdings überall betrieben. Es ist nicht mehr der Vatermord der Söhne in den sechziger Jahren, jetzt ist eine Enkelgeneration dabei, mit ein wenig Schmutz zu werfen. Nach 1945 hat es keine Vorwürfe gegen ihn gegeben. Kein Geringerer als Werner Heisenberg hat 1946 im Entnazifizierungsverfahren in einem Gutachten gesagt: Ich kenne Herrn Heimpel durch die lange Zeit gemeinsamer Arbeit an der Universität Leipzig; insbesondere war ich mit ihm durch eine kleine Gruppe von Kollegen, die zu Vorträgen und Diskussionen regelmäßig zusammentraten, freundschaftlich verbunden. Ich weiß aus vielen Gesprächen, daß Herr Heimpel die politische Entwicklung in Deutschland seit 1933 mit der größten Sorge verfolgt hat und daß die Ideologien und Schlagworte der damaligen Regierung auf ihn nicht den geringsten positiven Eindruck gemacht haben. [...] Herr Heimpel hat in allen Fällen, die mir bekannt sind, die Sache der Wissenschaft und die Sache des Rechtes gegenüber den Angriffen der sogenannten Weltanschauung und der Gewalt vertreten.
Und ähnlich äußert sich einer seiner Studenten: Nie werde ich vergessen, wie der Historiker Hermann Heimpel, gerade aus Rußland zurückgekehrt, seinen Schüler Hermann Mau nach einem großartigen Referat über Odilo von Cluny gegen Angriffe eines Ordinarius verteidigte, der dem germanischen Artglauben Alfred Rosenbergs eine akademische Legitimation zu verschaffen suchte. Der Streit geriet schon im zweiten Schlag-Abtausch ins Politische, im dritten ins Weltanschauliche. Hermann Heimpel, weiß vor Wut über Inhalt und Niveau der gegnerischen Vorwürfe, offenbarte rückhaltlos seine Meinung. Sein Ausbruch schloß mit der Empfehlung, der Herr Religionswissenschaftler möge endlich selber an die Front gehen und nachprüfen, an welchen Gott die Soldaten dieses Volkes glaubten. Es gab kurzen, heftigen Beifall, dann erschrecktes Schweigen, niemand widersprach. Alle gingen nach Hause in der Erwartung, daß noch in der gleichen Nacht die Gestapo erscheinen und jeden Teilnehmer zum Verhör holen werde. Aber es geschah nichts dergleichen. Das halbe Hundert akademischer Bürger, darunter einige, die gründlich miteinander zerstritten waren und sich von Herzen haßten, darunter auch ein höherer SD-Führer, wahrte das Schweigen.
Von all dem, Vorwürfen und Entschuldigungen, habe ich damals nichts gewusst, als ich Die halbe Violine las. Wenn Thomas Mann nicht schon den Titel München leuchtet gebraucht hätte, ich hätte ihn diesem Buch gegeben, es ist ein großes Stück Literatur, Thomas Mann hätte es nicht besser schreiben können. Aus unerklärlichen Gründen zog es mich an wie Le Grand Meaulnes von ➱Henri Alain-Fournier. Vertrauensvoll ergreift ein Kind die Hand des Lesers. Es spricht: Komm mit! Ich will dich führen! Wohin? In eine Zeit um dreißig, wohl vierzig Jahre zurück. So könnte es zunächst antworten. Doch sagt es lieber gleich: Ich führe dich an den Rand der Ewigkeit, an den Uranfang der Tage, den auch du kennst, wenn du nur dein Ohr an das innerste Klopfen deines Herzens legen willst; ich führe dich zurück in die Zeit deiner ersten Jugend, wo der Mensch den Ahnungen der Ewigkeit so nahe steht, den ersten Dämmerungen alles geschichtlichen Lebens! Das ist nun nicht von Heimpel. Ich war gerade eben versucht, Sie ein wenig in die Irre zu führen. Das ist der Anfang der Autobiographie von Karl Gutzkow. Die auch sehr lesenswert ist, wenn sie auch nicht diese magische, poetische Stimmung von Die halbe Violine zu evozieren vermag.
Als Heimpel dieses Buch schreibt, ist der Krieg zu Ende. Er hat jetzt Zeit über sein Leben und das Dritte Reich nachzudenken. Und in genau dieser Zeit, in der er die hochpoetischen Jugenderinnerungen schreibt, geschieht in seiner Familie etwas, was noch einen Band Jugenderinnerungen hervorbringen wird, auf dem auch der Name Heimpel steht. Diesmal ist es Christian Heimpel, sein Sohn, und das Buch heißt Bericht über einen Dieb. Es ist ein schmaler Band, 48 Seiten stark. Mehr braucht der Autor nicht, um ein schreckliches Erlebnis zu beschreiben, das ein ganz anderes Licht auf Hermann Heimpel wirft. Und ich bin an dieser Stelle versucht, noch einmal die Zeilen they fuck you up, your mum and dad von Philip Larkin zu zitieren.
Am 18. März 1945 wurde der Dieb, laut Anklage ein Dieb von »unbegreiflicher Geschicklichkeit, unheimlichem Scharfblick und verbrecherischem Instinkt«, wir dürfen also annehmen einer der schlimmsten Diebe des südlichen Schwarzwaldes, aus dem dunklen Hause fortgebracht. Es war frühmorgens, vor einem jener Tage, in denen der Winter nicht in den Frühling übergeht, den es hier nicht gibt und dessen Ausbleiben der an sich sanften Landschaft die etwas pathetische Bezeichnung »Hochschwarzwald« rechtfertigen mag. Der zusammengesunkene Schnee war verharscht, der Morgenwind drang durch die Trainingshose des Diebes. Er wurde von seinen Führern, die vorher auch seine Ankläger, Richter und Strafvollzugsorgane gewesen waren, seinen Eltern, mehr begleitet als bewacht – wohin sollte er auch fliehen –, gewissermaßen also in Schutzhaft genommen, um von seinem Elternhause in ein Heim gebracht zu werden, worin für seine Bewacher und Erzieher die einzige Aussicht auf wenn nicht Besserung, so doch das ebenso wertvolle Rechtsgut des Schutzes der Gesellschaft vor seinen Diebes- und, wir fügen es gleich hinzu, Brandstiftertaten lag.
So beginnt Christian Heimpel seine Selbstbeschreibung, der schlimmste Dieb des südlichen Schwarzwaldes ist damals sieben Jahre alt. Er hat die ihm zur Last gelegten Straftaten nicht begangen, die Heimpels haben ein völlig durchgeknalltes Dienstmädchen, das all diese Sachen dem jüngsten Heimpel unterschiebt. Seine Eltern verprügeln ihn, wieder und wieder, denn der zu Unrecht Verdächtigte, weiß gar nicht was er zugeben soll: Ein Kind sollte beim Leugnen vorsichtig sein, denn Leugnen ruft keine Zweifel an der Schuld eines Kindes hervor, sondern spricht gegen den Angeklagten. Die wesentlichen Grundsätze von Rechtsprechung und Demokratie – damals in Deutschland auch unter den Erwachsenen nicht in Kraft – gibt es in der Institution, die doch die Ur- und Keimzelle des Staates sein soll, der Familie, allenfalls in sehr reduzierter Form. Dies ist natürlich, denn ein Kind muß lernen, was nicht demokratisch erfolgen kann, da das unbelehrte Kind nicht weiß, was für es selbst gut ist.
Es ist eine subtile Form der Ironie, mit der Christian Heimpel hier sein Schicksal beschreibt. Er ist auch noch sechzig Jahre nach dem Ereignis bereit, alle möglichen Entlastungsgründe für das Handeln seiner Eltern zu finden. ...der Krieg und die zwölf Jahre hatten die Erwachsenen gelehrt, keine Fragen zu stellen, und schon gar keine, die sie selbst in Frage stellten. Die Frage: Was tun wir hier eigentlich, wenn wir ein Kind vom Weihnachtszimmer ausschließen und mit Brot »ohne Aufstrich«, wie die Mutter in ihrem Tagebuch festhält, den ganzen Tag in sein Zimmer sperren und es mit einem Stock oder einer Reitpeitsche »durchhauen«, auch diesen Ausdruck entnehmen wir dem mütterlichen Tagebuch, wenn wir keine drei Monate nach der Entdeckung seiner Verbrechernatur – für die Erwachsenen eine sehr kurze, für ein Kind aber eine sehr lange Zeit – schon nach einer Erziehungsanstalt suchen, diese Frage wurde jedenfalls in diesen Tagen nicht gestellt, sondern erst viele Jahre später.
Erziehungsanstalt, das ist das Einzige, was dem Geisteswissenschaftler Hermann Heimpel, der so gelehrt und feinsinnig über das Mittelalter schreiben kann, einfällt. Und selbst, als sich seine Unschuld herauszustellen beginnt, gibt es für das Kind keine völlig Rehabilitation. Das ist das Schreckliche an dem Ganzen. Offenbar hat der Professor Heimpel, der immer ein religiöser Mensch gewesen ist, niemals von dem Bibelwort gehört Welcher ist unter euch Menschen, so ihn sein Sohn bittet ums Brot, der ihm einen Stein biete? oder, so er ihn bittet um einen Fisch, der ihm eine Schlange biete? So denn ihr, die ihr doch arg seid, könnt dennoch euren Kindern gute Gaben geben, wie viel mehr wird euer Vater im Himmel Gutes geben denen, die ihn bitten !
Hermann Heimpel, der vielleicht in den zwölf Jahren zwischen 1933 und 1945 eine moralische Schuld auf sich genommen hat, tritt hier auf wie ein Richter der Inquisition - oder liegt die Kenntnis dessen schon außerhalb des Bereiches eines Mediävisten? Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet. Das unschuldige Kind wird für schuldig erklärt. Und während all dies im Hause Heimpel geschieht, schreibt der Professor die zauberhafte Geschichte seiner goldenen Jugend in der Residenzstadt München. Wie groß war die Welt ausgespannt zwischen dem nie geschnittenen Wildgras, den Tausenden von Maiglöckchenblättern und dem Himmel, hinweg über das schwindelnde Neigen der Astspitzen. Gott, du bist bei mir. Der Schöpfer dieses Käfers (nie betrachtete Erhard diese Tiere genau oder hätte sie fangen wollen), Herr der Sterne (nie empfand Erhard den Trieb, sie zu benennen), Urheber der Liebe, die da drüben wohnt, in dem Haus, wo die Eltern wohl gerade den Mittagsschlaf beenden; schon steigt der saubere Holzrauch aus dem Kamin, bald gibts den Kaffee. Erhard springt vom Apfelbaum. Steil fällt der Hang zum Zaun. Erhard gleitet durch das hohe, harte Gras hinunter, umfaßt zwei Zaunlatten, sucht mit dem Daumen den tief im Holz versenkten kühlen Nagelkopf; schüttere Rinde schält sich in die Handflächen. Man muß sich manchmal festhalten. Oder plötzlich sinnlose Worte sagen, oder galoppieren. Vor Glück. Vor Einsamkeit. Vor Erwartung. Vor der Nähe Gottes.
Solche Sätze stehen nicht in der Jugenderinnerung des Sohnes. Er hat seinem Text ein Zitat von Rudyard Kipling vorangestellt: ... wenn einmal junge Lippen einen tiefen Trunk aus den bitteren Wassern des Hasses, des Mißtrauens und der Verzweiflung getan haben, kann alle Liebe dieser Welt dieses Wissen nicht mehr vollkommen auslöschen. Hätte er nicht doch lieber they fuck you up, your mum and dad nehmen sollen?
Hermann Heimpel, der vielleicht in den zwölf Jahren zwischen 1933 und 1945 eine moralische Schuld auf sich genommen hat, tritt hier auf wie ein Richter der Inquisition - oder liegt die Kenntnis dessen schon außerhalb des Bereiches eines Mediävisten? Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet. Das unschuldige Kind wird für schuldig erklärt. Und während all dies im Hause Heimpel geschieht, schreibt der Professor die zauberhafte Geschichte seiner goldenen Jugend in der Residenzstadt München. Wie groß war die Welt ausgespannt zwischen dem nie geschnittenen Wildgras, den Tausenden von Maiglöckchenblättern und dem Himmel, hinweg über das schwindelnde Neigen der Astspitzen. Gott, du bist bei mir. Der Schöpfer dieses Käfers (nie betrachtete Erhard diese Tiere genau oder hätte sie fangen wollen), Herr der Sterne (nie empfand Erhard den Trieb, sie zu benennen), Urheber der Liebe, die da drüben wohnt, in dem Haus, wo die Eltern wohl gerade den Mittagsschlaf beenden; schon steigt der saubere Holzrauch aus dem Kamin, bald gibts den Kaffee. Erhard springt vom Apfelbaum. Steil fällt der Hang zum Zaun. Erhard gleitet durch das hohe, harte Gras hinunter, umfaßt zwei Zaunlatten, sucht mit dem Daumen den tief im Holz versenkten kühlen Nagelkopf; schüttere Rinde schält sich in die Handflächen. Man muß sich manchmal festhalten. Oder plötzlich sinnlose Worte sagen, oder galoppieren. Vor Glück. Vor Einsamkeit. Vor Erwartung. Vor der Nähe Gottes.
Solche Sätze stehen nicht in der Jugenderinnerung des Sohnes. Er hat seinem Text ein Zitat von Rudyard Kipling vorangestellt: ... wenn einmal junge Lippen einen tiefen Trunk aus den bitteren Wassern des Hasses, des Mißtrauens und der Verzweiflung getan haben, kann alle Liebe dieser Welt dieses Wissen nicht mehr vollkommen auslöschen. Hätte er nicht doch lieber they fuck you up, your mum and dad nehmen sollen?
Wundervolles Feuilleton! Danke.
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