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Donnerstag, 7. April 2011

Clarel


In chamber low and scored by time,
Masonry old, late washed with lime--
Much like a tomb new-cut in stone;
Elbow on knee, and brow sustained
All motionless on sidelong hand,
A student sits, and broods alone.

So fängt Melvilles Clarel: A Poem and Pilgrimage in the Holy Land an, das längste epische Gedicht (es ist auch länger als Paradise Lost oder die Ilias) der amerikanischen Literatur, das zur Hundertjahrfeier der Vereinigten Staaten 1876 erschien. Und 16.000 Zeilen später hört es so auf:

But through such strange illusions have they passed
Who in life's pilgrimage have baffled striven --
Even death may prove unreal at the last,
And stoics be astounded into heaven.

Then keep thy heart, though yet but ill-resigned --
Clarel, thy heart, the issues there but mind;
That like the crocus budding through the snow --
That like a swimmer rising from the deep --
That like a burning secret which doth go
Even from the bosom that would hoard and keep;
Emerge thou mayst from the last whelming sea,
And prove that death but routs life into victory.

Im Deutschen - ja, es gibt erstaunlicherweise seit wenigen Jahren eine vollständige Übersetzung von Rainer G. Schmidt - hört es so auf:

So wahre deinen Mut, obwohl du doch nur schlecht dich fügst --
Clarel, bei deinem Mut denke nur an die Ausgänge;
Daß, wie der Krokus durch die Schneeschicht knospt --
Daß, wie ein brennendes Geheimnis, das aus dem Busen
Gar sich löst, der es behüten wollte;
Du aus dem letzten übermächt'gen Meer auftauchen
Und erfahren mögest, daß Tod das Leben in den Sieg nur treibt


Dazu sage ich jetzt lieber gar nichts. Wenn man Clarel schon lesen will (und ➱Brigitte Kronauer hat es angeblich gelesen, wie ihre Rezension in der FAZ glauben macht), sollte man die 44 Euro, die die deutsche Ausgabe kostet, lieber in den Band 12 der Northwestern-Newberry Edition investieren. Kostet weniger und hat neben 500 Seiten Text noch mal einen kritischen Apparat von 400 Seiten. Da erfährt man auch, dass in dem Even death may prove unreal at the last, And stoics be astounded into heaven das Heaven at Last, Denique Coelum, versteckt ist. Ein kleiner injoke auf das Motto der schottischen Adelsfamilie Melville. Mit denen Herman irgendwie verwandt ist.

Melville hat die Idee zu Clarel von seiner Europareise mitgebracht, das Gedicht ist zwanzig Jahre in ihm gereift. 1857, als er von seiner Reise zurückkehrte, schrieb sein Onkel Peter Gansevoort: I am surprised that he has not made his travels the subject of a Lecture, to be herafter woven into a Book. Melville wird Clarel auch dem inzwischen verstorbenen Peter Gansevoort widmen, denn der hatte großzügigerweise den Druck bezahlt (er kannte das Werk nur aus Melvilles Manuskript). Erst drei Jahre nach der Europareise hatte Melville zum ersten Mal angefangen, sich an das Schreiben von Gedichten zu machen. Obgleich Moby-Dick ja eigentlich genug lyrische Passagen enthält. Melville musste den Rhythmus für das Gedicht und seine Stimme, den Ton erst finden. Seine Familie beobachtet ihn, wie er Verse skandierend durch das Zimmer wandert. Er hat seiner Familie verboten, irgendjemandem zu erzählen, dass er jetzt wieder dichtet. Pray do not mention to any one that Herman is writing poetry, schreibt Melvilles Frau an ihre Schwiegermutter.

Sechs Tage in der Woche marschiert der Zollinspektor Nummer 75 jeden Morgen zu seinem Arbeitsplatz im Zollamt des New Yorker Hafens. Auch Hawthorne hat einmal so angefangen. Und frecherweise gesagt: I have no reason to doubt my capacity to fulfill the duties, for I don't know what they are. Dann hat er The Custom-House geschrieben. Aber Melville schreibt nicht über das Zollamt, er ist froh, dass er diesen Job überhaupt bekommen hat. In den Nachtstunden schreibt er jetzt, fünf Jahre lang. Sein Leben ist schwer geworden, die Todesfälle in der Familie häufen sich. Sein Sohn hat Selbstmord begangen, die Familie droht auseinanderzubrechen. Aber er schreibt weiter an diesem riesigen Werk, das den Titel Clarel: A Poem and Pilgrimage in the Holy Land bekommen soll. Er schreibt gegen alle Frustrationen des Alltags an, er ist als Romanschriftsteller gescheitert, sein Gedichtband Battle-Pieces war ein Misserfolg. Dies ist, wenn man so will, ein letztes künstlerisches Aufbäumen. Dies ist sein Kampf mit dem Engel, der Kunst heißt. Andere Dichter würden sich jetzt aus Verzweiflung zu Tode saufen. Melville sagt nicht wie Bartleby I would prefer not to. Nein, er fängt wieder einmal neu an, mit einem narrativen Langgedicht, das sein persönlichstes Werk ist.

Melville ist damals ohne viel Gepäck nach Europa und in das Heilige Land gereist, er hatte nur seine carpetbag dabei. Jemand, der so lange zu See gefahren ist, weiß, was man in der Fremde braucht. Nathaniel Hawthorne, inzwischen amerikanischer Konsul in Liverpool und stinkebürgerlich geworden, beklagt die unsauberen Hemden, die Melville trägt. Die Freundschaft, die als Melville Moby-Dick schrieb noch von einer beinahe erotischen Intensität war, ist abgekühlt (obgleich manche Kritiker sagen, dass die Figur des Vine in Clarel ein Porträt Hawthornes sein soll). Hawthorne hat als Schriftsteller nichts mehr zu sagen. Melville schon. Und alle Zweifel an Gott, die er schon in Moby-Dick hineingeschrieben hatte, brechen jetzt bei der Reise in das Heilige Land wieder auf:  If Luther's day expands to Darwin's year, Shall that exclude the hope - forclose the fear? Es ist nur passend, dass er seinen Helden Clarel (der die gleiche Reiseroute wählt wie Herman Melville zwanzig Jahre vorher) einen Theologiestudenten sein lässt.

Yea, ape and angel, strife and old debate --
The harps of heaven and the dreary gongs of hell;
Science the feud can only aggravate --
No umpire she betwixt the chimes and knell:
The running battle of the star and clod
Shall run for ever -- if there be no God.

Es sind nicht nur die Zweifel von Captain Ahab an Gott, es sind auch, und da ist Clarel für das viktorianische Zeitalter mit seinen Bezügen auf Charles Darwin hochaktuell, die Zweifel des Zeitalters, in dem die Wissenschaft den Glauben verdrängt.

Shall Science the
Which solely dealeth with this thing
Named Nature, shall she ever bring
One solitary hope to men?

Melvilles Reisende im Heiligen Land finden nur ein Land, aus dem sich Gott zurückgezogen hat.

Yes, long as children feel affright
In darkness, men shall fear a God; And long as daisies yield delight
Shall see His footprints in the sod.
Is't ignorance? This ignorant state
Science doth but elucidate --
Deepen, enlarge. But though 'twere made
Demonstrable that God is not --
What then? It would not change this lot:
The ghost would haunt, nor could be laid.

Die Wüste, in der sich die Personen von Clarel bewegen, ist an die Stelle des Ozeans von Moby-Dick getreten (sands immense Impart the oceanic sense), aber die Wüste ist auch eine Metapher für eine spirituelle Wüste: The student mused: The desert, see, It parts not here, but silently, Even like a leopard by our side, It seems to enter in with us,-- At home amid men's homes would glide.

Man kann Clarel als ein Stück Reiseliteratur sehen, aber man würde es kaum mit Mark Twain The Innocents Abroad vergleichen. Das sich ja im Gegensatz zu Clarel gut verkauft hat, während Melville seinen spirituellen Reisebericht einem englischen Brieffreund resignierend als a metrical affair, a pilgrimage or what not, of several thousand lines, eminently adapted for unpopularity beschrieb. Melville muss mitansehen, dass das Werk, an dem er fünf Jahre geschrieben hat, von der Kritik nicht beachtet oder verrissen wird. Worte wie destitute of interest or metrical skill oder not six lines of genuine poetry in it wird Melville lesen müssen. Clarel ist das letzte große Werk, das zu seinen Lebzeiten erscheint (die Erzählung Billy Budd wird erst 1924 veröffentlicht werden). Die jahrelange Nachtarbeit wird von Publikum und Kritik nicht honoriert, with its length and its failure foreseen, an act of defiance, a scream for the scaffold hat Elizabeth Hardwick in ihrem kleinen Melville Band in der Reihe der Penguin Lives geschrieben.

Melville hat für die Form des Gedichtes den jambischen Tetrameter gewählt. Vor dem hatte Lord Byron die Dichter ja schon einmal gewarnt. Aber in den meisten Fällen geht das mit dem Vermaß auf. Das Ganze bekommt dadurch eine gewisse conversational quality und erinnert manchmal an Byrons Don Juan oder Arthur Hugh Cloughs Amours de Voyage. Viele Kritiker haben gesagt, dass Melville das wohl auch mit dem Blankvers erreicht hätte, aber dem widerspricht Walter E. Bezanson im Nachwort der Northwestern-Newberry Ausgabe. Der Blankvers fließt, der achtsilbige Vers engt ein. Und deshalb nimmt ihn Melville, weil er das Einengende der Zeit zeigen will: the tragedy of modern man, as Melville now viewed it, was one of constriction. Diese Melville Spezialisten sind schon sehr sophisticated. Aber zuzutrauen ist es Melville, denn wenn irgendein Autor sophisticated ist, dann ist es Melville.

Wahrscheinlich haben die meisten Rezensenten das Buch überhaupt nicht gelesen, Lewis Mumford musste im Jahre 1925 (als die Melville Renaissance begann) feststellen, dass die Seiten des Exemplars von Clarel in der New York Public Library noch nicht aufgeschnitten waren. Der Verlag hatte 350 Exemplare gedruckt, ungefähr ein Drittel wurde verkauft. Drei Jahre später wurde der Rest eingestampft. Heute sind Melville Erstausgaben ein kleines Vermögen wert.

Im Gegensatz zu den meisten zeitgenössischen Rezensenten habe ich Clarel wenigstens zum Teil gelesen (es würde mich schon interessieren, wie viel Frau Kronauer von der deutschen Übersetzung wirklich gelesen hat). Es ist keine leichte Lektüre, wie schon Melvilles Schwager John C. Hoadley feststellte: 'Clarel' ist not easy reading. It requires determined study, and my attention must be at its freshest, to relish it after several perusals. Man fängt es immer wieder an und schiebt es immer wieder auf. Das heb' ich mir für's Alter auf, ist die typische Entschuldigung. Als mir Professor Sandy Marovitz von der Kent State University vor Jahren sein kleines Buch Humanizing the Ideal: Melville and the Greeks geschenkt hat, habe ich ein schlechtes Gewissen bekommen und wieder in dem Versroman zu lesen angefangen. Leider hat Clarel auch Passagen, bei denen man sich fragt muss ich das wirklich lesen? Aber es gibt auch große Momente. Es gibt Teile von Clarel, die ich ganz gut kenne (wahrscheinlich picke ich mir immer das Beste heraus), aber ich bin immer noch nicht ganz durch. Irgendwann schaffe ich es.

Zumal ich mir jetzt aus dem Internet ein searchable Word Document (Sie finden die Version auf dieser Seite) von Clarel heruntergeladen habe, 358 Seiten lang, aber immens übersichtlich. Und der Computer findet in Sekunden jedes Zitat. Wenn Sie wollen, können Sie im Internet in der von Walter E. Bezanson 1960 herausgegebene Ausgabe lesen. Natürlich findet der Computer, wenn man richtig füttert, auch Sekundärliteratur zu Clarel, bis zum Abwinken. Es ist eine neue Welt, über die ich immer wieder nur staunen kann. Am meisten hat mich erstaunt, dass der große Melville Forscher Hershel Parker (Mitherausgeber der Northwestern-Newberry Ausgabe von Clarel), der die ultimative Melville Biographie geschrieben hat, hier bei blogspot einen Blog hat. Da habe ich mich doch gleich als Leser eingetragen.

Literaturhinweise: Die zweibändige Melville Biographie von Hershel Parker (941 und 997 Seiten) bleibt das Maß aller Dinge. Wenn Sie antiquarisch Jay Leydas Melville Log entdecken, greifen Sie zu. Wenn Sie nur ein einziges Buch über Herman Melville lesen wollen, dann sollte das Andrew Delbancos Melville: His World & Work sein, gibt es seit 2007 auch in deutscher Sprache. Die Zeitschrift Schreibheft hatte in Heft 63 (2004) Teile der deutschen Übersetzung und einen Essay von Alexander Pechmann über Clarel. Die Bilder im Text sind von Melvilles Zeitgenossen Frederic Church.


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