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Sonntag, 26. Juni 2011

Karl Philipp Moritz


Da hat es unser kleines Kaff Vegesack einmal geschafft in die große Literatur zu kommen. Der Held des „psychologischen Romans“ Anton Reiser von Karl Philipp Moritz erlebt 1786 den Anblick des Vegesacker Hafens mit den Schiffen als unbeschreiblich ergötzlich: Den Nachmittag erreichte er Vegesack und betrachtete hier mit hungrigem Magen, was er noch nie gesehen hatte, eine Anzahl dreimastiger Schiffe, die in dem kleinen Hafen lagen. – Dieser Anblick ergötzte ihn ohngeachtet des mißlichen Zustandes, worin er sich befand, unbeschreiblich – und weil er an diesem Zustande durch seine Unbesonnenheit selber schuld war, so wollte er es sich gleichsam gegen sich selber nicht einmal merken lassen, daß er nun damit unzufrieden sei.

Viele Reisende werden ihm bezüglich der landschaftlichen Schönheit später zustimmen, zum Beispiel Friedrich Engels, der von 1838 bis 1841 in Bremen lebte. Vegesack ist die Oase in der bremischen Wüste, schreibt er 1841 im Morgenblatt für gebildete Leser nach einer Reise mit dem Dampfer Roland von Bremen nach Bremerhaven. In Vegesack gibt's Berge von 60 Fuß Höhe, und der (Stadt-)Bremer spricht wohl von der 'Vegesacker Schweiz'. Ehe man hinkommt, sieht man eine Menge Schiffsrümpfe in der Weser liegen, teils ausgediente, teils hier neugebaute. Gleich hinter Vegesack versucht das Sandmeer wirklich bedeutende Wellen zu schlagen und senkt sich ziemlich steil in die Weser hinein. Hier liegen die Villen der Aristokraten, deren Anlagen das Weserufer eine kleine Strecke hin wirklich sehr verschönern.

Na ja, Aristokraten sind das ja nicht gerade, Engels übt sich wohl noch in der klassenkämpferischen Terminologie. Pfeffersäcke wäre das passende Wort gewesen. Aber was er hier beschreibt, findet sich ähnlich in einer Vielzahl von Berichten. Wenn man das 1850 gemalte Bild von Vegesack von Carl Justus Fedeler (oben) im Ortsamt Vegesack betrachtet, muss der Ort in der Jahrhundertmitte einen eindrucksvollen Anblick geboten haben. Im 19. Jahrhundert werden die touristischen Schiffreisenden, die Nachfolger der englischen Reisemanie des 18. Jahrhunderts, in dieser Gegend gerne verweilen. Die Geestkante an Weser und Lesum wird flugs in Vegesacker oder Lesumer Schweiz umgetauft. Wenn schon kein Erlebnis des Erhabenen in den Alpen, dann doch das des Pittoresken in der Lesumer Schweiz. Wenn die Bremer sich den Anblick der Gebirgsländer im Kleinen verschaffen wollen, so wallfahrten sie nach St. Magnus urteilt 1822 Professor Adam Storck in Ansichten der Freien Hansestadt Bremen, um wenige Seiten später, ganz im Sinne der Romantik, die Stimmung an der Lesum im Sonnenuntergang mit Sir Walter Scotts The Lady in the Lake zu vergleichen. Ja, die Romantik neigt schon ein wenig zur Übertreibung.

Von der Schönheit des alten Ortes ist wenig übrig geblieben. Die Bremer SPD hat Hand in Hand mit Immobilienspekulanten mit dem Instrument des Städtebauförderungsgesetzes den Ort plattgemacht. Und hinterher sagte der Bürgermeister Hans Koschnik auf einem Wahlplakat: Zugegeben, was in Vegesack passiert ist, war nicht schön. Etwas schlimmer fand das schon der Stern Reporter Günther Schwarberg, der im Stern eine lange, leidenschaftliche Anklage publizierte. Er kommt aus dem Ort, und er hat auch über unseren Kriegsverbrecher Többens geschrieben. Heute ist der Ort, den man früher mit Blankenese verglich, kurz davor, ein Slum zu werden. Soviel zur Städtebauförderung.

Das alles kann der junge Anton Reiser nicht ahnen, wenn er als hungriger Geselle, der entwürdigenden Behandlung in einer Hutmacherlehre entkommen, auf dem Wege nach Bremen zum ersten Mal Vegesack sieht. Anton Reiser ist sicherlich auch ein autobiographischer Roman über einen hoch begabten Heranwachsenden, der viel Leid und Elend erfährt. Eine Seelenzergliederung in Romanform, aber keine from rags to riches Story, es gibt kein happy ending für Anton Reiser. In der Vorrede zum dritten Teil schreibt der Autor: Mit dem Schluß dieses Teils heben sich Anton Reisers Wanderungen und mit ihnen der eigentliche Roman seines Lebens an. Das in diesem Teil Enthaltne ist eine getreue Darstellung der Szenen seiner Jünglingsjahre, welche andern, denen diese unschätzbare Zeit noch nicht entschlüpft ist, vielleicht zur Lehre und Warnung dienen kann. Vielleicht enthält auch diese Darstellung manche nicht ganz unnütze Winke für Lehrer und Erzieher, woher sie Veranlassung nehmen könnten, in der Behandlung mancher ihrer Zöglinge behutsamer und in ihrem Urteil über dieselben gerechter und billiger zu sein!

Der Roman ist nicht ohne Vorbilder (auch wenn noch niemand zuvor den Untertitel Ein psychologischer Roman verwendet hat), eines schreibt Moritz selbst in den Roman hinein, wenn es im Dritten Teil heißt: Zu diesem allen kam nun noch, daß gerade in diesem Jahre die 'Leiden des jungen Werthers' erschienen waren, welche nun zum Teil in alle seine damaligen Ideen und Empfindungen von Einsamkeit, Naturgenuß, patriarchalischer Lebensart, daß das Leben ein Traum sei usw., eingriffen. Der Name Rousseau, dessen Confessions den Roman sicher auch beeinflusst haben, fällt im Text allerdings nie.

Es ist sicherlich für den Leser etwas unbefriedigend, dass der Roman des Autors, der in der Vorrede des Vierten Teils über seinen Helden gesagt hatte: Widerspruch von außen und von innen war bis dahin sein ganzes Leben. – Es kömmt darauf an, wie diese Widersprücke sich lösen werden! diese Lösung der Widersprüche nicht bieten kann. Außer der Erkenntnis, dass es kein richtiges Leben im falschen geben kann. Auch wenn der Roman nicht diese durchkomponierte Geschlossenheit des Werther und der Confessions aufweist und streckenweise auch wohl öde und abstoßend ist (so Moritz' Biograph Hugo Eybisch im Nachwort der alten Insel Ausgabe), bleibt er ein einzigartiges Werk in der deutschen Literatur. Natürlich auch, weil Vegesack drin vorkommt. Das kommt bei Goethe nämlich nicht vor. Obgleich der den Ort durchaus kannte, denn da wohnte sein Brieffreund Albrecht Roth (und mit Nikolaus Meyer hat er noch einen zweiten Bremer Brieffreund).

Karl Philipp Moritz, den Goethe als einen jüngeren Bruder empfand (Moritz ist hier, der uns durch »Anton Reiser« und die »Wanderungen nach England« merkwürdig geworden. Es ist ein reiner, trefflicher Mann, an dem wir viel Freude haben) und den Jean Paul verehrte, ist heute vor 218 Jahren gestorben.

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