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Sonntag, 11. September 2011

Joachim Maass


Für den begabtesten und erfreulichsten unter den jüngeren deutschen Romanciers halte ich den Hamburger Joachim Maass, schrieb Hermann Hesse in den dreißiger Jahren. Wer kennt heute noch Joachim Maass? Er ist wohl großenteils vergessen. Nicht ganz, sagte mir Herr ➱Eschenburg, als ich in seinem Antiquariat vorgestern eine Erstausgabe von Der Fall Gouffé (der größte Verkaufserfolg des Autors) kaufte. Alle Bände von Joachim Maass, die er letztens mal angekauft hätte, seien ratzfatz wieder weg gewesen. Nun, in diesem Antiquariat wundert mich das nicht so sehr, weil die Kunden hier zum größten Teil wirkliche Leser sind. Wer Bücher von Charlotte Roche kaufen will, geht wohl nicht in diesen Laden.

Die zählt ja neuerdings auch irgendwie zur deutschen Literatur, wie Helene Hegemann und Uwe Tellkamp. Um meine bêtes noires mal wieder zu nennen. Irgendwie wünschte ich mir, mehr Menschen würden Wilhelm Raabe und Theodor Fontane lesen. Oder solch zu Unrecht vergessenen Autoren wie ➱Albert Vigoleis Thelen, ➱Wolf von Niebelschütz und ➱Otto Flake. Und natürlich Joachim Maass. Der wurde heute vor 110 Jahren in Hamburg geboren, und ich nehme das mal eben zum Anlass, um ein paar Nettigkeiten über diesen Schriftsteller zu sagen.

Das erste Buch, das ich von ihm las, hieß Kleist: Die Fackel Preußens. Für mich war das Buch damals ein Leseerlebnis. Für die meisten deutschen Literaturkritiker auch. So schrieb Friedrich Sieburg in der Frankfurter Allgemeinen: Maass widerlegt, daß Thomas Mann keine Nachfolge haben könne. Ein vortreffliches Buch, ein Meisterwerk. Bisher gab es kein Buch, in dem Kleist so vollständig zum Vorschein gekommen wäre. Und Hermann Hesse sekundierte: Dieses Buch zählt zu den paar besten Funden, die ich in den letzten Monaten gelesen habe. Keiner sollte es sich entgehen lassen. Nur der Rezensent der Zeit war damals ein wenig nörgelig und stellte statt Die Fackel Preußens eher die Leistung von Helmut Sembdner mit seinem Sammelband Heinrich v. Kleists Lebensspuren. Dokumente und Berichte der Zeitgenossen heraus. Dagegen ist nichts zu sagen, Sembdners Band markiert sicher den Beginn der seriösen deutschen Kleistforschung, wenige Jahre später gab Sembdner bei Hanser ja Kleists Werke heraus.

Ich weiß nicht, wie die heutige Kleistforschung über das Buch von Joachim Maass denkt, aber es ist mir auch egal. Die scheinen sich nur dafür zu interessieren, ob Kleist schwul war. Es gibt da ja einige emphatische Briefe, aus denen man so etwas herauslesen kann. Nicht, dass diese Briefe Joachim Maass unbekannt gewesen wären, aber es entlockt ihm nur den Satz: Wenn man nicht wüßte, daß der Gegenspieler ein Mann war, ließe sich ganz gut denken, daß es sich um eine Frau gehandelt hätte, ein enttäuschtes Liebesverhältnis, so verwirrend intim klingt es. Ich lasse es auch mal, mich weiter über die deutsche Kleistforschung zu mokieren, das kann ich noch am 21. November tun. Obgleich ich zwei Ratschläge hätte: 1.) Lesen Sie niemals das total schwachsinnige Buch von Helga Gallas Das Textbegehren des 'Michael Kohlhaas': Die Sprache des Unbewussten und der Sinn der Literatur. 2) Wenn Sie etwas wirklich Originelles über Kleist lesen wollen, dann lesen Sie ➱László F. Földényi Heinrich von Kleist: Im Netz der Wörter. Und über den Rest reden wir am zweihundertsten Todestag des Dichters.

Das nächste Buch von Joachim Maass, das mir in die Hand fiel, hieß: Die Geheimwissenschaft der Literatur: Acht Vorlesungen zur Anregung einer Ästhetik des Dichterischen. Es waren Vorlesungen, die der nach Amerika emigrierte Schriftsteller am Mount Holyoke College gehalten hatte. An diesem exklusiven College war er durch die Vermittlung der Carl Schurz Gesellschaft Professor geworden. Zum Dank dafür hat er auch ein Buch über Carl Schurz geschrieben. Mit seinen Vorlesungen will der Verfasser, so damals die Münchner Neue Zeitung, Dämme setzen gegen die Verlotterung des künstlerischen Wertgefühls und der literarischen Kritik. Das ist natürlich ein hoffnungsloses Unterfangen. Die ganzen Fuzzis, die sich heute an den Universitäten mit Literaturtheorie beschäftigen, kämen natürlich nie auf die Idee, Joachim Maass zu lesen. Weil sie nur Foucault, Lacan, Derrida und so etwas lesen, alles, was poststrukturalisch, postmodern und postcolonial ist. Die queer studies nicht zu vergessen, die nachweisen, dass jeder Schriftsteller schwul oder lesbisch ist. Eine Generation vorher war für diese Sorte Kritiker alles, was in einem literarischen Text länger als breit war, ein Penissymbol.

In einer der letzten Sendungen der Münchener Lach- und Schießgesellschaft las Henning Venske eine Seite aus einem poststrukturalistischen Theoriewerk vor. Das Publikum krümmte sich vor Lachen. Und dann sagte Henning Venske mit gespielter Ernsthaftigkeit: Sie lachen ja nur, weil Sie es nicht verstehen. Von all dem haben die Vorlesungen von Joachim Maass nichts. Sie sind getragen von einer Liebe zur Literatur und von einer großen Kennerschaft. Wenn man sie liest, wird man nicht lachen, weil man den Sprecher nicht versteht. Das ist der Unterschied zwischen Joachim Maass und Helga Gallas.

Der erste Roman, den ich von Joachim Maass las, hieß Das magische Jahr. Aus mir unerklärlichen Gründen steht er seit Jahren auf meinem Nachttisch. Es ist der einzige Roman, der da steht. Sonst ist da nur noch ein literaturtheoretisches Werk, das so abschreckend langweilig ist, dass man nach einer Seite Lektüre einzuschlafen droht. Aus genau dem Grunde steht es da, moderne Literaturtheorie ist besser als jede Schlaftablette. Das magische Jahr, eine Erstausgabe von 1957, noch mit originalem Schutzumschlag, steht natürlich da, um gelesen zu werden. Das mit der Erstausgabe ist nicht so ganz richtig, weil dies die Ausgabe des Kurt Desch Verlages ist. Die wirkliche Erstausgabe war die des Fischer Verlags New York 1944, The Magic Year (in der Übersetzung von Erika Meyer, einer Kollegin von Maass am Holyoke College) und die von Berman-Fischer 1946 in Stockholm. Die Illustration für die Buchumschläge besorgte in beiden Fällen Brigitte Berman-Fischer. Der literarische Erfolg war leider ausgeblieben, worunter Joachim Maass bei diesem mit Herzblut geschriebenen Bekenntnisbuch sehr gelitten hat. Er ist dann später dem Verleger Kurt Desch (den Maass als eine Ausnahme unter der Verlegern bezeichnet hat) gelungen, dass Werk von Joachim Maass für seinen Verlag zu sichern und ab der Mitte der fünfziger Jahre neu herauszubringen.

Das magische Jahr beginnt mit drei kursiv gesetzten Einleitungskapiteln im Winter in Amerika, Im fremden Schnee heißt das erste dieser Kapitel. Auch wenn der Erzähler Jakob Andermann heißt, dürfen wir doch annehmen, dass er Joachim Maass selbst ist. Dies ist ein autobiographisches Buch über eine Kindheit in Hamburg. Und als Kindheitsbericht hat es etwas von Hermann Heimpels Die halbe Violine, das ja wenig später geschrieben wurde. Es ist auch ein ehrliches Buch, das nichts beschönigt, Jakob Andermann sagt gleich am Anfang, dass er nicht als politischer Flüchtling nach Amerika gekommen ist.

Ja, dessen will ich mich nicht rühmen, ich bin kein 'Opfer'; ich bin nur aus dem Kotregen der Zeit davongerannt, bis ich in diese Einsamkeit kam, die kalt und sauber ist. Mein Geruchssinn ist zu verwöhnt für Gestank, mein Instinkt zu empfindlich für Lüge und Verdrehung, meine Vorstellungskraft zu deutlich für Mord und Folter im Verborgenen. Und besser auf jeden Fall im Einsamen als unterm Pöbel, der sich im eigenen Drecke suhlt! Es ist auch ungefährlicher: bin ich nicht wohlgeschützt in diesem schnee-umflirrten Häuschen? Ein anderer Jonas im Walfischbauche?

Und da, in der amerikanischen Schneeeinsamkeit, schreibt er, während draussen der Krieg tobt, seine Geschichte auf. In einer Sprache, die viele Rezensenten an Thomas Mann erinnerte. Mich erinnerte manches an den Bremer Schriftsteller ➱Friedo Lampe und den Stil des Magischen Realismus der dreißiger Jahre. Womit ich wohl nicht so weit daneben liege, denn Maass und Lampe kannten sich gut. 1932 hatte Friedo Lampe in Hamburg seinen im Entstehen begriffenen Roman Am Rande der Nacht vorgelesen, eine hundeschöne Dichtung hatte Maass das genannt. Gleich nach dem Krieg, als Berman-Fischer Joachim Maass zum Herausgeber der Neuen Rundschau bestellt hatte, schrieb Joachim Maass in der Neuen Rundschau über seinen auf so tragische Weise ums Leben gekommenen Kollegen.

Jemand, der seine Heimat verloren hat und in der neuen Heimat nicht wirklich heimisch  geworden ist, schreibt seine Kindheit auf, alles Glücks und alles Leides Anbeginn! Er will das unverlierbare Leben wiederfinden, dieser Hamburger Kaufmannssohn, der von sich sagt: Als ein Geschichten-Erzähler bin ich auf die Welt gekommen; das Geschichten-Erzählen ist immer meine Lust, zuweilen meine Qual und oftmals meine Rettung gewesen, auch damals, als die "Neue Zeit" in meinem Lande überhand nahm - und warum nicht heute auch, da rings um mich der Schnee, der fremde, überhand zu nehmen drohte? Und so geht er zurück in der Zeit, wo kein Wogenschlag den Frieden der Wahrheit stört: in der Tiefsee der Zeit. Gehen wir als Leser doch mit ihm zurück, die Lektüre des Buches lohnt es allemal.

1 Kommentar:

  1. "Lesen Sie niemals das total schwachsinnige Buch von Helga Gallas 'Das Textbegehren des 'Michael Kohlhaas': Die Sprache des Unbewussten und der Sinn der Literatur.'"

    Lieber Jay, hätten Sie doch nur schon vor zwanzig Jahren gebloggt!

    Herzliche Grüße
    Morgenländer

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