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Sonntag, 16. Oktober 2011

Albrecht von Haller


Dieses Gedicht ist dasjenige, das mir am schwersten geworden ist. Es war die Frucht der großen Alpen-Reise, die ich An. 1728 mit dem jetzigen Herrn Canonico und Professor Gessner in Zürich gethan hatte. Die starken Vorwürfe lagen mir lebhaft im Gedächtniß. Aber ich wählte eine beschwerliche Art von Gedichten, die mir die Arbeit unnöthig vergrößerte. Die zehenzeilichten Strophen, die ich brauchte, zwangen mich, so viele besondere Gemälde zu machen, als ihrer selber waren, und allemal einen ganzen Vorwurf mit zehen Linien zu schließen. Die Gewohnheit neuerer Zeiten, daß die Stärke der Gedanken in der Strophe allemal gegen das Ende steigen muß, machte mir die Ausführung noch schwerer. Ich wandte die Nebenstunden vieler Monate zu diesen wenigen Reimen an, und da alles fertig war, gefiel mir sehr vieles nicht. Man sieht auch ohne mein warnen noch viele Spuren des Lohensteinischen Geschmacks darin.

Ja, der Dichter hat es schwer. Das liegt auch wohl daran, dass er über einen großen Gegenstand dichtet, größer geht es nicht. Das Gedicht, zu dem das da oben die Vorrede ist, heißt Die Alpen. Es ist das, was die Fachwissenschaft ein Lehrgedicht nennt. Eine langsam aussterbende Literaturgattung, die damals noch von dem Hamburger ➱Brockes gepflegt wurde. Der hatte aber kleinere Gegenstände als Thema seiner Dichtung. Und er war ein wirklicher Dichter, Haller ist ein Universalgelehrter, der sich bemüssigt fühlt, nach antikem Vorbild zu dichten. Das sind die Schlimmsten. Erstaunlicherweise ist sein Gedicht (mit anderen in dem Versuch Schweizerischer Gedichten) zu seinen Lebzeiten begeistert aufgenommen worden, Lessing mal ausgenommen. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir sagen, dass es furchtbar dröge und langweilig ist. Aber lesen Sie es doch selbst bei ➱Zeno.

Den Inhalt können wir ganz kurz wiedergeben: die Schweizer haben die erhabene Natur, und in ihrer kargen Bergwelt führen die Bewohner ein moralisch vorbildhaftes Leben.

Ihr Schüler der Natur, ihr kennt noch güldne Zeiten!
Nicht zwar ein Dichterreich voll fabelhafter Pracht;
Wer mißt den äußern Glanz scheinbarer Eitelkeiten,
Wann Tugend Müh zur Lust und Armut glücklich macht?
Das Schicksal hat euch hier kein Tempe zugesprochen,
Die Wolken, die ihr trinkt, sind schwer von Reif und Strahl;
Der lange Winter kürzt des Frühlings späte Wochen,
Und ein verewigt Eis umringt das kühle Tal;
Doch eurer Sitten Wert hat alles das verbessert,
Der Elemente Neid hat euer Glück vergrößert.

Wohl dir, vergnügtes Volk! o danke dem Geschicke,
Das dir der Laster Quell, den Überfluß, versagt;

Das mit dem vorbildhaften Leben hört man bei der SHB Zürich und der Credit Suisse sicher immer noch gerne. Denn der Rest Europas, welsche Zwerge, ist moralisch versifft. Nur in der Schweiz gibt es die Freiheit:

Ein andrer, dessen Haupt mit gleichem Schnee bedecket,
Ein lebendes Gesetz, des Volkes Richtschnur ist,
Lehrt, wie die feige Welt ins Joch den Nacken strecket,
Wie eitler Fürsten Pracht das Mark der Länder frißt,
Wie Tell mit kühnem Mut das harte Joch zertreten,
Das Joch, das heute noch Europens Hälfte trägt;
Wie um uns alles darbt und hungert in den Ketten
Und Welschlands Paradies gebogne Bettler hegt;
Wie Eintracht, Treu und Mut, mit unzertrennten Kräften,
An eine kleine Macht des Glückes Flügel heften.


Wir sind im Jahre 1729, da mag der Rousseau vorwegnehmende Naturzustand ja vielleicht noch so sein. Aber wenn wir ehrlich sind, müssen wir natürlich sagen, dass diese Dichotomie - hie die armen, aber ehrlichen Hirten, dort die verdorbenen Stadtbewohner - seit der Antike ein alter Hut ist. Und die Sache mit Wilhelm Tell und der Freiheit geht inzwischen auch manchem Schweizer auf den Keks. Lassen wir doch mal eben einen Schweizer Professor sprechen: Die alpine Diskursgeschichte ist nicht frei von ironischen Koinzidenzen. 1971 publiziert Max Frisch seinen «Wilhelm Tell für die Schule», der sich auch gegen die nationalpädagogische Indoktrination wendet, zu welcher die Berge dieses Landes gebraucht werden. Binnen kurzem baut dann eine kritische Generation von Intellektuellen den nationalen Mythos so weit ab, dass sie «freie Sicht aufs Mittelmeer» fordern kann. Diese unerlässliche Dekonstruktion findet im Zeichen der Öffnung statt, doch die real existierenden Berge kann sie ebenso wenig beseitigen wie den internationalen Ruf der Schweiz als Bergland.

Wie ich diese Sprache liebe! Aber dennoch ist die ➱Seite, wo ich das Zitat gemopst habe, sehr interessant. Wenn Albrecht von Hallers Versuch Schweizerischer Gedichten erscheint, hat James Thomson seine ➱Seasons schon geschrieben. Auch da findet sich Naturbeobachtung gepaart mit moralischen Überlegungen, ist aber nicht so langweilig wie bei Albrecht von Haller. Der wurde heute vor 203 Jahren geboren, da dachte ich, ich schreibe was Nettes über den Mann, der die Alpen in die Literatur gebracht hat. Aber je mehr ich von ihm las, desto mehr wurde mir klar, dass ein großer Gegenstand in der Gedankenlyrik noch keine große Literatur macht. Unser Hamburger Dichter Barthold Heinrich Brockes, der über das Landleben in Ritzebüttel (wo es definitiv keine hohen Berge gibt) schreibt und den schönen Satz findet Nichts ist mir zu klein, und ich lieb es trotzdem, ist mir da viel lieber. Das sieht eine Schweizer Professorin in ihrem ➱Artikel über Albrecht von Haller natürlich ganz anders. Die alpine Diskursgeschichte hat viele Facetten, ich halte mich da lieber heraus.

Aber ich hätte für den Sonntag doch noch etwas schönes Alpines. Schauen Sie doch einfach einmal ➱hier hinein.

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