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Dienstag, 15. November 2011

Jean Gabin


Am Ende von Jean Renoirs großem Film La Grande Illusion wird auf ihn geschossen. Aber er entkommt im Schnee über die Schweizer Grenze. Am Ende all der anderen großen Filme in dieser Zeit stirbt er den Filmtod. In La Bandera und Quai de Brûmes wird er erschossen, in Pépé le MokoLa Bête Humaine und Le Jour se Lève begeht er Selbstmord. Es wird schon gewitzelt, dass er eine Klausel in seinen Verträgen hat, dass er in jedem Film sterben darf. La Bête Humaine brauchte man nicht umzuschreiben, Zola sorgt da schon für die Katastrophe, aber in den meisten anderen Filmen hat Jean Gabin verlangt, dass in den Drehbüchern eine Szene ist, in der er zum Mörder wird, zum unschuldig Schuldigen - damit er zum Schluss in der letzten Szene in einer Art poetischer Gerechtigkeit schön sterben kann.

Es ist jetzt viel Tragik in den Filmen des französischen Poetischen Realismus, die den amerikanischen Film Noir vorwegnehmen. Den Begriff réalisme poétique hat der Franzose Michel Gorel in der Zeitschrift Cinemonde zum ersten Mal 1934 verwendet (er sprach von dem französischen Film allerdings auch von merveilleux social). Jean Gabin spielt hier tough und einsilbig Arbeiter oder Soldaten (beides kannte Gabin aus seinem Leben), den archetypischen Proletarier mit der Zigarette im Mund. Der durch die Verhältnisse aus der Bahn geworfen wurde, ein Opfer der Umstände ist. Und natürlich ist immer eine Frau im Spiel. Was wäre der französische Film ohne Frauen. Von der Frau erhofft sich der Held, den Gabin in den dreißiger Jahren verkörpert, immer die Rettung. Viele Männer denken ja so. Aber wir wissen natürlich, dass Frauen niemals die Rettung sind. Auf jeden Fall, wenn wir alle Jean Gabin Filme gesehen haben.

Jean Gabin, der heute vor fünfunddreißig Jahren starb, ist das Gesicht des französischen Films der dreißiger Jahre. Ein französischer Filmkritiker hat diese Zeit auch als das cinéma d'acteurs bezeichnet, weil es eine Zeit ist, in der sich einige Schauspieler durchsetzen und einen Zeitstil des Film prägen. Wir müssen dabei bedenken, dass Frankreich nicht das Starsystem von Hollywood kennt. Schauspieler sind nicht ausschließlich an ein Studio gebunden, von dem sie gnadenlos mit einem riesigen Apparat vermarktet werden. Wer es vom Stummfilm in den Tonfilm geschafft hat, kommt vom Theater oder (wie Gabin) vom Varieté. Natürlich  lernt man in Frankreich auch von Hollwood, irgendjemand hat einmal ausgerechnet, dass es von Jean Gabin in den dreißiger Jahren mehr close-ups gibt als von anderen Schauspielern. Wobei das französische close-up eher ein Medium close-up ist, kaum diese in Hollywood zum Überdruss verwendete Einstellung. Bevor ich jetzt einen Einführungskurs Filmwissenschaft gebe, sage ich mal einfach: Gabin setzt sich durch seine Präsenz auf der Leinwand durch, nicht durch die Inszenierung. Natürlich gibt es die auch: dieses Filmphoto inszeniert ihn auf die gleiche Weise, in der Hollywood die Garbo inszeniert.

In Hollywood war Gabin auch, das ist irgendwie gescheitert. Ebenso wie die Liebesgeschichte mit Marlene Dietrich. Vorher soll er eine Affäre mit Michèle Morgan gehabt haben. Ich lasse das mal beiseite. Ebenso wie seine Karriere in der Armee des Freien Frankreich, die dem ältesten Panzerkommandanten der französischen Armee das Croix de Guerre einbrachte. Einen zivilen Orden hat er später auch noch bekommen, als er Officier de la Légion d’Honneur geworden ist. Da ist er in der gleichen Gruppe wie Marlene Dietrich. Und Ulrich Wickert. Und diese Officiers sind eine Gruppe über dem Ordensträger Goethe. In dessen Rangstufe sich seit dem letzten Jahr Michael Schumacher befindet. Man mag sich diese Liste gar nicht angucken, der Orden ist nix mehr wert, spätestens seit Wowereit Commandeur de la Légion d’Honneur geworden ist. Wahrscheinlich, weil er immer ein Glas Champagner in der Hand hat.

Nach dem Krieg hat Gabin es schwer, die richtigen Rollen zu finden. Den Typ Film, in dem er der alleinige Star war, wo der melodramatische Film ganz auf ihn (und eine schöne Frau) zugeschnitten war, gibt es so nicht mehr (obgleich Regisseure wie Henri-Georges Clouzot und Yves Allegrét ein wenig von diesem Fim in die fünfziger Jahre transportieren). Da geht es Gabin ein wenig wie Hans Albers. Aber Gabin kann alles spielen. Und so finden wir ihn jetzt häufiger auf der richtigen Seite des Gesetzes, wenn er Kommissare in Trenchcoats spielt (unter anderem einen gewissen Maigret). Und alle anderen. Er kann den Clochard ebenso überzeugend spielen wie das Familienoberhaupt in Les grandes Familles. Und er kann auch mit Schauspielern einer anderen Generation zusammenspielen, wie mit Brigitte Bardot, Alain Delon oder Jean Paul Belmondo.

Attention aux roches, et surtout, attention aux mirages ! Le Yang-tsé-Kiang n'est pas un fleuve, c'est une avenue. Une avenue de 5000 km qui dégringole du Tibet pour finir dans la mer Jaune, avec des jonques et puis des sampans de chaque côté. Puis au milieu, il y a des… des tourbillons d'îles flottantes avec des orchidées hautes comme des arbres. Le Yang-tsé-Kiang, camarade, c'est des millions de mètres cubes d'or et de fleurs qui descendent vers Nankin, puis avec tout le long des villes ponton où on peut tout acheter, l'alcool de riz, les religions… les garces et l'opium… Jede zweite Nacht fährt Monsieur Albert Quentin im Traum den Jangtsekiang hinunter. Da ist er als Soldat einmal gewesen, jetzt gehört ihm das Stella in Tigreville.

Tigreville ist natürlich nicht auf der Landkarte, weil wir in einem Roman sind. Der Roman heißt Un Singe en Hiver (Ein Affe im Winter). In Wirklichkeit heißt Tigreville Villerville, und da ist man heute noch stolz, dass hier ein Teil der Dreharbeiten zu der Romanverfilmung stattgefunden hat. Monsieur Albert Quentin wird natürlich von Jean Gabin gespielt. Der junge Mann namens Gabriel Fouquet aus Paris, den es außerhalb der Saison hier an die Kanalküste verschlagen hat, wird von Jean Paul Belmondo gespielt. Er ist hier um seine Tochter zu besuchen, die hier in einem Internat ist. Er will nur ein paar Tage bleiben. Es werden Wochen werden. Er trinkt viel. Auf der Suche nach der ivresse. Dann träumt er von Spanien. In seinen Träumen ist er ein berühmter Torero. Wenn er ein Torero ist, steht er auch schon mal tagsüber auf einer Straßenkreuzung mit Autos als Stieren. Das hat der Autor des Romans, Antoine Blondin, der ein großer Trinker war, in Paris auch gerne gemacht. Wenn er betrunken war, konnte der Stotterer Blondin fließend reden. Vielleicht trinkt er auch nur, weil die Deutschen ihn im Krieg als Zwangsarbeiter nach Deutschland verschleppt haben.

Monsieur Quentin trinkt nicht mehr, seit er in den schlimmsten Stunden des Krieges seiner Frau geschworen hat, dass er damit aufhört, wenn sie beide den Krieg überleben. Jetzt lutscht er Bonbons. Aber irgendwann in der Nacht, zum Ende des Films hin, da spuckt er sein Bonbon vom Balkon auf die Straße und sagt Dinge wie: Écoute, ma bonne Suzanne, t'es une épouse modèle. Mais si, t'as que des qualités. Et physiquement, t'es restée comme je pouvais l'espérer. C'est le bonheur rangé dans une armoire. Et tu vois, même si c'était à refaire, et bien je crois que je t'épouserais de nouveau. Mais tu m'emmerdes. Tu m'emmerdes gentiment, affectueusement, avec amour ! Mais tu m'emmerdes ! Und beginnt eine geradezu epische Sauftour mit Gabriel Fouquet, an deren Ende ein Feuerwerk in der Nacht am Strand steht.

En Chine, quand les grands froids arrivent, dans toutes les rues des villes, on trouve des tas de petits singes égarés sans père ni mère. On sait pas s'ils sont venus là par curiosité ou bien par peur de l'hiver, mais comme tous les gens là-bas croient que même les singes ont une âme, ils donnent tout ce qu'ils ont pour qu'on les ramène dans leur forêt, pour qu'ils trouvent leurs habitudes, leurs amis. C'est pour ça qu'on trouve des trains pleins de petits singes qui remontent vers la jungle. Das ist die Geschichte, die Fouquet von dem Kolonialsoldaten gehört hat, und die er nun seiner Tochter erzählt. Die ihn fragt: Dis p'pa, tu crois qu'il en a vu des singes en hiver? Seine Antwort ist Je pense qu'il en a vu au moins un. Und so fährt er am Schluss mit seiner Tochter mit der Bahn in seinen Dschungel, der Paris heißt, zurück.

Un Singe en Hiver ist ein kleiner Film, von Henri Verneuil mit einem kleinen Budget gedreht.Aber der Film zeigt, dass sich Jean Gabin auch in kleinen Filmen wohlfühlt. Vor allem, weil er hier einen Drehbuchautor hat, der ihm in den Jahren zuvor immer die richtigen Rollen geschrieben hat. Denn mit Michel Audiard hatte Gabin schon in Maigret tend un piègeArchimède, le clochardLes grandes famillesLe président und Le cave se rebiffe zusammengearbeitet. Der Film wurde kommerziell ein großer Erfolg und hat immer noch den Status eines kleinen Kultfilms. Was natürlich an den Dialogen liegt, die Michel Audiard geschrieben hat, die sich an den poetischen Text des Romans halten.Der Roman ist übrigens viel besser als der Film. Ich habe den grünen Suhrkamp Band aus dem Regal geholt und ihn nach einem halben Jahrhundert noch einmal gelesen - er ist immer noch gut.

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