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Mittwoch, 16. Mai 2012

John Sell Cotman


Vor 230 Jahren wurde John Sell Cotman geboren. Ich träume ja immer noch davon, dass mir einmal ein kleines Aquarell von ihm in die Hände fällt. Denn wenn es einen Meister des Aquarells gibt, dann ist er das. Als ich noch keine festen Vorstellungen von der Gestaltung des Ruhestandes hatte - und wann hat man die schon? - da hatte ich mir überlegt, dass ich wieder mit dem Malen anfangen könnte. Und so lange einige Aquarelle von Cotman kopieren würde, bis es mir gelänge, einen echten Cotman zu fälschen. Vielleicht komme ich darauf noch einmal zurück, erst einmal bin ich mit meiner Rolle als Blogger ja zufrieden. Der Kunstmarkt braucht sich noch nicht vor einem neuen Wolfgang Beltracchi zu fürchten. Aber wenn irgendwann in diesem Blog nichts Neues erscheint, und Sie gleichzeitig hören, dass unbekannte Cotmans auf dem Markt auftauchen, dann wissen Sie, wer dafür verantwortlich ist.

John Sell Cotmans Vater hatte sich gewünscht, dass der Sohn das gut gehende Leinen- und Seidengeschäft in Norwich übernahm, aber der begabte Junge wusste, dass er Künstler werden wollte. Als sein Vater sich bei dem durchreisenden Maler John Opie nach den Zukunftsaussichten seines Sohns erkundigt, erhält er den Ratschlag Let him rather black boots. Doch mit sechzehn Jahren ist der Junior schon in London und koloriert Drucke für Ackermann. Er lernt in London in der privaten Akademie des Arztes und Kunstmäzens Dr Thomas Monro (für den er Bilder kopiert) all die Künstler kennen, die ihn beeinflussen und fördern werden. Wie sein großes Vorbild Thomas Girtin (der hier in dem Post über Richard Parkes Bonington schon einmal erwähnt wurde und der inziwschen einen eigenen POst hat). Nach dem Vorbild der privaten Akademie von Dr Monro werden in dieser Zeit überall im Land Sketching Clubs und Sketching Societies entstehen, offen für Amateure und Profis.

Auch wenn die von John Crome 1803 gegründete Norwich Society of Artists, deren wichtigstes Mitglied John Sell Cotman werden wird, mit Cotmans Weggang nach London 1834 faktisch zu existieren aufhört, ist sie nicht ganz tot. Sie lebt noch heute als Norfolk and Norwich Art Circle, wie man dem Katalog Wide Skies: A Century of Painting and Painters in Norfolk von Adrienne May und Brian Watts entnehmen kann. Der weite Himmel von Norfolk lockt heute offensichtlich immer noch Maler nach Norfolk. So wie er John Sell Cotman 1807 aus London wieder zurück nach Norwich lockt.

Das hier war das erste Buch, das ich vor Jahrzehnten über John Sell Cotman und die Norwich School fand. Der Bestellzettel von Blackwell's liegt noch drin, wenig später war ich Kunde bei Heffers, da ich mich über Blackwell's nur geärgert habe. Man kann das gar nicht beschreiben, wie letztlich desorganisiert und chaotisch diese englischen Buchhändler vor Jahrzehnten waren. Endlos lange Wartezeiten, lästige Korrespondenz. Irgendwann habe ich alles über Erasmus in Amsterdam bestellt, die waren immer nett. Heute geht das alles über das 1-Klick Kaufen bei Amazon, da dürfen sich viele Buchhändler nicht wundern. Heffers ist inzwischen auch von Blackwell's geschluckt worden. Das Buch von Huon Mallalieu (einem ausgewiesenen Kenner der englischen Aquarellkunst, er ist auch der Herausgeber des dreibändigen Dictionary of British Watercolour Artists) aus dem Jahre 1974 ist trotz seiner Kürze sehr gut, aber es ist leider vergriffen. Und damit bin ich bei der etwas traurigen Literaturlage.

Wenn Sie ein gutes Buch zu John Sell Cotman, dem Meister des Aquarells, suchen: vergessen Sie es (★). Die Wikipedia Artikel (deutsch und englisch) sind nicht wirklich zu empfehlen, informativer ist da schon das gute alte Dictionary of National Biography oder das Buch The Norwich School aus dem Jahre 1920 (hier im Volltext, mit Abbildungen). Aber ich hätte hier eine gute Erstinformation aus dem British Museum. Und eine wirklich schöne Übersicht über die wichtigsten Mitglieder der Norwich School. Sogar in deutscher Sprache, da ist doch tatsächlich jemand beim Norfolk Museums & Archaeology Service auf die Idee gekommen, ein halbes Dutzend Studenten von der Uni East Anglia für eine Übersetzung zu verpflichten. So etwas kriegen Institutionen mit ihrer Behördenschwerfälligkeit normalerweise nicht hin.

John Sell Cotman kommt aus Norwich, er wird dahin immer wieder zurückkehren. Dass ausgerechnet in Norwich eine Schule von Malern entstehen wird, ist ein wenig erstaunlich, denn eigentlich ist da intellektuell wenig los. Very flat, Norfolk, sagt Amanda in Noel Cowards Private Lives. Amelia Opie hat von Norwich als einem Athens of England gesprochen, aber das ist sicherlich eine Übertreibung. Dies ist nicht das Edinburgh des Scottish Enlightenment, dies ist eine Provinzstadt, in der es eine reiche Elite von Kaufleuten gibt. Und unglücklicherweise für den jungen John Sell Cotman auch schon genügend Maler.

Zum Beispiel John Crome. Das Bild hier ist von ihm, es ist für den Beginn des 19. Jahrhunderts wirklich erstaunlich. Hier mischen sich die Kunst der Niederländer (bedenken wir, dass die reichen Engländer im 18. Jahrhundert vorzugsweise Aelbert Cuyp gesammelt haben) und die Kunst von Richard Wilson mit der genauen Naturbeobachtung. Von John Crome wird berichtet, dass seine letzten Worte zu seinem Sohn John, my boy, paint; but paint for fame: and if your subject is only a pig sty - dignify it! gewesen seien. John Crome, ein Meister in Behandlung von Licht und Schatten, wird seine Schüler die Natur malen lassen, wie sie sie sehen. Er wird sie mitnehmen zum Flussufer des Yare und wird sagen This is our Academy! John Sell Cotman wird seine Schüler auffordern, wie John Sell Cotman zu malen. Aber natürlich hat Cotman von Crome gelernt, so wie er von Girtin gelernt hat. Woher er diese Transluzenz seiner Farben in der Zeit nach 1804 - der Zeit seiner besten Werke - hat, das weiß niemand so genau.

Leider lässt seine Originalität und Frische im Laufe seines Lebens nach, er wird nicht mehr vor der Natur malen, sondern einmal gefundene Formeln wiederholen. Er malt eh selten vor der Natur, er skizziert und vertraut darauf, dass er in seinem Studio die richtigen Formen und Farben findet. Er hat auf seinen Wanderungen und Reisen ein riesiges Skizzenwerk angelegt, er kann auf dies Werk ständig zurückgreifen. Falls ich anfange, Cotmans zu fälschen, würde ich mit dem Spätwerk anfangen.

Cotman wird sein Leben lang Zeichenlehrer sein. Obgleich watercolours bei der Royal Academy nicht so hoch im Kurs stehen, gibt es in der englischen Gesellschaft dafür einen Bedarf. Für gebildete junge Ladies und Gentlemen gehört ein Zeichenunterricht zur Ausbildung, Prince Charles wäre ein Beispiel für das Fortdauern dieser Tradition. Als ich von der Uni Hamburg zur Uni Kiel wechselte, stellte ich fest, dass es da einen Zeichenlehrer gab. Seit dem frühen 19. Jahrhundert gab es diese Position - heute natürlich nicht mehr. Also habe ich Semester für Semester Zeichenkurse belegt und viel von dem Handwerk gelernt. Cotman hat eine Vielzahl von Schülern, vor allem, weil er so etwas wie die Fernuniversität erfindet: Er schickt seinen Schülern Zeichnungen per Post zu, die sie dann kopieren müssen. Die Teilnehmergebüren belaufen sich auf eine guinea für das Vierteljahr. Die Zeichenkurse an meiner Uni waren billiger.

Das Leben ist wie eine Rolle Paketband. Manche bekommen gleich den Anfang zu fassen und alles rollt glatt ab. Bei den meisten reißt der glatte Fluss, man muss immer wieder neu anfangen und an diesen klebrigen Resten ziehen. Wenn jemand mit dieser Tesarolle des Lebens nicht zurechtkommt, dann ist es Cotman. Erst mit 52 Jahren erhält er die Sicherheit einer Anstellung am King's College in London zu der ihm sein Mäzen, der Bankier und Wissenschaftler Dawson Turner verholfen hatte.

Und William Turner, der, nach seiner Meinung gefragt, ausrief: Whom are you to elect? Why of course Cotman. I have already said Cotman. I am tired of saying what I say again: Cotman! Cotman! Cotman! Die Stelle, die Cotman 100 Pfund Sterling im Jahr einbringt (nach heutigem Gegenwert über 70.000 Pfund) gibt ihm auch neuen Lebensmut, kurz zuvor wollte er noch sterben. Sein Freund, der Maler und Astrologe John Varley verschaffte sich mit Gewalt Eintritt zu seinem Krankenzimmer und versicherte dem malade imaginaire, er hätte noch zehn Jahre zu leben. Das hätte er in den Sternen gesehen. Es waren zwar nur neun Jahre, aber ansonsten war es eine zutreffende Voraussagung.

Das mit dem malade imaginaire ist ein wenig fies, man hat zur Zeit Cotmans noch keinen Namen für die Krankheit Cotmans, die man heute als eine manisch-depressive Erkrankung diagnostizieren würde. Eine Krankheit, die bei Künstlern vielleicht verbreiteter ist als in anderen Berufen. In älteren Darstellungen werden die schlimmen Phasen von Cotmans Leben (als das, was Churchill seinen black dog zu nennen pflegte) als Ergebnis von Überarbeitung und Enttäuschung über die Erfolglosigkeit gewertet. Klingt auf den ersten Blick überzeugend, verkennt aber vollständig den Charakter der bipolaren Erkrankung.

Als ich vor einem Jahr über Ossian schrieb, habe ich gestanden, dass ich damals in der Hamburger Ausstellung ein Aquarell von Cotman gerne geklaut hätte. Ich fand damals keine Abbildung dieses Bildes im Internet, aber jetzt habe ich eine (oben). Monochrom, chinesische Tusche über Bleistift - das müsste doch zu kopieren sein! Es ist eine Illustration der Schlussszene vom dritten Gesang von Temora, wo es heißt: We bend towards the voice of the king. The moon looks abroad from her cloud. The grey-skirted mist is near; the dwelling of the ghosts! Die aquarellierte Zeichnung ist nur 21 mal 31 Zentimeter groß, und doch ist eine ganze Welt in ihr. Mondschein und Nacht, Nebel und diese geheimnisvolle Durchsichtigkeit hinter all den Abstufungen der chinesischen Tusche. Ich glaube, dies ist der Cotman, der am schwierigsten zu fälschen ist. Mit dem würde ich nicht anfangen.

Auf dieser Seite des Castle Museum and Art Gallery von Norfolk (die die meisten Cotmans haben) findet sich ein Katalog der Werke von Cotman. (★) Wenn Sie viel Geduld mitbringen, können Sie vielleicht noch antiquarisch einiges finden. Ich liste mal eben das auf, was ich besitze: Sydney D. Kitson, The Life of John Sell Cotman. Faber & Faber 1937, Reprint Rodart Reproductions 1982. John Sell Cotman 1782-1842. Arts Council of Great Britain 1982 (Ausstellungskatalog). Miklós Rajnai und Marjorie Allthorpe-Guyton, John Sell Cotman 1782-1842. Early Drawings (1798-1812) in Norwich Castle Museum. Norfolk Museums Service 1979. Charles Holme (ed), Masters of English Landscape Painting: J. S. Cotman, David Cox, Peter De Wint. The Studio 1903. Romantic Landscape. Tate 2000.

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