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Samstag, 4. August 2012

Gore Vidal


Das erste, das ich von ihm las, waren drei Krimis. Damals wusste ich noch nicht, wer sich hinter dem Pseudonym Edgar Box verbarg. Aber ich nehme mal an, dass der ➱Richard K. Flesch (der in der Branche nur Leichen-Flesch hieß) das gewusst hat. Der hat ja bei Rowohlt diese hervorragende Krimireihe hochgezogen, kein Vergleich mit den roten Goldmann Bänden. Diese Reihe mit gelbem Papier und schwarzem Buchdeckel, verziert mit dem Shakespeare Zitat A Faint Cold Fear Thrills Through My Veins, hatte schon Niveau. Die drei Romane von Edgar Box, die im Original Death in the Fifth Position, Death Before Bedtime und Death Likes It Hot hießen, hatten natürlich auch Niveau. Denn ihr Autor war kein Geringerer als Gore Vidal. Heute weiß man das natürlich. Dank des Internets und immer schnellerer Suchmaschinen braucht man nur Sekunden für das, was früher Wochen der Recherche bedeutet hat. Die Frage ist nur, wem diese Informationsflut nutzt. Und wenn ich in einem x-beliebigen Blog den Kommentar einer gewissen Cindy zu einem Post über Gore Vidal lese: No. But I love his shampoo. Wait a minute. Wrong Vidal? dann beschleichen mich doch leise Zweifel. Ja, Cindy, es ist der falsche Vidal. Der Vidal ist schon vor drei Monaten gestorben.

Das Nächste, das ich von Gore Vidal las, war Myra Breckinridge. Habe ich nur gelesen, weil alle Welt das damals las. War irgendwie sensationell, und es gab auch gleich einen Film mit Raquel Welch. Aber weder Buch noch Film haben bei mir irgendwelche Erinnerungen hinterlassen. War irgendwie skandalös, aber was war damals nicht skandalös? Ich habe etwas länger gebraucht, um das Beste von Gore Vidal zu entdecken. Und da bleibe ich mal beim Thema Film. Der Film The Best Man (Drehbuch: Gore Vidal nach seinem Theaterstück) hat aus Gründen, die ich nicht so recht verstehe, niemals die rechte Wertschätzung bei Publikum und ➱Kritik erfahren. Vielleicht, weil er zu nah an der Wirklichkeit der Verlogenheit amerikanischer Politik ist. Das ➱Theaterstück läuft zur Zeit gerade mal wieder mit großem Erfolg am Broadway.

Stellenweise sieht der in Schwarzweiß gedrehte Film The Best Man  wie ein Dokumentarfilm aus, was natürlich an der hervorragenden Photographie von Haskell Wexler liegt. Falls Ihnen dieser Name gerade nichts sagt, die Liste seiner nächsten Filme sagt jetzt alles: The Loved One (1965), Who's Afraid of Virginia Woolf? (1966), In the Heat of the Night (1967), The Thomas Crown Affair (1968), Medium Cool (1969), American Graffiti (1973), One Flew Over the Cuckoo's Nest (1975), Bound for Glory (⬅Woody Guthries Leben hier in voller Länge) und Days of Heaven (1978).

Es geht in dem Film um die Macht in Amerika und um politische Winkelzüge in Washington. Da kennt sich der Enkel eines Senators, der gerade vergeblich (trotz der Unterstützung des Kennedy Clans)  um einen Abgeordnetensitz kandidiert hatte, bestens aus. Und natürlich haben die Figuren des Films auch Entsprechungen in der politischen Realität. Henry Fonda soll Adlai Stevenson sein, Cliff Robertson (der in diesem Film hervorragend ist) soll Richard Nixon sein. Das hat Gore Vidal einmal gesagt. Ein Schauspieler namens Ronald Reagan bekam keine Rolle in diesem Film, weil ein Studioboss über ihn sagte, dass er nicht that presidential look hätte. Teile des Films wurden im Ambassador Hotel in Los Angeles gedreht. Da wurde vier Jahre später Robert Kennedy erschossen. Wenn man den Film heute sieht, hat man das Gefühl, dass sich die Grenzen zwischen Film und Wirklichkeit verwischen.

Meine nächste Begegnung mit Gore Vidal kam ein Jahrzehnt später. Als ich Homage to Daniel Shays: Collected Essays 1952-1972 kaufte. Antiquarisch, 1.95 $ vom Strand Book Store, steht vorne noch mit leuchtend rotem Klebeetikett drin. Die Essays stehen bei mir im Regal neben den Essays von Edmund Wilson. Ich wusste nicht, dass Newsweek ihn einmal the best all-around American man of letters since Edmund Wilson genannt hatte. Ich würde so etwas Ähnliches sagen. Manchmal wird der gelehrte Bär Dr Samuel Johnson ja wiedergeboren, in den letzten fünfzig Jahren hieß er Gore Vidal.

Neben all dem, was in diesem Band steht (es gab eines Tages auch einen Folgeband, der bis 1992 reicht), ist mir ein Essay nie aus dem Kopf gegangen, der den Titel hat First Note on Abraham Lincoln. Ich habe im Netz ein Schnipselchen davon gefunden; das mag genügen, um als Stilprobe zu dienen: In "Patriotic Gore," Edmund Wilson wrote, "There are moments when one is tempted to feel that the cruellest thing that has happened to Lincoln since he was shot by Booth has been to fall into the hands of Carl Sandberg." The late Mr. Sandburg was a public performer of the first rank "Ker-oh-seen!" he crooned in one of the first TV pitches for the jet-engine - ole banjo on his knee, white hair mussed by the jet-stream), a poet of the second rank (who can ever forget that feline-footed fog?) and a biographer of awesome badness. Unfortunately, the success of his four-volume Abraham Lincoln: The War Years was total. In the course of several million clumsily arranged words, Sandburg managed to reduce one of the most interesting and subtle men in world history to a cornball Disneyland waxwork rather like . . . hes, Carl Sandburg himself.
     The real Lincoln is elsewhere. He is to be found, for those able to read old prose, in his own writings. According to Lincoln's law partner William Herndon: "He was the most continuous and severest thinker in America. He read but little and that for an end. Politics was his Heaven and his Hades metaphysics." Lincoln read and reread Shakespeare; he studied Blackstone's legal commentaries. And that was about it. Biographies bored him; he read no novels. Yet, somehow (out of continuous and severe thinking?), he became a master of our most difficult language, and the odd music to his sentences is like that of anyone else - with the possible exceptoion of Walt Whiman on a clear unweepy day.

Er hat natürlich auch (schon, um das Carl Sandburg mal zu zeigen) einen Lincoln-Roman geschrieben, die Romanbiographie hat durch ihn eine neue Dimension bekommen. Ich gebe noch einmal ein Pröbchen von Gore Vidals unnachahmlichem Stil:

Lincoln stared at the painting of General Scott conquering Mexico while Seward stared at the painting of General Scott winning the War of 1812. General Scott stared at the bust of General Scott, executed in white marble by a student of Canova who had, in Seward's view, failed to matriculate.
     Finally, Lincoln spoke to the youthful General Scott storming Chapultepec rather than to the ancient, mottled man who was propped up opposite him, one huge cylinder of a leg resting on a low table. "If the Maryland legislature meets as planned today, they are certain to vote an ordinance of secession."
    "But we could stop them, sir." General Scott had not, as Seward thought, gone to sleep. The eyes were now so ringed with fat that it was hard to tell whether or not they were open, while the old man's breathing was that of a heavy sleeper
.

Natürlich wird das Treffen zwischen Lincoln und General Scott in der Wirklichkeit anders verlaufen sein, aber dies hier vergessen wir nicht. Vidals Romanbiographien (und das scheint ja seit Emil Ludwig das beliebteste Genre der Literatur zu sein) unterscheiden sich von anderen dadurch, dass er, wie man neuerdings auch im Deutschen sagt, seine Hausaufgaben gemacht hat. Alles ist sorgfältig recherchiert. Allerdings haben Lincoln Fachleute (die sich aber über Lincoln nie einig sind) einiges zu meckern gehabt, was Gore Vidal in einem Brief an den New York Review of Books wortreich zu kontern wusste. Gore Vidals Geschichte Amerikas, die er in seinen American Chronicle Novels ausführte, ist eine revisionistische Sicht. Nicht das, was in den Lehrbüchern steht. Aber viel interessanter. Am besten von den American Chronicle Novels hat mir sein Roman Burr: A Novel (1973) gefallen. Dieser Aaron Burr ist ja jemand, um den die Historiker lieber einen Bogen machen. Aber bei Gore Vidal ist sein Leben gut aufgehoben. Dies ist zwar ein Roman, aber es ist auch eine kleine Geschichtsstunde über die Anfänge der amerikanischen Republik.

Was sollte man sonst noch lesen? Natürlich seine Memoiren, die den schönen Titel Palimpsest haben und die mit den Sätzen anfangen: 'A Tissue of Lies'? Could there be a more persuasively apt title for a memoir? Particularly if the rememberer of his past is referring not so much to his own lies but to those of others, and, if I may immodestly boast, I have gone mano a mano with some of the truly great liars of our time. 

Gore Vidal ist am Dienstag im Alter von 86 Jahren gestorben, enfant terrible hatten viele Zeitungen in ihrer Schlagzeile. Es ist für Journalisten schön, wenn man ihn mit Wörtern wie maverick, enfant terrible oder Provokateur belegen kann, dann braucht man sich um das nicht zu kümmern, was er geschrieben hat. Glücklicherweise tut der englische Guardian das in seinem Nachruf nicht. Irgendwo in der Presselandschaft gibt es noch ein wenig Seriosität. Auf dem Photo oben hält Vidal sein Patenkind Nell auf dem Arm, die Tochter von Joanne Woodward und Paul Newman. Always a godfather, but never a god, hat er damals gesagt. Witzig war er in jedem Augenblick. Oder hat er das mit dem god doch ernstgemeint? Nachdem er sein provozierendes Buch Live From Golgotha: The Gospel According to Gore Vidal veröffentlicht hatte, schrieb ein Kritiker: If God exists and Jesus is his son, then Gore Vidal is going to hell.

Wo immer er jetzt ist. Ich lasse ihm das letzte Wort: I'm not sentimental about anything. Life flows by, and you flow with it or you don't. Move on and move out.

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