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Sonntag, 23. September 2012
Wilkie Collins
Sein Vater William Collins war Maler; er ist in diesem Blog schon einmal erwähnt worden (Wilkie Collins übrigens auch), als ich über den schottischen Maler ➱David Wilkie schrieb. Dem zu Ehren hat er diesen Vornamen bekommen, David Wilkie ist auch sein Taufpate gewesen. William Wilkie Collins ist kein Maler geworden, er wurde Schriftsteller. War im viktorianischen England berühmt für seine sensation novels, ein Genre, das sein Freund ➱Charles Dickens auch pflegte. Später schrieb er Romane, die sozialkritisch waren (und darin ähnelt er natürlich auch wieder Dickens). Die verkauften sich aber nicht mehr so gut wie The Woman in White oder The Moonstone. Was Algernon Charles Swinburne zu dem gehässigen Zweizeiler veranlasste: What brought good Wilkie's genius nigh perdition?/Some demon whispered—'Wilkie! have a mission.
Ich erwähne The Woman in White und The Moonstone nicht ohne Grund, die beiden Romane gelten allen Kritikern als das Beste, was Collins geschrieben hat. Und beide Romane haben etwas mit dem Beginn des Detektivromans zu tun. Obgleich Edgar Allan Poes berühmte Geschichte The Murders in the Rue Morgue zeitlich früher liegt, gilt doch T.S. Eliots Satz über The Moonstone: the first, the longest, and the best of modern English detective novels in a genre invented by Collins and not by Poe. Poe hatte nur Short Stories geschrieben, dies ist ein richtiger Roman. Und ein langer Roman dazu, über 500 Seiten in meiner alten Penguin-Ausgabe von 1966. Ich zitiere diese Ausgabe (man kann selbstverständlich jede andere Ausgabe lesen), weil sie ein Vorwort von J.I.M. Stewart hat. Krimifans wissen natürlich, dass dies der bürgerliche Name von Michael Innes ist, einem der besten englischen Krimiautoren. Nicht der übliche Serienschrott, seine Romane sind schon etwas für den intelligenten Leser. Also für Sie, zum Beispiel.
Collins' Roman The Moonstone brauche ich nicht zu loben, das haben schon Dorothy Sayers (Probably the very finest detective story ever written), G. K. Chesterton (Probably the best detective tale in the world) und viele andere getan. Und Wilkie Collins ist ja immer noch en vogue, gerade hat Peter Ackroyd eine schmale Biographie über ihn geschrieben. Das englische Presseecho war zwar nicht die ganz große Begeisterung, aber doch positiv. Das ist jetzt etwas anderes als die tausend Rezensionen von Jenseits des Protokolls bei Amazon. Selbst ein mittelmäßiges Buch von Ackroyd ist immer noch gut, obgleich sein Dickens: Private Life and Public Passions natürlich viel besser ist.
In Deutschland kennen wir den bald nach seinem Tod in Vergessenheit geratenen Wilkie Collins erst seit knapp einem halben Jahrhundert. Und das verdanken wir Arno Schmidt. Ja, dem selben, dem wir so schöne Sätze wie In seiner bisher gängigen Gestalt jedenfalls ist mir der 'Kriminalroman' eine lächerlich einseitige, und ergo zur Drittrangigkeit verurteilte Literaturform verdanken. Oder dies apodiktische Ich schätze den 'Kriminalroman' als solchen nicht. Da kann man nur sagen: Bargfeld locuta, causa finita.
Ein klein wenig schizo ist Arno dabei schon. Ich habe gerade das rororo Buch Nummer 80 aus dem Regal genommen, Peter (der Bruder von Ian) ➱Fleming: Die sechste Kolonne. Veröffentlicht im April 1953, Übersetzer: Arno Schmidt. Was sagen wir dazu? Vielleicht: die Millionen-Beliebtheit des 'Krimi', ob Buch ob Fernsehen, spricht gleichzeitig das künstlerische Todesurteil über ihn. (...) Natürlich muss es dergleichen 'geben': das Volk hat sein Anrecht auf Unterhaltung! Nur wäre ihm vielleicht, ab & zu, zu bedeuten: daß es sich bei seinem Zeitvertreib nicht um Kunst handele, sondern um Kindernahrung. Dieses schöne Zitat findet sich in einem Rundfunk-Essay, der Der Titel aller Titel! heißt und sich in Arno Schmidts Buch Der Triton mit dem Sonnenschirm findet. Ich habe das Buch damals in einer Literaturzeitschrift rezensiert, und als mir die Redaktion die Sonderdrucke aushändigte, habe ich gleich einen an Arno Schmidt geschickt. Mit einem schönen Begleitbrief, aber der Solipsist in der Heide hat mich keiner Antwort gewürdigt. Dabei war das eine sehr nette Rezension. War natürlich frech: jemanden wie Arno Schmidt rezensiert man nicht, den betet man an.
Der Titel aller Titel handelt nicht vom Moonstone sondern von The Woman in White. Einem Roman, den Arno Schmidt hundert Jahre nach seiner Veröffentlichung ins Deutsche übersetzt hat. Wenn Sie wollen, können Sie Die Frau in Weiß ➱hier lesen. Das ist allerdings nicht die Übersetzung von Arno Schmidt, sondern eine Übersetzung von einer Marie Scott, die 1891 im Verlag Karl Prochaska in Teschen erschienen ist. Marie Scott hat im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts sehr viel aus der englischen Literatur ins Deutsche übersetzt: Charles Dickens, Charles Reade, Mary Elizabeth Braddon. Und natürlich Collins, dessen Roman Armadale hatte sie schon 1866 übersetzt. Arno Schmidt kannte die Übersetzung von Marie Scott angeblich nicht, als er sich 1962 an die Übersetzung von The Woman In White machte. Ich glaube das nicht ganz, dass unserem philologischen Besserwisser solche Fehler unterlaufen, aber sei's drum. Die Frau in Weiß wurde ein Bestseller in Deutschland. Wurde gleich vom Fernsehen verfilmt, in drei Teilen. War angeblich ein ➱Straßenfeger. Der Rote Schal (Armadale) kam gleich hinterher. Ich habe damals nur Teil Eins von Die Frau in Weiß gesehen, hat mir gereicht. Natürlich muss es dergleichen 'geben': das Volk hat sein Anrecht auf Unterhaltung!
Arno Schmidt hat auch einmal den amerikanischen Krimiautor Stanley Ellin übersetzt. Den kennt heute ja auch kaum noch einer. Dabei lohnt sich zum Beispiel The Specialty of the House unbedingt. Er hat zu Ellin eine Art Werbetext (oder war es eine Selbstrezension?) geschrieben, die sich in Trommler beim Zaren findet. Wo er zum Schluss sagt: Was hier not tut, wäre die Einsicht, daß wir Alle Ungeheuerlein sind; beziehungsweise, weniger schockierend ausgedrückt: daß zumindest Gedankenspiele von Lust & Mord zum unveräußerlichen Bewußtseinsbestand auch des normalen Bürgers gehören. Also: mit dem Krimi ist nicht zu spaßen.
Und dennoch ist Arno Schmidt bereit, gewisse Krimis - wie zum Beispiel The Woman in White - als Literatur gelten zu lassen. So sagt er in seinem Wilkie Collins Essay Enter Conte Fosco, der sich in Trommler beim Zaren findet: Ergo muß ein Krimi, um von mir gelobt zu werden, mehr sein als dieses: muß ein 'Weltentwurf' sein; fein säuberlich durch mehrere Jahre hindurch gearbeitet; muß Gedanken enthalten, Erfindungen plus Beobachtungen, portrait=gute Gestalten & Landschaften, kurzum vielviel reiche Alltäglichkeit. Und das bietet Wilkie Collins ja unbedingt.
Im Vorwort zu ➱Heart and Science unterhält sich Collins mit einem imaginären Leser: The two qualities in fiction which hold the highest rank in your estimation are: Character and Humour. Incident and dramatic situation only occupy the second place in your favour. A novel that tells no story, or that blunders perpetually in trying to tell a story — a novel so entirely devoid of all sense of the dramatic side of human life, that not even a theatrical thief can find anything in it to steal — will nevertheless be a work that wins (and keeps) your admiration, if it has Humour which dwells on your memory, and characters which enlarge the circle of your friends. I have myself always tried to combine the different merits of a good novel, in one and the same work; and I have never succeeded in keeping an equal balance.
Ach, er sollte nicht so bescheiden sein. Immerhin attestiert ihm ➱J.I.M. Stewart in Vorwort zu The Moonstone, dass dies the most nearly perfect novel sei. Zur Zeit von Dickens und Collins erscheinen die Romane noch als Fortsetzungsromane, was die Autoren dazu zwingt, an das jeweilige Ende einer Lieferung einen Spannungshöhepunkt zu schreiben. Schließlich will man ja, dass der Leser auch das nächste Heft von Dickens' Zeitschrift All the Year Round (wo The Moonstone erschien) kauft. Diese hüpfenden Spannungsbögen der Handlung sind ein Merkmal des viktorianischen Romans. Wilkie Collins hat das auf die schöne Formel Make 'em cry, make 'em laugh, make 'em wait – exactly in that order gebracht.
Die Formel funktioniert heute noch in jeder Fernsehserie. Das wußte schon Arno Schmidt. So lässt er in ... denn Wallflower heißt Goldlack einen der Sprecher sagen: Und unsre TV=‹Krimi=Serien›, in drei mal dreißig Folgen, sind ja nichts anderes, als vor 100 und mehr Jahren die endlosen FortsetzungsRomane der Dickens, Warren, Bulwer im ‹BLACKWOOD›=Magazin... Wir können den Gedanken noch ein wenig weiterspinnen: der größte Teil unserer Fernsehunterhaltung ist nichts anderes als die modisch aufgerüschte Trivialliteratur des Victorian Age.
William Wilkie Collins ist heute vor 123 Jahren gestorben. Am gleichen Tag wurde in Japan einen Firma namens Nintendō gegründet, das Volk hat sein Anrecht auf Unterhaltung! Nur wäre ihm vielleicht, ab & zu, zu bedeuten: daß es sich bei seinem Zeitvertreib nicht um Kunst handele, sondern um Kindernahrung. Bei allen Schwächen, die Wilkie Collins als Autor hat, besser als Nintendo ist er auf jeden Fall.
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