Seiten

Freitag, 20. September 2013

Dubslav von Stechlin


In einem Waldwinkel der Grafschaft Ruppin liegt ein See, der Stechlin. Dieser See, klein und unbedeutend, hat die Besonderheit, mit der weiten Welt draußen in einer halb rätselhaften Verbindung zu stehen. Und wenn in der Welt draußen was los ist, wenn auf Island oder Java ein Berg Feuer speit und die Erde bebt, so macht der Stechlin die große Weltbewegung mit und sprudelt und wirft Strahlen und bildet Trichter. Um dies - so ungefähr fängt der Roman - und um das Thema dreht sich die ganze Geschichte. Das schreibt Theodor Fontane im Frühsommer 1897 dem Herausgeber der Stuttgarter Wochenschrift Über Land und Meer, der seinen Roman abdrucken will. Der druckt natürlich und sendet ein bewunderndes Telegramm: Hochverehrter Herr Doktor, intensiv mit allen ihren Menschen mitlebend, vor allem mit dem alten Freiherrn, am Schluße im Innersten erschüttert, danken wir Ihnen dafür, daß 'Über Land und Meer' ein solches Werk veröffentlichen darf.

Zum Schluß stirbt ein Alter und zwei Junge heiraten sich; – das ist so ziemlich alles, was auf 500 Seiten geschieht, hat Theodor Fontane über seinen letzten Roman Der Stechlin gesagt. Der da zum Schluß stirbt ist Dubslav von Stechlin, Major a.D. und Schlossherr auf Stechlin, eine Romanfigur voller Vernunft und Altersweisheit. Dass es ans Sterben ging, wusste Fontane selbst, er hatte der Redaktion von Über Land und Meer zurück telegraphiert: Ihr Telegramm hat mich sehr beglückt. 'Verweile doch, Du bist so schön'- ich darf es sagen, denn ich sehe in den Sonnenuntergang. Herzlichen Dank. Und er zieht in zwei kleinen ironischen Gedichten zu seinem Lebensende eine Bilanz:

Summa Summarum.

Eine kleine Stellung, ein kleiner Orden
(Fast wär’ ich auch mal Hofrat geworden),
Ein bißchen Namen, ein bißchen Ehre,
Eine Tochter „geprüft“, ein Sohn im Heere,
Mit siebzig ’ne Jubiläumsfeier,
Artikel im Brockhaus und im Meyer ...
Altpreußischer Durchschnitt. Summa Summarum,
Es drehte sich immer um Lirum Larum,
Um Lirum Larum Löffelstiel.
Alles in allem – es war nicht viel.


Das zweite Gedicht fand man nach seinem Tode auf seinem Schreibtisch. Neben einer Liste derer, die die Buchausgabe im Verlag seines Sohnes (die Fontane nicht mehr erlebte) zugeschickt bekommen sollten:

"Zwölfhundert Seiten auf einmal,
Und mit achtundsiebzig! beinah' ein Skandal.
Konntest es doch auf viermal verteilen."
Ihr könnt es, - aber bei mir heißt es eilen.
Allerorten umklingt mich wie Rauschen im Wald:
'Was du tun willst, tue bald!'


Dass der alte Dubslav von Stechlin in vielem Ähnlichkeiten mit dem alten Fontane hat, war den Kritikern schon früh aufgefallen. Man setzt an Stelle von Theodor Fontane irgendeinen anderen vornehmen Märker, z. B. den Krautjunker Dubslav von Stechlin und läßt ihn von 1848 bis in die Gegenwart hinein innerlich erleben und Fontanesch aussprechen, was Theodor Fontane im eigenen Namen zu verkünden keine Lust hat, schrieb Theodor Mauthner schon 1898. Fontane hat lange gebraucht, um das zu schreiben, was er wollte. Als er seinen ersten Roman Vor dem Sturm schreibt, ist er beinahe sechzig Jahre alt, als er den Stechlin beginnt, ist er sechsundsiebzig. Scheint es nicht, dass er alt, sehr alt werden musste, um ganz er selbst zu werden? hat Thomas Mann gefragt.

In seiner Autobiographie Meine Kinderjahre sagt Fontane im 16. Kapitel, das Vierzig Jahre später (Ein Intermezzo) betitelt ist, über seinen Vater denn wie er ganz zuletzt war, so war er eigentlich. Wahrscheinlich gilt der Satz auch für ihn. Er ist in seinem letzten Romanen immer subjektiver geworden, Hauptfiguren und Nebenfiguren (Nebenfiguren sind immer das Beste, sagt er in einem Widmungsgedicht für Stine) reden jetzt wie Theodor Fontane. Das hatten sie eigentlich schon immer getan, doch jetzt gibt Fontane die schützende Rolleneinkleidung auf, jetzt ist er ganz er selbst. Der damalige Papst der deutschen Germanistik Julius Petersen hat den Altersstil von Fontane in seinem Aufsatz Fontanes Altersroman im Euphorion 1928 einer feinfühligen Analyse unterzogen. Da war er noch ein hervorragender Philologe. Aber er hat von Fontanes Altersweisheit nichts gelernt, fünf Jahre später schreibt er in einem Aufsatz Die Sehnsucht nach dem Dritten Reich in deutscher Sage und Dichtung so bescheuertes Zeug wie Der Glaube an die gottgewollte Sendung eines Heilsbringers und Führers zum Guten wird religiöse Gewißheit.

Schon gleich am Anfang des Romans steht der märkische Landedelmann vor uns: Dubslav von Stechlin, Major a. D. und schon ein gut Stück über Sechzig hinaus, war der Typus eines Märkischen von Adel, aber von der milderen Observanz, eines jener erquicklichen Originale, bei denen sich selbst die Schwächen in Vorzüge verwandeln. Er hatte noch ganz das eigentümlich sympathisch berührende Selbstgefühl all derer, die „schon vor den Hohenzollern da waren“, aber er hegte dieses Selbstgefühl nur ganz im stillen, und wenn es dennoch zum Ausdruck kam, so kleidete sich’s in Humor, auch wohl in Selbstironie, weil er seinem ganzen Wesen nach überhaupt hinter alles ein Fragezeichen machte. Sein schönster Zug war eine tiefe, so recht aus dem Herzen kommende Humanität, und Dünkel und Überheblichkeit (während er sonst eine Neigung hatte, fünf gerade sein zu lassen) waren so ziemlich die einzigen Dinge, die ihn empörten. Er hörte gern eine freie Meinung, je drastischer und extremer, desto besser. Daß sich diese Meinung mit der seinigen deckte, lag ihm fern zu wünschen. Beinah das Gegenteil. Paradoxen waren seine Passion. „Ich bin nicht klug genug, selber welche zu machen, aber ich freue mich, wenn’s andre thun; es ist doch immer was drin. Unanfechtbare Wahrheiten giebt es überhaupt nicht, und wenn es welche giebt, so sind sie langweilig.“ Er ließ sich gern was vorplaudern und plauderte selber gern.

Es wird in Der Stechlin viel geplaudert, über den christlichen Glauben, über das Alte und das Neue, über Berlin und die Politik. Mein neuer dickleibiger Roman, dessen Sie so freundlich erwähnen, beschäftigt sich fast ausschließlich mit dieser Frage; Dynastie, Regierung, Adel, Armee, Gelehrtentum, alle sind ganz aufrichtig davon überzeugt, daß speziell wir Deutsche eine hohe Kultur repräsentieren; ich bestreite das; Heer und Polizei bedeuten freilich auch eine Kultur, aber doch einen niedrigeren Grad, und ein Volk und Staatsleben, das durch diese zwei Mächte bestimmt wird, ist weitab von einer wirklichen Hochstufe, schreibt Fontane an 1898 an Gustav Keyssner. Und er lässt seinen Major a.d. Stechlin auch so ganz en passant eine wunderbar bösartige Bemerkung gegen Friedrich Nietzsche machen: Jetzt hat man statt des wirklichen Menschen den sogenannten Übermenschen etabliert; eigentlich gibt es aber bloß noch Untermenschen, und mitunter sind es gerade die, die man durchaus zu einem „Über“ machen will. Ich habe von solchen Leuten gelesen und auch welche gesehn. Ein Glück, daß es, nach meiner Wahrnehmung, immer entschieden komische Figuren sind, sonst könnte man verzweifeln. Vielleicht hätte Julius Petersen mal darüber nachdenken sollen, bevor er die deutsche Germanistik zu den Nazis führte.

Am Ende sagt der Pastor Lorenzen, der sich den ganzen Roman über mit dem alten Dubslav kabbelt, in seiner Totenrede: ›Wer seinen Weg richtig wandelt, kommt zu seiner Ruhe in der Kammer.‹ Diesen Weg zu wandeln, war das Bestreben dessen, an dessen Sarge wir hier stehn. Ich gebe kein Bild seines Lebens, denn wie dies Leben war, es wissen's alle, die hier erschienen sind. Sein Leben lag aufgeschlagen da, nichts verbarg sich, weil sich nichts zu verbergen brauchte. Sah man ihn, so schien er ein Alter, auch in dem, wie er Zeit und Leben ansah; aber für die, die sein wahres Wesen kannten,war er kein Alter, freilich auch kein Neuer. Er hatte vielmehr das, was über alles Zeitliche hinaus liegt, was immer gilt und immer gelten wird: ein Herz. Er war kein Programmedelmann, kein Edelmann nach der Schablone, wohl aber ein Edelmann nach jenem alles Beste umschließenden Etwas, das Gesinnung heißt. Er war recht eigentlich frei. Wußt' es auch, wenn er's auch oft bestritt. Das Goldene Kalb anbeten war nicht seine Sache. Daher kam es auch, daß er vor dem,was das Leben so vieler andrer verdirbt und unglücklich macht, bewahrt blieb, vor Neid und bösem Leumund. Er hatte keine Feinde, weil er selber keines Menschen Feind war. Er war die Güte selbst, die Verkörperung des alten Weisheitssatzes: ›Was du nicht willst, daß man dir tu'.‹

Theodor Fontane ist heute vor 115 Jahren gestorben. Er wird immer noch gelesen. Und er ist immer noch aktuell. Er ist in diesem Blog immer wieder erwähnt worden; ich kann es nicht leugnen, ich bin Fontane Leser. Obgleich ich ein halbes Dutzend Fontane Biographien gelesen habe, bleibt mir vieles an ihm immer noch rätselhaft. Aber das ist auch gut so, man muss nicht alles wissen. Vor genau zwei Jahren habe ich über Vor dem Sturm geschrieben. Das war ein ➱Post, den ich meinem alten Pastor Klaus Nebelung, einem großen Fontane Liebhaber, gewidmet hatte, der ein Mensch wie der Dubslav von Stechlin war. Er ist leider wenig später im gesegneten Alter von siebenundachtzig Jahren gestorben, aber mein kleines Geburtstagsgeschenk hat er noch mit Vergnügen gelesen.

Vor Jahren habe ich im Spiegel einen kurzen Essay von Peter Härtling über Fontanes Altersroman gelesen, den ich dank des Internets (und dank des Spiegel Archivs) gleich wiedergefunden habe. Er heißt Das Buch meines Lebens, ich finde den Essay sehr schön. Deshalb zitiere ich ihn hier einmal:

Mit 20 las ich zum ersten Mal Fontanes letzten Roman, doch seine Weitschweifigkeit machte mich ungeduldig, und ich erinnerte mich nur an den bewegten Anfang: an die Schilderung des Sees Stechlin, der mit Strudeln und Fontänen auf Unruhen in der Welt reagiert, und an Woldemar, den einzigen Sohn des alten Stechlin, der mit seinen Freunden Rex und Czako von Cremmen über Wutz, durch die angestammte Fontane-Gegend, zum Alten nach Hause reitet. Mit 30 entdeckte ich den Roman von Neuem, kannte inzwischen schon einige Werke Fontanes, verliebte mich, wie Dubslav, in Melusine Barby, die Schwester von Woldemars Verlobter Armgard, und fand noch keinen Zugang zu dem alten Grafen, der sich hinter politisch doppeldeutigen Sätzen verschanzte. Mit 40 (etwa) las ich mit wachsendem Vergnügen, wie Dubslav seine Halbschwester Adelheid, Domina des Damenstifts von Wutz, besucht, wie dabei unverrückbare Ansichten zu verrückten mutieren und Ironie die Fontanesche Erzählung aufhellt. Mit 50 schaffte ich den "Stechlin" von Anfang bis Ende, schlich mich in die Gespräche rund um Dubslav, genoss die Wortwechsel zwischen ihm und Pastor Lorenzen, litt, als er sich entschloss, sich für die Konservativen zur Wahl zu stellen, und atmete auf, als dieser Kelch an ihm vorüberging, denn "mein" Stechlin passte nicht in den politischen Alltag; ihn, der Verlogenheit und Unwissen verachtete, zeichneten großzügige Neugier und standfeste Freundlichkeit aus. Jetzt, mit 74, wage ich es, lese ich von seinem Sterben, wiederholt Tränen zu vergießen, ihm mit der kleinen Agnes, der Enkelin der von den Dorfbewohnern gemiedenen Kräuterhexe, zum Abschied einen Strauß Schneeglöckchen zu bringen und mir als Nachruf den Satz zu wünschen, mit dem der Pastor die Grabrede schließt: "Er war das Beste, was wir sein können, ein Mann und ein Kind."

Lesen Sie auch: ➱Geburtstag, ➱Vor dem Sturm,

2 Kommentare:

  1. Oberhalb meines Nachttisches ruht ein mehr als faustgroßer roter Granitkiesel, den vor vielen, vielen Jahren das Weichseleis an die Ufer des Stechlins gewälzt hat.
    Nachdem ich dort weder Schloß noch Damenstift noch Überreste derselben angetroffen habe - es war ja zu bildhaft geschildert - ist er das Andenken an eine wunderbare Zeit (leider ohne "zwei Junge heiraten sich").
    Vielen Dank für diesen Blog.

    AntwortenLöschen
  2. Anschaulich für das Thema ist auch die Fontane Tour unter http://kulturreise-ideen.de/literatur/autoren/fontane-theodor/Tour-theodor-fontane-literarische-orte.html

    AntwortenLöschen