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Mittwoch, 13. November 2013

Henri Langlois


Zu Beginn des Filmes Baisers Volés (Geraubte Küsse) gibt es ein Bild, das mir damals rätselhaft war, als ich den Film zum ersten Mal sah. Es war der Eingang zu einem Gebäude, das offensichtlich geschlossen war, ein Zettel hing an der Tür. Und darüber konnte man auf der Leinwand lesen: Baisers Volés est dédié à la Cinémathèque française d'Henri Langlois. Das war 1968, in Frankreich gab es nicht nur eine studentische Revolution, es gab zuerst einmal die Affäre Langlois (lesen Sie hier im New Yorker einen Bericht oder sehen Sie hier einen kleinen Film dazu). Henri Langlois waren nämlich von André Malraux alle staatlichen Zuschüsse zur Cinémathèque française gestrichen worden.

Malraux, dessen Leben einmal ganz anders angefangen hatte (lesen Sie doch hier einmal den Post André Malraux), war mit de Gaulle zum Minister aufgestiegen. Wurde sofort der Feind der Linken, der Lieblingsfeind von Jean Paul Sartre. Als Camus den Nobelpreis erhielt, hatte er gesagt: Malraux hätte ihn bekommen sollen. Aber damals war Malraux noch nicht de Gaulles Kultusminister. Obgleich Malraux für die finanzielle Förderung der ersten Filme der Neuen Welle (wie zum Beispiel Letztes Jahr in Marienbad) gesorgt hatte, hat er jetzt die jungen französischen Regisseure der Nouvelle Vague gegen sich. Die diesen Henri Langlois, den chaotischen Archivar des französischen Films, liebten, les enfants de la cinémathèque hat man sie auch deshalb genannt.

Mit zehn Filmen hatte Langlois 1935 angefangen, bis zu seiner Entmachtung durch Malraux waren daraus in der Cinémathèque française zigtausende geworden. Es war eine große politische Dummheit von Malraux gewesen, denn er hatte plötzlich nicht nur alle französischen Filmregisseure gegen sich, es gab in kürzester Zeit auch eine Front von internationalen Regisseuren, die gegen Malraux protestierten. Man ging auf die Straße. Und dann prügelten in Paris Hundertschaften französischer Polizei auf die fünftausend Demonstranten ein. Das kennt man. Die Staatsmacht weiß mit dem Protest nichts anzufangen, in Deutschland wird es ähnlich sein.

Auch Claude Jade, in die sich Truffaut während der Dreharbeiten von Baisers Volés verliebte, gehörte zu den Demonstranten. Truffaut, Godard und der junge Bertrand Tavernier wurden bei den Ausschreitungen leicht verletzt. Dies Bild zeigt den Anfang der Veranstaltung, Truffaut (der Schatzmeister des Comité de défense de la Cinémathèque Française war) und Jean-Pierre Léaud sind im Mittelgrund zu sehen. Die Nase hinter dem linken Ohr von Léaud gehört übrigens zu Claude Jade. Das alles geschieht im Februar 1968, als auch die Dreharbeiten zu Baisers Volés begonnen haben. Die Demonstration der Filmschaffenden ist das Präludium für die Maiunruhen.

Was mir die Gelegenheit gibt (da es hier natürlich wieder um hübsche Frauen geht, die nach Truffaut ja die Essenz des Films sind), mal eben dieses Photo von La Marianne de Mai 68 hier einzufügen, das der Photograph Jean-Pierre Rey frei nach Delacroix' Gemälde La Liberté guidant le peuple gestaltet hat. Wie bei vielen Bildern steckt auch hier eine ganz andere Geschichte hinter dem Bild der hübschen französischen Studentin mit der Flagge Vietnams in der Hand. Caroline de Bendern, die Ikone der 68er Revolution, war keine Studentin, keine Revolutionärin und nicht einmal eine Französin. Sie war eine Engländerin, die von ihrem reichen adligen Onkel enterbt wurde, als er das Photo sah. Geschichte ist immer auch eine Sache der Inszenierung.

Mit auf der Straße ist neben Claude Jade auch noch eine zweite Hauptdarstellerin von Baisers Volés, Delphine Seyrig. In dem Film Letztes Jahr in Marienbad von Alain Resnais hatte die bezaubernde Delphine Seyrig ihre erste Rolle gehabt, Baisers Volés war nach Muriel und Accident (mit ➱Dirk Bogarde) ihr vierter großer Kinofilm. Das alter ego von Truffaut Antoine Doinel (gespielt von Jean-Pierre Léaud) ist in diesem Film unsterblich in Delphine Seyrig verliebt, ihren Filmnamen Fabienne Tabard sagt er vor dem Spiegel stehend immer wieder auf, ganz schnell hintereinander. Sie sollten sich diese köstliche Szene anschauen. Er wird erhört werden, es gibt immer kurze Augenblicke des Glücks in Truffauts Filmen.

Aber die verehrte Fabienne Tabard ermahnt ihn auch, dass die ganze Liebesgeschichte, die sich Antoine Doinel aus Balzacs Le Lys dans la Vallée erträumt hat (Truffaut war in seiner Jugend ein begeisterter Balzac Leser), nicht der Realität entspricht: c'est n’est pas une belle histoire d’amour, c’est une histoire lamentable parce que finalement elle est morte de n’avoir pas pu partager cet amour avec lui. Schauen Sie sich die wunderbare Szene doch hier an.

Baisers Volés ist der dritte Teil des Antoine Doinel Zyklus, der mit Sie küssten und sie schlugen ihn begonnen hatte. Der Filmtitel stammt aus dem Chanson Que reste-t-il de nos amours? von Charles Trenet, wo es heißt Bonheur fané, cheveux au vent, baisers volés, rêves mouvants. Das Chanson erklingt zu Anfang und zu Ende des Films. Der Henri Langlois gewidmete Film Baisers Volés ist meiner Meinung nach der schönste Film aus diesem Zyklus. Und wenn man so will, ist dies Truffauts einziger politischer Film. Im Gegensatz zu seinem Kollegen Godard meidet er die Politik. Setzt sich aber sein Leben lang für die Kinder der Welt ein, was man in Taschengeld und Der Wolfsjunge spüren kann.

Henri Langlois (hier rechts mit Truffaut und Léaud) wurde heute vor neunundneunzig Jahren geboren. 1973 erhielt er eine Honorary Academy Award für his devotion to the art of film, his massive contributions in preserving its past and his unswerving faith in its future. In Paris hat man nach seinem Tode einen Platz nach ihm benannt. Und dieser Blogger möchte mit seinen ersten Posts als Blogger Millionär beweisen, dass er auch kurze (na ja, verhältnismäßig kurze) Posts schreiben kann.

Sie ahnen natürlich, dass ich auch viel länger über Baisers Volés schreiben könnte. Der ganze Antoine Doinel Zyklus (einschließlich des kurzen Films Antoine und Colette) ist auf fünf DVDs erhältlich. Lohnt den Kauf unbedingt. Die vier Drehbücher Truffauts wurden 1970 unter dem Titel Les Aventures d'Antoine Doinel veröffentlicht, es wird heute wohl schwer sein, die antiquarisch noch zu finden. Ich brauche wahrscheinlich nicht zu sagen, dass ich ein Exemplar besitze.

Lesen Sie auch: François Truffaut, Fanny Ardant, Waltz into Darkness, Ray Bradbury, Jean Desailly, Jacqueline Bisset.

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