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Donnerstag, 16. Januar 2014

Anatomie


Heute vor 382 Jahren ist Rembrandt bei einer Vorlesung des Mediziners Nicolaes Tulp gewesen, der an jenem Tag die Leiche eines Straßenräubers namens Adriaan Adriaanszoon obduzierte. Dieser Adriaanszoon ist wahrscheinlich der berühmteste Straßenräuber der Kunstgeschichte geworden, denn Rembrandt hat seine Leiche in das Bild Die Anatomie des Dr Tulp gemalt. Er findet sich auch in der Literatur wieder, weil ➱W.G. Sebald ihn in das Buch Die Ringe des Saturn hineingeschrieben hat (lesen Sie ➱hier mehr).

Ob der achtundzwanzigjährige übergewichtige Adriaan Adriaanszoon, der den Spitznamen Het Kint hat, wirklich so ausgesehen hat, wissen wir nicht. Bei den Herren in Schwarz kommt es darauf an, dass sie so aussehen, wie sie aussehen wollen. Bei dem Toten nicht. Sein Gesicht hat eine seltsame grünliche Farbe, mit der Rembrandt die Leichenstarre unterstreichen will. Der Straßenräuber liegt auf dem Seziertisch in der gleichen Pose wie der betrunkene Bauer auf einem ➱Bild von Adriaen Brouwer, das in Rotterdam hängt. Kunst kommt von Kunst. Schon Karel van Mander gab jungen Malern in seinem Schilder-Boeck den Rat: Stehlt Arme, Beine, Körper, Hände, Füße. Hier ist es nicht verboten. Maler werden sich für Jahrhunderte daran halten.

Neuerdings versorgt uns ja das Fernsehen mit Gerichtsmedizinern die Leichen aufschnibbeln (ich habe ➱hier schon einige erwähnt), sodass wir alle bestens informiert sind. Früher waren sie Nebenfiguren, die nur dafür da waren, dass sie ihren Standardsatz aufsagten: Den Todeszeitpunkt sage ich Ihnen, wenn ich die Leiche bei mir auf dem Tisch habe. Seit Jack Klugman den Dr Quincy spielte, reißen die Serien mit Rechtsmedizinern nicht ab, ob das CSI, Crossing Jordan, Navy CIS, Der letzte Zeuge oder der Tatort aus Münster ist. Sie können die Liste beliebig verlängern. Jeder Fernsehzuschauer wird hier zu einem Fachmann der Anatomie. Allerdings bin ich nicht sicher, dass man in der Uni schon einen Schein im Prüfungsgebiet Anatomie bekommt, wenn man sämtliche Serien gesehen hat. Und ich glaube, es ist uns allen klar, dass dies alles nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat. Sagt auch Mark Benecke, und der sollte es wissen.

Eine amerikanische Krimiautorin namens Patricia Cornwell hat ein Vermögen mit ihren Romanen um eine Gerichtsmedizinerin gemacht. Cornwell wurde dem Publikum zuerst als Gerichtsmedizinerin verkauft, allerdings stellte sich dann heraus, dass sie lediglich in der Verwaltung der Gerichtsmedizin gearbeitet hatte. Aber der Formalingestank der Leichenhalle muss ihr aufs Gehirn geschlagen sein, weil sie eines Tages die aberwitzige Theorie aufstellte, dass der englische Maler ➱Walter Sickert der Mörder Jack the Ripper gewesen sei. Das nennt man wohl déformation professionnelle.

Natürlich könnte man jetzt einen Streifzug durch die Literatur unternehmen und alle Szenen auflisten, in denen Leichenhallen und Sektionen vorkommen. Aber es soll uns heute genügen, darauf hinzuweisen, dass ➱Gottfried Benn (der sich da auskannte) einen Gedichtband mit dem Titel Morgue geschrieben hat. Ist schon hundert Jahre alt, aber immer noch modern. Ich zitiere daraus mal eben mein Lieblingsgedicht, das Kleine Aster heißt:

Ein ersoffener Bierfahrer wurde auf den Tisch gestemmt.
Irgendeiner hatte ihm eine dunkelhellila Aster
zwischen die Zähne geklemmt.
Als ich von der Brust aus
unter der Haut
mit einem langen Messer
Zunge und Gaumen herausschnitt,
muß ich sie angestoßen haben, denn sie glitt
in das nebenliegende Gehirn.
Ich packte sie ihm in die Brusthöhle
zwischen die Holzwolle,
als man zunähte.
Trinke dich satt in deiner Vase!
Ruhe sanft,
kleine Aster!

Es gibt von Rembrandt noch eine zweite Anatomie, nämlich die Anatomie des Dr Deyman. Dieses Bild des Nachfolgers des Dr Tulp im Amt des Praelector Anatomiae ist Jahrzehnte später gemalt. Ein Fragment ist alles, was von dem Bild übrig geblieben sind. Der Leichnam erinnert in der Darstellung an ➱Mantegna (die Rembrandt wohl durch einen Stich kannte) und dieses Bild von Orazio Borgianni (das Rembrandt wohl auch kannte), aber der Abgebildete hier hat natürlich nichts mit der Bibel zu tun.

Das Ergebnis der radikalen Anwendung der Perspektivkunst auf das alte Thema der Beweinung Christi ist eine radikale Verdiesseitigung. Der Betrachter sieht Christus in einer Lage, die immer denkbar, aber nie zeigbar war, hat Martin Warnke pointiert in einem Aufsatz über Mantegna gesagt. Die ikonographischen Muster, die der Theologie vorbehalten waren, werden jetzt zu den ikonographischen  Mustern einer neuen Theologie, der Wissenschaft. Dr Joan Deyman ist leider nicht auf dem Bild zu sehen, sein Kopf (natürlich mit Hut) ist 1723 einem Feuer zum Opfer gefallen, wir können nur seine Hände sehen. Der Herr neben dem Untersuchungsgegenstand ist Deymans Assistent Gysbrecht Matthijsz Calcoen, nur er und der Mörder sind auf dem Bild erhalten. Calcoen ist kein einfacher Assistent, er ist ein Meister der Amsterdamer Chirurgengilde. Sein Vater Matthijz Calcoen gehört übrigens zu den Figuren auf Rembrandts Anatomie des Dr Tulp (er ist derjenige, der Dr Tulp am nächsten steht).

Hat es eine besondere Bedeutung, wenn die doctores medicinae  Tulp und Deyman einen Hut tragen? Ich zitiere dazu einmal Wilhelm R. ValentinerRembrandt benutzt namentlich in späterer Zeit den durch den Hutrand geschaffenen Schlagschatten für eine tiefe und geheimnisvoll wirkende Charakteristik des oberen Gesichtsteiles. Bei den Gruppenporträts scheinen ihm anfangs freilich die Hüte gar zu ungeeignet für einen geschickten und wechselvollen Aufbau der Komposition. In der Anatomie trägt nur Tulp die Kopfbedeckung. Die große Mannigfaltigkeit der Kopfbedeckungen auf der Nachtwache geht sicher auf Inspiration des Künstlers zurück. 

Je älter aber Rembrandt wird, desto weniger wird es ihm Bedürfnis, die Außenwelt nach seinem Sinne äußerlich umzugestalten. Er nimmt sie wie sie ist, wenn er auch ihr inneres Wesen seiner Anschauung unterzwingt. Bei der Anatomie des Dr. Deymann trugen schon die Männer der obersten Reihe Zylinder, die inzwischen Mode geworden waren; sie sind geschickt für einen gradlinigen Abschluß der Komposition, wie er dem Künstler in dieser Zeit entsprach, verwertet. Bei den Staalmeesters ist allen die Kopfbedeckung belassen ; nur der Diener steht unbedeckten Hauptes, nicht weil es des Künstlers Wunsch war, sondern weil er in Anwesenheit hoher Herren den Hut nicht tragen durfte. 

Wenn heute ein Anatom einen Hut trägt, dann kann das nur dieser Spinner, der Plastinator Gunther von Hagens sein, der vor der Presse vollmundig erklärte: Ich trage den Hut aus Respekt vor Dr. Tulp. In seiner Tradition stehe ich. Ich glaube, der Herr von Hagens, der einen Ehrendoktor von der weltbekannten Cosmopolitan University in Jefferson City (Missouri) und einen Professorentitel aus der Volksrepublik China besitzt, hat da irgendetwas falsch verstanden. Den Dr Nicolaes Tulp, der nebenbei noch Bürgermeister von Amsterdam war, hat niemand einen medizinischen Hochstapler genannt.

Unter den Chirurgenhänden von Dr Deyman ist wieder einmal ein Verbrecher (andere darf man nicht als Tote zur Schau stellen), ein Massenmörder namens Joris Fonteijn, der gerade gehenkt wurde. Sein Leichnam wurde der Gilde der Chirurgen überantwortet, die vom spanischen König das Privileg hat, einmal im Jahr einen Leichnam öffentlich zu sezieren. Wenige Tage nach der Hinrichtung wird Joris Fonteijns Körper in drei öffentlichen Vorlesungen von Dr Deyman anatomisch analysiert. Kostet Eintritt. 187 Gulden wird die Gilde bei diesem Spektakel an Eintrittsgeldern einnehmen. Das öffentliche Sezieren im Anatomietheater ist im 17. Jahrhundert in Mode gekommen, eine Form des Theaters, die in dem Buch von Alewyn und Sälzle über das Barocktheater keine Berücksichtigung findet. Für dieses Theater werden solche Bühnen wie dies Leidener theatrum anatomiae gebaut werden.

Es ist ein Spektakel, das durchorganisiert ist, das feste Regeln hat. Wer sich da auf der Bühne zeigt, gehört (solange er nicht nackt und tot ist) zur besseren Gesellschaft. Nehmen wir bei der Anatomie des Dr Tulp die Leiche weg, wir hätten Schwierigkeiten, den Beruf der Herren zu erraten. Es gehört zu diesem Spektakel aber auch dazu, dass die Gilde der Chirurgen verpflichtet ist, für eine ordentliche Beerdigung der ihr überlassenen Leiche zu sorgen. Am 28. Januar war Joris Fonteijn hingerichtet worden, am zweiten Februar wird er abends um neun beerdigt. Herr Dr Deymann erhält, wie eine handschriftliche Notiz auf der Gerichtsakte sagt, sechs silberne Löffel, die einunddreißig Gulden wert sind Vereert aan de Docter voor sijn gedane lessen 6 silverde lepels bedragende f 31 / 19 stuijvers). Alles wird sorgfältig notiert. Wir mögen diese Sitten und Gebräuche seltsam finden, aber was werden zukünftige Generationen über eine Zeit denken, in der Rembrandts Bild mit dem aufgeschnittenen Mörder, der daliegt wie Mantegnas Jesus, auf Teebecher, Sweatshirts und Krawatten wandert?

Von dem Aufbau von Rembrandts Bild können wir uns durch diese hastig hingeworfene Bisterzeichnung ein Bild machen. Man sieht hierbei auch den tabernakelartigen Rahmen, den die Gilde der Chirurgen offensichtlich als würdigen Rahmen für ihr Bild haben wollte. 1841 verkaufte die Gilde das Bild, es hatte verschiedene Besitzer (zeitweilig war es im Londoner South Kensington Museum, dem heutigen ➱Victoria & Albert Museum zu sehen) bis es wieder nach Amsterdam gelangte. So schreibt im April 1882 Jean Paul Richter aus London an Giovanni Morelli: Vor wenig Tagen hatte ich auch die große Freude, der Stadt Amsterdam den Rückerwerb der Deymanschen Anatomie Rembrandts vom Jahre 1656 ( Fragment) aus hiesigem Privatbesitz für nur 100 Pfund zu ermöglichen London 16. April 1882. Die Stadt Amsterdam kauft das Bild und überlässt es 1885 dem Rijksmuseum als Leihgabe. 1931 ging ein geisteskranker Brüsseler Buchhalter mit einem Beil auf das Fragment los. Was mich wieder ein wenig an diese Patricia Cornwell erinnert, die bei ihrer Verblendung sogar ein Gemälde von Sickert kaufte und zerschnitt. Es ist nicht so klar, was sie damit beweisen wollte. Dem Guardian entlockte es damals diesen wunderbaren Satz: Even in the context of the crackpot conspiracy theories, elaborate frauds and career-destroying obsessions that London's most grisly whodunnit has spawned, Cornwell's investigation is extreme. 

Ist die Frau mit ihrem Verhalten wirklich unterschiedlich von all diesen kranken Attentätern, die sich über ein Kunstwerk hermachen? Wenn man der Praelector Anatomiae der Gilde der Chirurgen ist (hier eine Version der Anatomie des Dr Tulp von Edouard Manet) darf man einmal im Jahr an einer Leiche die menschliche Anatomie demonstrieren. Zerschneiden ist nicht, das hat der Präparator gemacht, der nicht mit auf das Bild kommt.

Wenn man mit schlechten Krimis Millionen verdient hat, darf man offensichtlich Bilder zerschneiden. Wenn man Jesus ist, darf man sich offensichtlich über einen Rembrandt hermachen. Das glaubte offensichtlich der geisteskranke Attentäter, der sich 1975 mit einem Küchenmesser über die Nachtwache hermachte. Wenn Sie mehr dazu lesen wollen, kann ich nur Peter Moritz Pickhaus' Buch Kunstzerstörer. Fallstudien: Tatmotive und Psychogramme empfehlen. Dies Bild ist nicht von Rembrandt, es ist eine Kopie eines unbekannten zeitgenössischen Künstlers.

Es ist vereinzelt die Ansicht vertreten worden, dass das Bild The Gross Clinic von Thomas Eakins auf Rembrandts Bild des Dr Deyman zurückgeht, aber da wäre ich nicht so sicher. Man könnte Ähnlichkeiten in manchen Teilen des Bildes feststellen, und es kann als sicher gelten, dass der amerikanische Maler Rembrandts Bild gekannt hat. Rembrandt verwendet mit der leichten Untersicht eine kühne Perspektive (im Gegensatz zu Aert Pietersz ➱Anatomie des Dr Egbert de Frij, wo die Herren in schöner Isokephalie aufgereiht sind), doch schon viele ➱Maler haben Mantegna nachgeahmt. Und zur Zeit von Eakins gibt es schon die Photographie, für die eine solche Perspektive nichts Außergewöhnliches ist. Von diesem Medium hat Eakins ja auch ausgiebig Gebrauch gemacht.

Wir schließen für heute einmal die Tür des Sektionssaales hinter uns. Es geht natürlich auch anders, anstelle eines menschlichen Leichnams kann man auch einen Fisch sezieren wie man hier sieht, aber das ist eine andere ➱Geschichte. Die Anatomiegemälde, die nicht von Rembrandt sind, sind von den holländischen Malern Michiel Jansz van Mierevelt und Adriaen Backer. Und wenn Sie noch mehr davon sehen wollen, dann klicken Sie den vorzüglichen Blog ➱weimarart an.

Mehr Rembrandt in diesem Blog gibt es ➱hier und ➱hier.

2 Kommentare:

  1. Irgendwie fehlt da ein gewisser Simon Beckett. Aber der war Ihnen wohl zu modern. Aber der mit den Toten sprechende Dr. MAllard aus Navy CIS, der hat was. das müssen Sie zugeben, oder?

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  2. Es gibt - neben Rembrandt - noch einen zweiten Künstler, der im 17. Jahrhundert bei Obduktionen anwesend war, nämlich Andreas Gryphius, der in Leiden nicht nur Jurisprudenz, sondern auch Anatomie studiert. Es ist ja nicht nur der (damals übliche) Vanitas-Gedanke, der Gryphius' Lyrik prägt, sondern auch, wie konkret die in der Lyrik verandten Begriffe auf Anatomisches anspielen. So heißt es beispielsweise:

    Threnen in schwerer kranckheit
    [34] Ich bin nicht der ich war/ die kräffte sind verschwunden.
    Die glider sind verdort/ als ein durch brandter graus.
    Mir schauwt der schwartze tod zu beyden augen aus.
    Ich werde von mir selbst nicht mehr in mir gefunden.
    Der Athem will nicht fort/ die zunge steht gebunden.
    Mein hertz empfindet schon den letzt vnd höchsten straus.
    Ein jeder der mich siht/ sicht das mein schwaches haus/
    Der leib ein brechen wird/ noch inner wenig stunden.

    Ich glaube, wenn Gryphius nicht in Leiden Anatomie studiert hätte, dann hätte er das weniger "konkret" formuliert.

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