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Donnerstag, 27. Februar 2014

Höre


Vor dreihundertzehn Jahren wurde Johann Gottfried Höre geboren. Er schrieb sich manchmal auch  Hoere oder Horeius. Er sei ein guter Lateiner gewesen, hat sein Schüler Lessing gesagt. Da hätte er sich statt Horeius ja auch Audi nennen können, wenn es schon eine Latinisierung des Namens sein musste. Höre war ein Pädagoge, aber ich weiß nicht, ob er den Gang der Wissenschaft der Pädagogik beschleunigt hat. Er hat allerdings 1740 eine Gedichtsammlung für die Schule herausgegeben, die wohl die erste Lyrikanthologie für die deutsche Schule gewesen ist. Wahrscheinlich war der Inhalt genauso abschreckend wie der Titel des Werkes: Edle Früchte Teutscher Poeten, nach gefundem Geschmack berühmter Kenner für die lehrbegierige Schuljugend ausgedient.

Johann Gottfried Höre ist sicher eine Randfigur der Wissenschaft. Die Allgemeine Deutsche Biographie kennt ihn nicht, und in dem Allgemeinen Gelehrten-Lexikon von Gert A. Zischka, in dem sich die erstaunlichsten Leute finden, wird er nicht erwähnt. Höre wird aber in beinahe jeder Lessing Biographie erwähnt. Zum einen, weil er diesen Schüler (mit dem er große Schwierigkeiten hatte - er hatte wohl überhaupt wie viele Pädagogen Schwierigkeiten mit den Schülern) einmal admirabler Lessing genannt hatte. Und zum anderen, weil Höre Lessings jüngeren Bruder, als der auch zu der berühmten Fürstenschule St. Afra in Meißen kam, folgende Empfehlung mit auf den Weg gab: Nun geh' in Gottes Namen; sei fleissig aber nicht so naseweis wie dein Bruder.

Den naseweisen Lessing hat man schon früh von der Schule genommen, deren Rektor Johann Gottfried Höre eines Tages werden sollte. Denn schon 1746 schreibt der Rektor Theophilus Grabener an Lessings Vater: Er ist ein Pferd, das doppeltes Futter haben muß. Die Lectiones, die andern zu schwer werden, sind ihm kinderleicht. Wir können ihn fast nicht mehr brauchen. Und was tut unser junges Genie, der abmirable Lessing? Er schreibt seiner Mutter von der Universität Leipzig her einen Brief: Hochzuehrende Frau Mutter, Ich komme jung von Schulen, in der gewißen Ueberzeugung, daß mein ganzes Glück in den Büchern bestehe. [...] Ich lernte einsehen, die Bücher würden mich wohl gelehrt, aber nimmermehr zu einen Menschen machen. Ich wagte mich von meiner Stube unter meines gleichen. Guter Gott! was vor eine Ungleichheit wurde ich zwischen mir und andern gewahr. [...]  Ich legte die ernsthafften Bücher eine zeitlang auf die Seite, um mich in denjenigen umzusehn die weit angenehmer, und vielleicht eben so nützlich sind. Die Comoedien kamen mir zur erst in die Hand. Es mag unglaublich vorkommen, wem es will, mir haben sie sehr große Dienste gethan. Ich lernte daraus eine artige und gezwungne, ein grobe und natürliche Aufführung unterscheiden. Ich lernte wahre und falsche Tugenden daraus kennen, und die Laster eben so sehr wegen ihres lächerlichen als wegen ihrer Schändlichkeit fliehen. [...] Doch bald hätte ich den vornehmsten Nutzen, den die Lustspiele bey mir gehabt haben, vergeßen. Ich lernte mich selbst kennen, und seit der Zeit habe ich gewiß über niemanden mehr gelacht und gespottet als über mich selbst.

Komödien, man fasst es nicht. Und dafür hat das Kind Latein gelernt. Im Januar des Jahres 1748 gibt es die erfolgreiche Uraufführung des ➱Lustspiels Der junge Gelehrte durch die Theatertruppe der Friederike Caroline Neuber. Die Eltern rufen den Sohn im Februar besorgt über seinen Umgang mit dem fahrenden Volk nach Hause. Unter dem Vorwand, die Mutter liege im Sterben. Also, so schlimm, wie auf diesem Bild wird es mit ihm nicht gehen. Das Bild stammt aus dem Zyklus A Rake's Progress von William Hogarth. Lessing weiß, wer das ist, er wird die Übersetzung von Hogarths Buch Anatomy of Beauty rezensieren.

In diesem Zusammenhang sollte ich noch erwähnen, dass es von Hogarths moralischem Werk noch eine neuere Version gibt. Nämlich ➱Ronald Searles The Rake's Progress. Schauen Sie bitte unbedingt in ➱diesen Blog hinein, dort werden edle Früchte englischer Mahler, nach gefundem Geschmack berühmter Kenner für die lehrbegierige Schuljugend ausgedient. Zu Beginn des Sommersemesters kehrt Lessing nach Leipzig zurück, studiert jetzt allerdings Medizin. Die Eltern haben seine Schulden bezahlt, der junge Lessing ist allerdings so blöd, für die Schulden einiger Schauspieler zu bürgen. Ist die kleinbürgerliche Weisheit Holt die Wäsche rein, die Schauspieler kommen! nicht bis zu ihm gedrungen? Die Schauspieler verschwinden, er bleibt auf den Schulden sitzen. Ich bin mir niemals selbst zu einer unerträglichern Last gewesen als damals, schreibt er an seine Mutter. 

Hier könnte sein Leben aus der Bahn laufen, der admirable Lessing könnte so enden wie der Wüstling bei Hogarth. Aber was wäre der gymnasiale Deutschunterricht, wenn wir nicht diese moralischen Theaterstücke des bürgerlichen Trauerspiels des naseweisen Lessing hätten? Die Theaterform des bürgerlichen Trauerspiels hat er erfunden, sagt man. In Wirklichkeit haben es natürlich die Engländer erfunden. Die erfinden jetzt ja so ziemlich alles: das bürgerliche Trauerspiel, die ➱Ästhetik, die Tageszeitung (die Times gibt es seit 1785), den Roman. Und last but not least: die bürgerliche Herrenmode. Dass die wichtig ist, das hat unser admirabler Naseweis schon früh erkannt, so schreibt er 1749 in dem Rechtfertigungsbrief an seine Mutter: Ich hätte längst unterkommen können, wenn ich mir, was die Kleidung anbelangt, ein beßers Ansehen hätte machen können. Ja, Kleider machen Leute.

Aber bei unserem gescheiterten Studenten ist das keine philosophische Einsicht. Nein, das Kind will Geld für elegante Klamotten haben: Nun beynahe vor einem Iahre, hatten Sie mir eine neue Kleidung zu versprechen, die Gütigkeit gehabt. Sie schlagen mir es ab, unter dem Vorwande , als ob ich, ich weiß nicht wem zu Gefallen hier in Berlin wäre. Und dann kommt die trotzige Selbstbehauptung: Nach Hause komme ich nicht. Auf Universitäten gehe ich jezo auch nicht wieder, weil außerdem die Schulden mit meinem Stipendiis nicht können bezahlt werden, und ich Ihnen diesen Aufwand nicht zu muthen kan. Ich gehe ganz gewiß nach Wien, Hamburg oder Hannover. [...] Wenn ich auf meiner Wanderschafft nichts lerne so lerne ich mich doch in die Welt schicken. Nuzen genug! Ich werde doch wohl noch an einen Ort kommen, wo sie so einen Flickstein brauchen, wie mich.

In seinem ersten Theaterstück Der junge Gelehrte sieht die Welt natürlich ganz, ganz anders aus. Da empfiehlt schon gleich in der ersten Szene der Vater (Chrysander) dem allzu studierwilligen Sohn (Damis), sich mehr dem Vergnügen und dem Studium der Frauen (Ja, das Studium der Weiber ist schwer) hinzugeben. Aber lesen Sie selbst:

Chrysander. Immer über den verdammten Büchern! Mein Sohn, zuviel ist zuviel. Das Vergnügen ist so nötig als die Arbeit.
Damis. O Herr Vater, das Studieren ist mir Vergnügens genug. Wer neben den Wissenschaften noch andere Ergötzungen sucht, muß die wahre Süßigkeit derselben noch nicht geschmeckt haben.
Chrysander. Das sage nicht! Ich habe in meiner Jugend auch studiert; ich bin bis auf das Mark der Gelehrsamkeit gekommen. Aber daß ich beständig über den Büchern gelegen hätte, das ist nicht wahr. Ich ging spazieren; ich spielte; ich besuchte Gesellschaften; ich machte Bekanntschaft mit Frauenzimmern. Was der Vater in der Jugend getan hat, kann der Sohn auch tun; soll der Sohn auch tun. A bove majori discat arare minor! wie wir Lateiner reden. Besonders das Frauenzimmer laß dir, wie wir Lateiner reden, de meliori empfohlen sein! Das sind Narren, die einen jungen Menschen vor das Frauenzimmer ärger als vor Skorpionen warnen; die es ihm, wie wir Lateiner reden, cautius sanguine viperino zu fliehen befehlen. –
Damis. Cautius sanguine viperino? Ja, das ist noch Latein! Aber wie heißt die ganze Stelle?

Cur timet flavum Tiberim tangere? cur olivum
Sanguine viperino
Cautius vitat? – –

Oh, ich höre schon, Herr Vater, Sie haben auch nicht aus der Quelle geschöpft! Denn sonst würden Sie wissen, daß Horaz in ebender Ode die Liebe als eine sehr nachteilige Leidenschaft beschreibt, und das Frauenzimmer – –
Chrysander. Horaz! Horaz! Horaz war ein Italiener und meinet das italienische Frauenzimmer. Ja vor dem italienischen warne ich dich auch! das ist gefährlich! Ich habe einen guten Freund, der in seiner Jugend – – Doch still! man muß kein Ärgernis geben. – Das deutsche Frauenzimmer hingegen, o das deutsche! mit dem ist es ganz anders beschaffen. – – Ich würde der Mann nicht geworden sein, der ich doch bin, wenn mich das Frauenzimmer nicht vollends zugestutzt hätte. Ich dächte, man sähe mir's an. Du hast tote Bücher genug gelesen; guck einmal in ein lebendiges!
Damis. Ich erstaune – –
Chrysander. O du wirst noch mehr erstaunen, wenn du erst tiefer hineingehen wirst. Das Frauenzimmer, mußt du wissen, ist für einen jungen Menschen eine neue Welt, wo man so viel anzugaffen, so viel zu bewundern findet – –
Damis. Hören Sie mich doch! Ich erstaune, will ich sagen, Sie eine Sprache führen zu hören, in der wahrhaftig diejenigen Vorschriften nicht ausgedruckt waren, die Sie mir mit auf die hohe Schule gaben.

So entsteht die Literatur. Aus dem, was wir nicht haben im Leben.

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