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Sonntag, 23. November 2014

The marriage of Figaro


Bei meinen ➱Aufräumarbeiten stieß ich auf zwei alte Posts, in denen ich beklagte, dass die wunderbar schrägen Operninszenierungen des Music Theatre London nicht als DVD zu finden sind. Die erste dieser Bemerkungen findet sich in dem Post über ➱Don Giovanni:

Leider habe ich die Don Giovanni Aufführung des ➱Music Theatre London vor Jahrzehnten verpasst. Ich finde von denen auch keine DVD im Internet, nur die einzelnen Meinungen von Kennern, die sagen, dass die BBC einfach zu blöd ist, diese herrlichen Aufnahmen auf eine DVD zu pressen. Aber damit ich beweisen kann, dass es die Truppe wirklich gab, bilde ich einmal Jacinta Mulcahy ab. Die zwar nicht soo toll sang, aber hervorragend aussah. Die Truppe glänzte bei ihren Auftritten in Hamburg (übertragen vom NDR) durch völlig schräge Mozart Interpretationen, die auch einer anderen Klientele als dem bürgerlichen Bildungspublikum Spaß machten. Sicher auch dem Kompositeur, dem Herrn Mozart in seinem roten Frack.

Die andere Erwähnung des Music Theatre London steht in dem Post zu ➱Cosi fan Tutte:

Mein allerschönstes Cosi fan Tutte Erlebnis gibt es leider auf keinem Ton- und Bildträger. In den 90er Jahren war die etwas schräge Truppe des Music Theatre London mehrfach mit Mozart Opern nach Hamburg gekommen. Es dirigierte Tony Britten (der gerade die Champions League Hymne komponiert hatte), und das Ensemble bestand aus actor-singers. Schauspielern, die ein wenig singen können oder Sängern, die auch gute Schauspieler sind. Sänger, die nicht schauspielern können, so Britten, gibt es schon genug. Aus der Truppe, die bei Cosi fan Tutte auf der Bühne stand, sind wohl nur Simon Butteriss und Jacinta Mulcahy noch berühmt geworden.

Die Inszenierung verlegt das Stück in den Golfkrieg. Zuerst sind Gugliemo und Ferrando englische RAF Piloten, die sich dann als prollige US Offiziere verkleiden. Man merkt den Engländern an, dass ihnen das so richtig Spaß gemacht hat (hier Simon Butteriss als Ferrando in der Hamburger Aufführung 1993). Der Abend stand dem Boulevard und der Music Hall Tradition näher als der Scala oder der Met. Die leichten sängerischen Defizite wurden durch die Spielfreude wettgemacht. Mozart hätte jede Minute davon gefallen. Ich war hingerissen von Jacinta Mulcahy. Und man muss ja auch erst einmal auf die Idee kommen, dass sich Fiordiligi in schwarzem Mieder (mit Strapsen) vor dem Spiegel aufbrezelt und dabei von der ewigen Liebe singt. Man findet wenig Fiordiligis, die mit schwarzen Strapsen so gut aussehen wie Jacinta Mulcahy damals. Und die auch noch singen können. Ich kann jetzt nur hoffen, dass irgendjemand beim NDR (der alle Auftritte des Music Theatre London im Hamburg aufgezeichnet hatte) jetzt mal ins Archiv stapft und sich ernsthaft überlegt, das Ganze mal auf DVD herauszubringen.

In einer Kundenrezension zu einer nicht mehr lieferbaren Aufnahme von Cosi fan Tutte, die dem ➱Spiegel immerhin eine Besprechung wert war, schreibt ein Rezensent bei Amazon: This is a really fun performance, with acting and singing of equal quality. The performance is updated to an airforce base with dialogue in modern english replacing some of the singing. This makes it much easier to understand and is ideal for newcomers to the opera. It is a great shame that the company has now closed but this is an entertaining record of what they were trying to do, making opera accessible to all. Tja, das war die mit den Strapsen. Habe ich noch auf VHS, aber mein VHS Recorder ist leider kaputt.

Ich kann heute eine kleine Überraschung präsentieren, ich habe nämlich The Marriage of Figaro im Internet gefunden. War vor Jahren, als ich mich wortreich beklagte, noch nicht da. Lassen Sie uns zuvor einen Blick auf eine Seite der Firma Pozzitive werfen: In 1994, producer Dan Patterson came to Pozzitive with a proposal to televise the work of Music Theatre London, an opera company who had hit on the brilliant idea of presenting classic opera - Die Fledermaus, Cose Fan Tutte, Don Giovanni etc with modern day translated and updated librettos, performed by singers who were also actors, and with a small orchestral ensemble. MTL had been touring with great success for many years, under the Musical Direction of Tony Britten and the Stage Direction of Nicholas Broadhurst. Die Produktionsfirma Pozzitive ist, horrbile dictu, auf Comedy spezialisiert. Da ist unser Wolferl Mozart nun gelandet.

Macht nichts. Es ist ja eine opera buffa. Warum nicht einmal so. Die Inszenierung war ein großer Erfolg quer durch Europa. Vor allem, weil man in England ein neues, junges Publikum gewinnen konnte. Es wird englisch gesprochen (die Rezitative sind neu) und gesungen, nicht italienisch. Wenn Cherubino sein Voi che sapete che cosa e amor singt, dann hört man einen anderen Text, als man ihn sonst in einer englischen Aufführung hören würde. Hören Sie ➱hier (ab Minute 9:33) doch einmal Jacinta Mulcahy in der Hosenrolle des Cherubino zu. Das hier sind Mary Lincoln, die sängerisch und schauspielerisch eine überzeugende Susanna gibt, und Harry Burton als Figaro.

In diesem Zimmer des Schlosses spielt ein großer Teil der Handlung. Wir erkennen den Heimtrainer und den Schuhschrank der Gräfin. Der Schuhschrank wird in der Oper übrigens funktional gebraucht (der Heimtrainer auch), wenn Susanne mit einer Stange die Schuhe für die Gräfin (Jan Hartley) herunterangelt. Sind wahrscheinlich alle von Manolo Blahnik. Bevor Cherubino seine Liebeserklärung singt, können wir die Gräfin auf dem Heimtrainer mit dem Porgi amor hören (ab ➱Minute 1:48). Gut, das klingt bei der ➱Callas oder bei ➱Renée Fleming anders, ist aber auch nicht schlecht.

Vieles in dieser Aufführung ist spezifisch englisch. Wenn Cherubino in den Krieg geschickt wird - was Figaro die Gelegenheit gibt - (ab ➱Minute 34) sein Non più andrai, farfallone amoroso zu singen - dann ist dieser Krieg natürlich der Falkland Krieg, das war er in der Cosi fan tutte Inszenierung des London Music Theatre auch. Dass Graf Almaviva (Andrew C. Wadsworth in der Bildmitte) Ähnlichkeiten mit Alan Clark hat (dessen berühmte Diaries am Anfang ins Bild gesetzt werden), ist wohl nur von einem englischen Publikum goutiert worden. Er heißt hier auch nicht Graf Almaviva, sondern Sir Cecil Portico und ist Europaabgeordneter der Konservativen Partei. Cecil Portico klingt ein wenig nach Michael Portillo, der ebenso wie Alan Clark (the most politically incorrect, outspoken, iconoclastic and reckless politician of our times) keine Zierde der Partei war.

Man hat Opern in den letzten Jahrzehnten viel angetan. Werner Schneyder hat in seinem schönen Buch Meiningen, oder, Die Liebe und das Theater witzige Sachen zu einer total bescheuerten Don Giovanni Inszenierung gesagt. Er endet seine Philippika mit den Sätzen: Warum gab es in der Premiere dieser Inszenierung nicht derartige Lachsalven, daß der Dirigent abklopfen mußte? Warum hat der Theaterdirektor nach der Hauptprobe nicht laut gesagt: „Das nicht!" Warum nehmen die Menschen Vertrottelung nicht mehr als Vertrottelung wahr? Und da ich bei Trotteln bin: das hier rechts ist der trottelige Gärtner des Grafen, gespielt von dem Vollblutschauspieler Nigel Planer. Auch Komik will gelernt sein, der über die Bühne irrlichternde Otto Waalkes war in der Fledermaus der Hamburger Staatsoper nicht wirklich komisch.

Schuld ist das Feuilleton, sagt Schneyder. Es setzt die Regisseure unter Druck, auf Gewalt originell sein zu wollen. Damit das Feuilleton über die genialen Einfälle (oder die Auswüchse) des Regietheaters schreiben kann. Ob jemand seine Rolle sprechen oder seinen Part singen kann, das interessiert längst nicht mehr. Aber wenn man wie Zadek in Hamburg die Bühne mit grünem slime übezieht, dann redet man darüber (lesen Sie ➱hier mehr dazu). Die Engländer fanden das gar nicht so witzig: Zadek’s dreadful Winter’s Tale in Hamburg, with a provincial prose text...stage covered in green ’slime‘, live sheep, and so onUnd wenn Zadek in Bremen den armen Martin Sperr, der mit Jagdszenen aus Niederbayern ein one day wonder war, daran setzt, Shakespeare neu zu übersetzen, obgleich Sperr kaum Englisch konnte, dann kann man trefflich sehr lange darüber reden.

Zadek ist an vielem Schuld, weil plötzlich jeder Regisseur in Deutschland so sein wollte wie Zadek. Aber Zadek hatte lediglich aus England diese vielen kleinen Gags des Boulevardtheaters mitgebracht, statt Tiefsinn Turbulenz, statt sogenannter Werktreue Gag-Serien, konstatierte der Spiegel ➱1964. Doch viele hielten die kleinen billigen Gags (wie die golfspielenden Bischöfe in Held Henry) für große Kunst, und das ist bis heute die Misere des Regietheathers. Denn die Engländer haben da eine ganz andere Tradition, schon Shakespeare machte viele kleine schmutzige Witze (lesen Sie doch einmal ➱William Shakespeare), weil er wusste, dass die prollige Hälfte seines Publikums das goutierte. Wir haben im Barocktheater nur den Pickelhäring (und schon der war ein englischer Import, den die englischen Komödianten mitbrachten). Wir haben nicht Gilbert und Sullivan und die Music Hall, das haben nur die Engländer.

Der Herr im oberen Absatz ist Simon Butteriss, der als Basilio in The Marriage of Figaro etwas untergeht, aber das liegt an der Rolle. In Cosi fan Tutte hatte er mehr Raum für seine Spielfreude. Und da ich Gilbert und Sullivan erwähnt habe, er kann auch einen komischen ➱Major General. Und für Jacinta Mulcahy sind Gilbert und Sullivan auch eine Stufe auf der Karriereleiter gewesen. Zehn Jahre bevor sie in Hamburg die Fiordiligi sang, war sie in Cork in dem ➱Musical Mr Gilbert & Mr Sullivan zu sehen. Und die Mabel in den Pirates of Penzance hat sie im Opernhaus von Cork auch gesungen.

The Marriage of Figaro ist keine abgefilmte Bühnenaufführung. Dies ist für das Fernsehen gedreht, und die Aufführung nutzt die Möglichkeiten. Viele Figuren wenden sich direkt an die Kamera. Wie Harry Burtons Figaro, wenn er sein Se vuol ballare, signor contino (hier bei ➱Minute 7:43) in die Kamera singt. Das hat vielleicht nicht mehr die bedrohliche Brisanz, die Beaumarchais' La Folle Journée, ou Le Mariage de Figaro drei Jahre vor der Französischen Revolution hatte, aber effektiv ist es doch. Er singt in dieser Aufnahme allerdings nicht Se vuol ballare, signor contino, da man ja alle Texte überarbeitet hat. Statt sein Zimmer mit dem Cinque, dieci, venti, trenta (hier bei ➱Minute 3:00) auszumessen, hören wir ihn mit einer Fernbedienung in der Hand TV, video, HiFi, CD singen.

Leider ist es um das Music Theatre London sehr, sehr still geworden. Als sie begannen, sah es bei denen wahrscheinlich so aus wie auf diesem Szenenbild des Zimmers, das der Graf dem jungen Paar Susanna und Figaro überlassen hat: The basic idea behind Music Theatre London started as a conversation between Nicholas Broadhurst and Tony Britten whilst they were working as Staff and Musical Directors, respectively, for The National Theatre’s 'Guys and Dolls' in 1985. They discovered a shared passion about finding a means of de-mystifying opera. Putting these ideas into practice they organised a workshop of 'The Marriage of Figaro', presenting it as a music drama with actor-singers, and concentrating on re-establishing the importance of the text by experimenting with a new and colloquial translation. The success of the workshop led to a production at the Croydon Warehouse; and the unanimous acclaim with which it was greeted led almost immediately to a West End transfer to The Ambassadors Theatre.

Since that time MTL has continually questioned the conventional notion that Opera is about a sublime musical experience, which propels the entire production process. It is interesting to note that while “designer Opera” is still prevalent - i.e. big pictures and broad strokes, companies like ENO, Opera North and even the Royal Opera House are gradually coming round to the idea that if Opera is an all-encompassing art form then it had better pay attention to all the constituent elements. MTL, however, continues in the vanguard of the restoration of textual and dramatic values by its insistence on the importance of modern and relevant translations, performed by genuine actor-singers. Accompanied by a chamber group playing new orchestrations that ensure that every word is heard, we are able to present comedies that are actually funny, and tragedies that move and affect an audience in a way that we believe is unique.

Vielleicht ist das verlassene Zimmer ein Symbol für die augenblickliche Lage des MTL. Dabei war das Konzept ja goldrichtig. Weg von der designer Opera - und weg von verstaubten Räumen wie diesem - hin zu einem Mozart für jedermann, dessen Melodien man auf der Straße singt und pfeift (so wie man das mit den Melodien von ➱Weber und ➱Jacques Offenbach auch eines Tages tun wird).

Ich nehme an, dass mit dem designer opera so etwas wie die Salzburger Aufführung von Le nozze di Figaro aus dem Jahr 2006 gemeint sein muss. Ich habe die Inszenierung nicht verstanden, weiß aber noch, dass der Bühnenbildner schwer von kalten weißen Treppenhäusern begeistert war. Und dass mir die Freundin von Herrn Putin in der Rolle der Susanna als eine Fehlbesetzung erschien.

Mozart und die Engländer, das ist eine lange Geschichte. Mozart war ja am Anfang seiner Karriere einmal in England. Der König ➱George war von ihm begeistert. Der junge ➱William Beckford wurde angeblich von Mozart unterrichtet, und angeblich hat Mozart die Melodie, die der kleine William Beckford spielte, später zu Figaros Arie Non più andrai, farfallone amoroso verarbeitet. Wenn diese schöne Geschichte wahr ist, dann liegt die Entstehung von Figaros Hochzeit also in England. Und bei den Engländern ist Mozart immer gut aufgehoben gewesen. Was wäre Glyndebourne ohne ihn?

Wenn Sie ein wenig skeptisch bezüglich der gesanglichen Leistungen des MTL sind, dann können Sie sich natürlich diese schöne Aufführung aus ➱Glyndebourne anschauen, die ich schon in dem Post ➱Hochzeitsvorbereitungen hervorhob. Aber wenn Sie den Mut haben, sich auf ein wenig ham acting einzulassen, dann klicken Sie dies hier an (➱Teil 1, ➱Teil 2 und ➱Teil 3). Wurde in der Produktbeschreibung der VHS Cassette damals angepriesen als: Randy conservative Euro MP Sir Cecil Portico has made amorous advances to his wife's maid, Susanna, while his godson, Cherubino, has made some sleazy advances of his own - to the bored Lady Portico. Worse still, news has been leaked to a reporter from The Sun. But Sir Cecil's wily valet, Figaro, has a plan that should put them all firmly in their place. This is Mozart's grand opera transformed into modern soap opera by the BBC, with an English translation that sets the capers and confusions in a National Trust property.

Kostet keinen Eintritt. Und Sie brauchen auch weder Frack noch Smoking.

P.S. In einem Kommentar hat rabinovitch1 auf die Aufnahme von Teodor Currentzis mit seinem Ensemble MusicaAeterna (Sony 2014) hingewiesen. Aus irgendwelchen Gründen weigert sich das System, den Kommentar abzudrucken, also weise ich so noch einmal auf diese schöne ➱Aufnahme hin.

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