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Freitag, 15. Januar 2016

Plebejer


Mit Shakespeare hatte es angefangen. Im Theater. Man ist bei den Proben von Coriolan:

Podulla: Warum ändern wir Shakespeare?
Litthenner: Der Chef sagt, weil wir ihn ändern können.
Podulla: Nach neunundneunzig Versuchen: Warum aber ihn hier. Coriolan? Ihn, der stolz bis zum Hochmut, dennoch selbstlos, dabei ungerecht, starrsinnig ist. Ihn, aus Widersprüchen gefügt. Ein Berg, Koloß, nicht abzutragen.
Litthenner: Der Chef will zeigen, daß Coriolan zu ersetzen ist.
Podulla: Er stürmt im Alleingang Corioli.
Litthenner: Ein Kriegsspezialist.
Podulla: Nein, ein Gigant, schicksalgetrieben und umgeben von Plebs.
Litthenner: Immerhin sind die Plebejer entschlossen, ihn umzubringen. Er diktiert die Kornpreise.
Podulla: Und spuckt ihnen ins Gesicht. Die Plebejer sind ihm lächerlich. Hampelmänner sind ihm die Volkstribunen.
Litthenner: Plebejer und Tribunen will der Chef aufwerten, damit Coriolan auf klassenbewußte Feinde stößt.
Podulla: Er ist sich Feind genug. Coriolan besiegt Coriolan.
Litthenner: Bei uns siegen die Plebejer.
Podulla: Ich kenne seine These: Nicht wirre Revoluzzer, bewußte Revolutionäre will er sehen. Schaffen wir es?
Litthenner: Die erste Szene steht, hoffe ich.
Podulla: Weil der Chef seine Plebejer im Kostüm proben läßt. Dreimal schon wurde die Bauch- und Gliederfabel gestrichen.
Litthenner: Um sie erneut diskutieren zu können.
Podulla: Wir ändern an Änderungen. Basteln darf ich seit Wochen an dieser Kleiderpuppe. Durch die Mangel hab ich das Zeug drehen müssen.
Litthenner: Sag was du willst, wieder einmal hat der Chef seinen Stil gefunden.
Podulla: Abgewetztes Leder und Drillich.
Litthenner: Die Arbeitskluft eines Kriegsspezialisten.
Podulla: Dieser Coriolan vermag allenfalls Vögel zu scheuchen, doch niemals die Plebs unterm Daumen und Roms Gegner in Schrecken zu halten. Coriolan, dem das Siegen wie ein- und ausatmen ist! Er, dessen Hochmut völkermitreißend erst nach fünf Aufzügen zu Fall kommt ...
Litthenner: Wie sagt der Chef? Es habe des Coriolan Bescheidenheit, was Hemd und Hose angeht, seinen himmelstürmenden Hochmut zu belegen.
Podulla lachend: Gewiß! Auch er kleidet sich anspruchslos und wechselt nur notfalls das Hemd.
Litthenner sieht ihn an. Nach einer Pause: Du bist doch wohl nicht der Meinung ...
Podulla: Selbstverständlich bin ich nicht der Meinung.

Es ging in vier Akten um die Macht und die Ohnmacht, um geplante und spontane Revolution, um die Frage, ob Shakespeare sich ändern lasse, um Normerhöhungen und einen zerfetzten roten Lappen, um Worte und Gegenworte, um Hochmütige und Kleinmütige, um Panzer und Steinewerfer, um einen verregneten Arbeiteraufstand, der, kaum war er niedergeschlagen, auf den 17. Juni datiert, zur Volkserhebung verfälscht und zum Feiertag verklärt wurde. Das sagte Günter Grass am fünfzigsten Jahrestag des 17. Juni 1953. Damals hat er neunzig Minuten aus seinem Stück Die Plebejer proben den Aufstand vorgelesen:

Friseuse : Ich bin Friseuse schon vier Jahr. 
Doch schon mit siebzehn ging ich ins Theater: 
Da - da hab ich gesessen, als hier oben 
die Kattrin auf dem Dach saß, stumm, und hat ge-
trommelt, wie ich jetzt schreie: Panzer kommen!
Los Chef, kriech raus aus deinem Bau:
Laß uns der Welt ein Stück aufsagen!
Das auf der Straße spielt, auf Barrikaden
Benzin in Flaschen, Gips in Auspuffrohre.
Die Schlitze zugespachtelt, bis sie blind
sich in die Flanken kurven: Schrott
sind alle Panzer, wenn wir beide
Berlin ein Zeichen geben, komm!
Chef (lacht): Ich soll mit dir?
Friseuse: Ja. Mach. Komm. Wir!
Chef (noch immer lachend): Wir beide?
Friseuse: Du. Ich. Alle! Kommt
Chef: Was meinst du?
Ich? dabei sein, losgelassen ...
Friseuse: Die Linden runter, auf den
Marx- und Engels-Platz ...
Chef: Wie früher unter leergefegtem
Himmel ...
Friseuse: Dann nehmen wir den Sender und du sprichst!
Chef: Gedichtelang alleine, Flucht ...
Friseuse: Zu allen sprichst du.
Chef: Chaos, Flüsse, treiben lassen ...
Friseuse: Nun komm!
Chef: Schon jetzt?
Friseuse: Komm!
Chef: Ja.

Der da in diesem Stück Chef heißt, war niemand anderer als Bertolt Brecht. Wir wissen, dass er nicht mit seiner anspruchslosen Kleidung auf den Barrikaden war. Wir wissen auch, dass er damals an seiner Überarbeitung von Coriolanus arbeitete, und dass er den Satz Ich denke, wir können den Shakespeare ändern, wenn wir ihn ändern können gesagt hat. Die Plebejer proben den Aufstand war - wie der 17. Juni 1953 - ein deutsches Trauerspiel. Wenn Sie jetzt noch einmal den Anfang des Stückes lesen, in dem sich zwei Theaterleute über die Proben von Coriolan, über den Feldherrn Coriolanus und den Chef unterhalten, dann werden Sie merken, dass das Stück ganz schön doppelbödig ist. Reich-Ranicki hat es nicht gefallen. Günter Grass gefiel ihm eh nie, als der Ein weites Feld geschrieben hatte, rechnete er endgültig mit ihm ab. Und zerriss den Roman auf der Titelseite des Spiegel. Das war eine Photomontage. Der Verriss war echt.

Heute vor fünfzig Jahren war die Uraufführung des Stückes von Grass. Er hatte im Jahr zuvor in einer Rede in der Berliner Akademie der Künste angekündigt, dass er dieses Stück vielleicht schreiben werde. Es wird heute (ebenso wie Shakespeares The Tragedy of Coriolanus) wenig gespielt. Wir denken auch sehr wenig an den Aufstand des 17. Juni, was interessiert uns unsere Geschichte? Was soll man dazu sagen? Vielleicht: Doch liegt mir Deutschland warm am Herzen. Ich habe oft einen bittern Schmerz empfunden bei dem Gedanken an das deutsche Volk, das so achtbar im einzelnen und so miserabel im ganzen ist. Ist nicht von mir. Ist von Goethe.

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