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Freitag, 5. Februar 2016

Kirchen


Als ich während meines Studiums ein Volontariat im Kupferstichkabinett der Bremer Kunsthalle mache, ist da ein promovierter Assistent, der jeden Tag eine Schleife trägt, was offensichtlich seit Walter Gropius ein Erkennungszeichen von Architekten ist. Er gesteht mir, dass er in seinem ganzen Studium nur Architektur belegt hätte. Ich habe heute das Gefühl, dass ich nur Malerei studiert habe, aber wenn ich in meinem Studienbuch nachschaue, stimmt das gar nicht: Vorlesungen über alle französischen Kathedralen (Wolfgang J. Müller), die norddeutsche Backsteingotik (Alfred Kamphausen), Revolutionsarchitektur (Müller), dänische Kirchen (Otto Norn), ➱Palladio (Erich Hubala) und so weiter. Ich habe das nur ein wenig verdrängt, weil mich die Malerei mehr interessiert. Aber ich besitze schon ein gewisses substantielles Rüstzeug in der Geschichte der Architektur, auch wenn sich manchmal Leser beklagt haben, dass in diesem Blog zu wenig Architektur zu finden sei. Was übrigens nicht stimmt. Geben Sie doch einmal Architektur in dem Suchfeld unten rechts ein.

Ich habe auch mal an der Uni einen Kurs über Die Architektur Englands gegeben. Ich hatte damals die BBC Sendung Spirit of the Age: Eight Centuries of British Architecture von Roy Strong auf VHS und eine kleine Pappschachtel voller Dias. Ich hatte unseren größten Hörsaal voll, viele Studenten der Kunstgeschichte saßen als Gasthörer da. Aber nur, weil bei denen eine Professur gerade mal unbesetzt war. England interessierte deutsche Kunsthistoriker sonst überhaupt nicht. Viele Studis haben mir dann in den nächsten Jahren noch Postkarten aus England geschickt, auf denen stand, dass das Schloss genau dort sei, wo ich es im Kurs plaziert hatte. Beruhigt mich sehr, dass sich Blenheim oder Castle Howard nicht bewegt haben.

Irgendwie trenne ich Dinge, die ich im Studium erfahren habe, von meinem wirklichen Leben. Die Kirchen auf den Exkursionen mit Professor Kamphausen (Angeler Feldsteinkirchen und Lögumkloster) haben nichts mit meinen privaten Kirchenerlebnissen zu tun. Meine Kommilitonen rennen bei den Exkursionen mit dem Maßband herum, um die Durchschnittslänge der Steine des polnischen Verbands zu messen (ein halbes Dutzend von ihnen promoviert über die Backsteingotik des Ostseeraums), ich sitze in der Kirche und lasse die Stille und die Architektur auf mich wirken.

Manchmal überlege ich mir, dass man Kirchen vielleicht nur von außen betrachten sollte, um nicht hinter ihre Geheimnisse zu kommen. Ich kann Robert Walsers Sätze nicht vergessen, der einmal bei einer Wanderung mit Carl Seelig sagte: Das ist alles viel hübscher von außen. Man muss nicht hinter alle Geheimnisse kommen wollen: Das habe ich mein ganzes Leben so gehalten: Ist es nicht schön, dass in unserem Dasein so manches fremd und seltsam bleibt, wie hinter Efeumauern? Das gibt ihm einen unsäglichen Reiz, der immer mehr verloren geht.

Wolfgang J. Müllers Doppelstunde über die Kathedrale von Amiens ist kunsthistorisch sicherlich brillant, aber mit meinem Erlebnis der Kathedrale im Jahre 1959 hat dies wenig zu tun. Auf den Turm zu klettern und eine Stunde über die Stadt weit hinein in die grüne Picardie zu gucken war wichtiger, als innen gotische Säulen, Bögen und Kreuzrippen zu bewundern. Für so etwas kann man eine Postkarte kaufen, den Blick über Amiens und die Picardie bekommt man aber da nicht, wo die Postkarten verkauft werden.

Am ehesten gibt es noch eine Annäherung zwischen Kunstgeschichte und meiner privaten Kirchenwirklichkeit in der Vorlesung des Kopenhagener Professors Otto Norn. Der weiß alles über alle dänischen Kirchen (er ist auch einer der Herausgeber des Standardwerks Danmarks Kirker). Der redet über Kirchen so, als ob sie keine abstrakten Abbildungen in einem Buch wären. Und die zahlreichen Darstellungen von Löwen in den romanischen Kirchen (hier das Löwentympanon von Blidstrup) quer durch Jütland, über die er redet, kommen natürlich nicht von wirklichen Löwen in Jütland.

Obgleich ich mir in der Vorlesung vor mich hinträumend überlege, dass da vielleicht auch mal ein Wanderzirkus mit einem Löwen in Jütland gewesen sein könnte. So wie in Ingmar Bergmans Das siebte Siegel ein Kreuzritter mit den Gauklern durchs Land zieht, warum können die nicht noch einen Löwen dabei gehabt haben? Doch die haben natürlich keinen Löwen dabei, allerdings könnte der Ritter von seinem Kreuzzug byzantinische Münzen mitgebracht haben, auf denen Bilder von Löwen sind. Dieses Löwentympanon aus Todbjerg (vielleicht Daniel in der Löwengrube darstellend) hat sicher byzantinische Wurzeln.

Es gibt eine Vielzahl von solchen Doppeltieren. In Kristrup (bei Randers) gab es ein Kunstwerk, das zwei Löwen von einem Baum getrennt zeigt (heute im Nationalmuseum Kopenhagen). Sieht aus wie eine Miniaturausgabe des Löwentors von Mykene. Sehr häufig finden sich die Löwen auf Taufsteinen wie in Højslev oder Øster Alling. Oder wie hier in der Storarden Kirke bei Aalborg, einem ganz erstaunlichen Bauwerk. So klein die Kirche ist, so schön ist sie. Sicher haben Amiens, Reims und Vézelay (wo Rostropovich Bachs Cellosuiten gespielt hat) und andere französische Kathedralen ästhetisch mehr zu bieten (zu Kathedralen gibt es hier einen langen Post), aber für die dänischen Kirchen scheint das Prinzip form follows function schon vor achthundert Jahren erfunden worden zu sein.

Ein Beispiel dafür wäre die eindrucksvolle romanische Kirche von Vestervig, die größte Dorfkirche Skandinaviens. Sie ist einmal eine Bischofskirche gewesen, aber sie ist nicht, wie die französischen Kathedralen, gebaut, um in den Himmel zu wachsen. Sie hat nichts von der filigranen Eleganz der französischen Kathedralen, man ist beinahe geneigt zu sagen: nüchterner Zweckbau. Doch sie trotzt jahrhundertelang den Wolken und dem Regen und dem Sturm, der unablässig von England her über die Nordsee fegt. Basilikaform, Granitquadern, original erhalten: das wird Professor Alfred Kamphausen auf der Exkursion immer betonen, wenn er Vestervig mit dem durch ständige Umbauten verhunzten Dom von Viborg (auch ursprünglich eine Basilikakonstruktion) vergleicht. Aber die traurige Liebesgeschichte von Prinz Buris Henriksen, der die schöne Liden Kirsten liebt, die Schwester von König Waldemar, die lässt er natürlich aus. Dabei ist das das erste, was mir bei Vestervig einfällt.

Die Tierbilder in (oder an) den Kirchen Jütlands, die hier häufiger sind als im Rest von Europa, sind natürlich von Münzen, Schmuck und Elfenbein von Byzanz auf Tympanon, Taufstein und Säulen in Jütland gewandert. Durch die Kreuzzüge (wie Sigurd Jorsalfare von Norwegen, der in Schleswig die Tochter von Mstislav I. von Nowgorod heiratete) oder die Beziehungen zum byzantinischen Russland (Waldemar I ist mit Sophie von Minsk verheiratet) wandern all diese Dinge nach Dänemark. Wobei manche Löwendarstellungen doch erstaunlich sind, wie zum Beispiel der Löwe von Skibet (bei Vejle). Der ist zwar im Profil dargestellt, aber der Kopf des Löwen ist en face und guckt den Betrachter an. Das findet sich kein zweites Mal in Jütland. Ursprünglich war es wohl ein Tympanon über der Südtür der Kirche, jetzt hat man ihn außen in die Mauer plaziert.

Kunsthistoriker wissen sehr viel über den Einfluss der byzantinischen Kunst auf Europa. Ich muss an dieser Stelle mal eben den Hamburger Adolph Goldschmidt erwähnen (der auch mal in Kiel studierte), der für amerikanische Millionäre die gesuchteste Instanz war, um die Echtheit ihrer Sammlung byzantinischer Kunst zu bestätigen. Die meist teuer erworben, aber leider selten wirklich echt war. Ich kann dazu die Lektüre von Goldschmidts Lebenserinnerungen nur wärmstens empfehlen. Diese byzantische Gürtelschnalle mit einem Löwen drauf ist zur Zeit bei dem Händler ausverkauft, aber hier hat auch niemand behauptet, dass dies ein Original ist.

Und abgesehen von Adolph Goldschmidt (den die Nazis aus Deutschland vertrieben haben) und dem Handel mit byzantinischen Repliken, sollte ich noch erwähnen, dass es eine ganz neue Dissertation zum Thema Byzanz und Skandinavien gibt. Kostet 160 Euro, aber man kann auch bei Google Books eine Menge davon lesen. Macht leider keinen Spaß, der Autor liebt die Theorie, und der Stil der Theoriefreaks ist immer etwas abschreckend. Auf jeden Fall für mich, ich würde meinen Lesern so etwas nicht anbieten:

Es ist daher das Ziel, auf der Basis einer bis heute nicht geleisteten und dringend benötigten transdisziplinären Gesamtschau aller relevanten Quellen ... die byzantinisch-skandinavischen Kontakte und ihre Konsequenzen für den skandinavischen und den byzantinischen Kulturraum zu rekonstruieren, zu analysieren und zu bewerten. Dazu müssen die Wahrnehmung des jeweils Fremden auf beiden Seiten und die personale Basis des Kontakts untersucht werden, ebenso die von Transferprozessen betroffenen Kulturbereiche sowie der Rezeptionsverlauf des jeweils Fremden im neuen Kontext. Es gilt, zu einer differenzierteren Sicht auf die Interferenz verschiedener synchroner Kulturverflechtungen bei der Formierung Nordeuropas und ihre Relevanz für die europäische Geschichte beizutragen.

Häufig verschlingen die jütländischen Löwen andere Tiere. Oder Menschen, wie bei der Plastik in Öster Starup (bei Kolding). Die Masse der Löwen findet sich auf Taufsteinen. Aber die sehen ganz anders aus als der Taufstein im Bremer Dom, wo drei auf Löwen reitende Männer die Füße des Bronzegusses bilden. Die Dänen haben in zwei Jahrhundert das größte Kirchenbauprogramm Europas durchgezogen, knapp zweitausend romanische Kirchen, danach wird auf dem Land nicht mehr gebaut. Und überall die Taufsteine aus Granit, in Jütland verziert mit Löwen aller Arten.

Die Art der Taufbecken ändert sich von Gegend zu Gegend. Eine der selbständigsten Gruppen bilden die prachtvollen ostjütischen 'Löwenbecken'. Sie sind mit Tierreihen verziert oder mit heraldisch paarweise gegenübergestellten Löwen, bald mit je einem Kopf. Der Sinn der Löwenfiguren läßt sich nicht mit Sicherheit deuten, vielleicht stellen sie die bösen Mächte dar, gegen welche die Taufe den Menschen schirmt.

Steht so in dem Buch Dänemark, das Bent Rying und Mikal Rode 1962 im Auftrag des dänischen Außenministeriums herausgegeben haben. 900 Seiten dick, alles drin, was man vor einem halben Jahrhundert über Dänemark wissen konnte. Auch Enrico Mylius Dalgas, der Jütland (das ausländische Reisende als die jütländische Wüste beschrieben) durch Aufforstungen wieder zottig machen wollte, ist in dem Band. Man kann das Buch übrigens noch antiquarisch finden (bei booklooker für 5,80). Meins hat mich vor fünfzig Jahren zwei Mark im Antiquariat gekostet. Das Bild auf dem Cover zeigt den berühmten Runenstein von Jelling. Auf dem man links einen mit einer Schlange kämpfenden Löwen entdecken kann.

Und natürlich ist das Katzenkopfportal in Ribe, das Waldemar I und seine Gattin Sophia zeigt, eigentlich ein Löwenportal. Kirchen faszinieren mich seit ich klein bin, vor allem, wenn sie leer und verlassen sind. In manche Kirchen kommt man leider nicht hinein, in den fünfziger Jahren sind noch viele die Woche über abgeschlossen. In manche Kirchen kommt man auch nicht hinein, wenn man die falsche Kleidung trägt.

Meiner Mutter wird der Besuch des Schleswiger Doms (wo sich neben dem Petri Portal auch verwitterte Reste eines Löwen finden) anfangs der fünfziger Jahre verwehrt, weil sie ein Paar Shorts trägt. Wir kommen von einem dänischen Campingplatz, da darf man Shorts tragen (wobei Shorts in den Fifties nun wirklich keine hot pants sind). Aber meine Mutter muss zurück zum Auto und einen Rock überziehen, wenn sie den Brüggemann Altar sehen will. When in Rome do as the Romans do. Ich kenne damals diesen schönen Satz noch nicht, weiß auch nicht ob Ambrosius oder Augustinus ihn gesagt hat oder ob Robert Burton ihn auf dem Gewissen hat.

Aber in Bezug auf Kirchen werde ich mich daran halten. Ein kurzes Beobachten von katholischen Gläubigen wird mir das Repertoire des Bekreuzigen und Niederknieens vermitteln, sodaß ich in keiner katholischen Kirche als Ungläubiger auffalle. Spätestens seit Trier bin ich in katholischen Kirchen topfit. Das ist das Jahr, in dem wir in der Unterprima unsere große und lange Studienreise nach Köln, Mainz und Trier machen und eine ausführliche Studienarbeit schreiben müssen. Ich schreibe über die Deckengemälde in Balthasar Neumanns St. Paulin. Dafür bin ich eine Woche lang, manchmal den ganzen Tag in St. Paulin. Ich habe, weil es die Höflichkeit gebietet, dafür den Pfarrer um Erlaubnis gefragt. Weil ich manchmal auf dem Boden liege. So kann man die Deckengemälde von Christoph Thomas Scheffler besser studieren.

Als ich Jahrzehnte später aus dem Grabbelkasten eines Antiquariats einen Kunstbildband über Trier mitnehme, erkenne ich von der Konstantinbasilika bis zur Porta Nigra alle Gebäude wieder, nur St. Paulin nicht. Ich bin da immer nur durch den Seiteneingang von der Straße rein, das Hauptportal habe ich nie gesehen. Unverzeihlich. Doch ich weiß alles über Christoph Thomas Scheffler und den nach Phrygien verbannten Trierer Bischof Paulinus. Wenn man den ganzen Tag in einer Kirche ist, weiß man, wer wann kommt. Dies ist ein pulsierender Mikrokosmos.

Leider übt hier niemand auf der Orgel. Das gehört für mich eigentlich in Kirchen dazu. Für Orgelkonzerte bin ich sogar jahrelang in den Bremer Dom oder in die Martinikirche (Bild) gegangen und später in die Nikolaikirche in Kiel. An der Martinikirche hat Joachim Neander gewirkt. Das ist der Mann, nachdem der Neandertaler benannt ist. Und der den Choral Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren geschrieben hat. Ich finde die Orgel eigentlich ein abscheuliches Instrument, keine Orgel, auch nicht von Silbermann, klingt wirklich schön. Klingen immer, als seien Mäuse drin. Was wohl bei vielen auch der Fall ist.

Die in der Nikolaikirche von Kiel (Bild) ist von 1965 und sie klingt eigentlich gefällig, obgleich die modernen Orgeln zwar in der Höhe brillieren, aber häufig für große Kirchen viel zu wenig Bassfundament haben. Ich gehe jahrzehntelang am Wochenende in diese Kirche, um die Orgelkonzerte zu hören und zu träumen. Das ist es, was mich anzieht, in einer halb leeren Kirche bei einem Orgelkonzert träumen. Als in Kiel einmal die Endausscheidung von Jugend Musiziert ist, gehe ich in die Nikolaikirche, um mir den Nachwuchs anzuhören. Viele der jungen Organisten haben schon diesen kirchlichen Blick, wenn sie sich an einem Tisch im Mittelschiff vor dem Altar bei dem Schiedsgericht ihre Noten abholen. Bis auf ein sechzehnjähriges Mädchen mit blondem Pferdeschwanz, im Trainingsanzug mit Adidas Sneakers. Hat sich verspätet, kommt erst beim dritten Namensaufruf in die Kirche. Und fegt dann durch das Langschiff, die Empore rauf und ran an die Orgel. Und spielt einen Bach voller Verve, dass der schon etwas von Jazz bekommt. Jacques Loussier und Rhoda Scott hätten ihre Freude gehabt. So geht das offensichtlich auch. Mir bleiben Orgeln ein Rätsel, Manuale, Pedale, Knöpfe zum Ziehen. Ein einziges Mal habe ich in einer kleinen dänischen Kirche Nun danket alle Gott gespielt, aber auf den ganzen Instrumentenwirrwarr der Register verzichtet. Also nix mit Principalbaß, Hautbois und Dolzflöte. Klang aber auch ganz gut, hat Ingrid gesagt.

Balthasar Neumanns St. Paulin ist ja noch halbwegs kuschelig und übersichtlich, sein Vierzehnheiligen nicht. Diese großartigen süddeutschen Kirchen sind nichts für mich. Zwei Stunden Vierzehnheiligen und ich war den ganzen Tag ästhetisch besoffen. Wenn man als Norddeutscher kleine Kirchen mit weißgekalkten Wänden ohne Schmuck gewohnt ist, dann macht einem der opulente süddeutsche Barock mit seinen Ausschmückungen ad maiorem dei gloriam eher Angst. Wahrscheinlich wollen viele Kirchen dem Gläubigen mit ihrer Architektur auch Angst einflößen. Und dann noch in die Stille hinein der wie Donner rollende Orgelbaß, timor mortis perturbat me.

Unsere Kirche in Vegesack enthält weder Löwenmotive noch eine barocke Prachtausstattung, sie kann auch nicht auf eine mittelalterliche Herkunft zurückblicken. Man hat in Vegesack über Jahrhunderte keine Kirche gebraucht, da der Ort gerichtsmäßig und fiskalisch entweder zum Amt Blumenthal oder Lesum gehörte. Da mussten die Gläubigen sonntags einige Meilen laufen. Erst nachdem Georg Gröning den Engländern den Ort abgeschnackt hat und der Magistrat der Stadt Bremen eine eigene Vegesacker Gemeinde zulässt, stellt sich die Frage einer Kirchengründung. Zur Dreihundertjahrfeier der Reformation am 31. Oktober 1817 vereinigen sich die lutherische und die reformierte Gemeinde zu einer Gemeinde. Ein Gott, ein Christus, eine Gemeinde wird über dem Portal der Kirche stehen. Auf der Stiftungsurkunde steht als erster Name der des Amtmanns August Christian Wilmanns. Als zweiter unterschreibt der berühmteste Vegesacker, Dr Albrecht Wilhelm Roth. Dann folgen (ohne systematische Ordnung) 91 Namen mit Berufsangabe: See-Schiffer, Capitain, Lootse, Seemann, Hafenmeister. Ein Abbild der soziologischen Schichtung des Fleckens.

Man macht sich das heute nicht mehr klar, dass diese Vereinigung ein revolutionärer Akt ist. Lutheraner haben im puritanischen Bremen keinerlei Ansehen. Für den calvinistischen Bürgermeister ➱Johann Smidt kommen sie gleich nach den Juden. Nicht dass Smidt an dem vorherrschenden Kalvinismus Schuld ist. Den bringen die Holländer ins Land, seit Heinrich von Zütphen 1522 in der Ansgari Kirche gepredigt und die Reformation nach Bremen gebracht hat. Jahrzehnte später stürzt der Prediger Albert Rizäus Hardenberg (aus der holländischen Provinz Overijssel) die Stadt in ihre größte politische Krise, Bremen wird sogar aus der Hanse ausgeschlossen. Der Bürgermeister Daniel von Büren (der bei Luther und Melanchton studiert hat) holt Christoph Pezel aus Nassau-Dillenburg nach Bremen.

Pezel, der Prediger an der Ansgari Kirche (Bild) wird und sich Pezelius nennt, sollte im Glaubenskampf zwischen Lutheranern und Kalvinisten vermitteln. Das Ergebnis ist, dass Bremen von nun an reformiert sein wird und Pezelius einen beispiellosen Bildersturm organisieren wird. Daran zu denken, tut einem Lutheraner und Kunsthistoriker immer weh. Der ehemalige Direktor des Focke Museums und Bremer Landesdenkmalpfleger Werner Kloos führt das Kunstbanausentum der Bremer auf den Bildersturm von Pezel zurück: Die Verarmung des bremischen Kunstbesitzes rührt aus jener Zeit, jedoch auch eine gewisse allgemeine Gleichgültigkeit gegenüber den Werten künstlerischer Aussage.

Der Kirchenbau in Vegesack wird öffentlich ausgeschrieben, sieben Zimmermeister werden Entwürfe einreichen. Finanziert wird die Kirche aus Spenden und Anteilscheinen. Ein evangelischer Pastor aus Archangelsk sendet 1.000 Rubel. 1821 ist die Kirche fertig, aber man wird sehr schnell feststellen, dass die Kirche zu klein ist. Schon für den ersten Gottesdienst am 5. August 1821 musste man Eintrittskarten ausgeben. 1828 können von 514 Familien nur 197 einen Kirchenplatz mieten. Für den Erweiterungsbau gewinnt man den renommierten Bremer Architekten Jacob Ephraim Polzin, dessen Entwürfe man 1818 nicht berücksichtigt hatte.

Polzin wird der Kirche ihr heutiges Gesicht geben, den klaren Stil seines Kopenhagener Lehrmeisters Christian Frederik Hansen. Der die Palmaille und die Marienkirche in Quickborn (Bild) gebaut hat. Der Innenraum unserer Kirche ist sehr ähnlich. Es gibt nicht so viele rein klassizistische Kirchen in Norddeutschland. Das begrüßenswerteste bei der Kirche ist, dass sie nicht durch Modernisierungen verschlimmbessert worden ist.

Die Wände sind kahl und weiß, einen Bildersturm brauchen wir nicht, wir haben von Anfang an keine Bilder (ich lasse die Kopien von Monumentalgemälden von Rubens und Raffael im Raum hinter der Kanzel mal unerwähnt, man sieht die auch kaum). Die Kanzel aus Mahagoni und die liturgischen Farben auf dem Altar sind der einzige Schmuck. Dies ist der Gegenentwurf für Vierzehnheiligen.

Das Mahagoni für die Kanzel wurde von zwei Kapitänen gestiftet. Die haben das Holz wahrscheinlich aus der Südsee mitgebracht. Die Kapitäne wetteifern in dieser Zeit auch darüber, wer die schönste Haustür aus tropischem Edelholz hat, die Kapitänshäuser in der Weserstraße sind Zeugen davon.  Dieses Bild hier hat Polzin sicher mit einem gewissen architektonischen Vergnügen gemalt, es ist das Bremer Zeughaus. War aber auch mal eine Kirche. Wenn Sie der Meinung sind, dass Kanonen nicht in das Katharinenkloster gehören, stimme ich Ihnen zu. Heute ist da ein Parkhaus und der ➱Herrenausstatter Stiesing. Ist das besser?

In Bremen gibt es noch eine klassizistische Kirche, die Horner Kirche Zum Heiligen Kreuz, zur gleichen Zeit gebaut, die aber architektonisch nicht so ausgewogen ist wie unsere. Dann ist da noch St. Ludwig in Celle oder St. Peter in Krempe. Und natürlich der großartige Innenraum von St. Lamberti in Oldenburg, der aussieht, als hätte sich Sir John Soane hier auf Geheiß des Großherzogs Ludwigs ausgetobt. Doch es war nicht Soane, es war ein Baumeister namens Joseph Bernhard Winck, der auch das Schloss Rastede umgebaut hat.

Der Denkmalpfleger Rudolf Stein, dem die Bremer alles über die Baugeschichte Bremer Häuser verdanken, sieht in seinem Buch Klassizismus und Romantik in der Baukunst Bremens eine Nähe der Vegesacker Kirche zur Potsdamer Garnisonskirche und den Kirchenbauten von Langhans. Mir sind solche Vergleiche etwas zu groß, die Garnisonskirche (das Bild sieht aus, als wäre es Eduard Gaertner, ist aber von seinem Kollegen Carl Hasenpflug) habe ich nur in Büchern gesehen. Aber was es an Bildern vom Innenraum gibt, zeigt doch, dass dies viel pompöser ist als unsere schlichte Kirche.

Mir scheint eher, dass Polzins Kirche mit der schlichten Funktionalität etwas von den Idealen Palladios wahrmacht. Sie hat eine große Ähnlichkeit mit einer Kirche, die auch im Jahre 1832 geweiht wurde, der Walfängerkirche Seamen’s Bethel in New Bedford (Bild). Herman Melville hätte an der Vegesacker Kirche seine Freude gehabt. Seit 1908 braucht man kein Kirchengestühl mehr zu mieten, dennoch sitzen in den fünfziger Jahren die Gemeindemitglieder immer an der gleichen Stelle, an der wahrscheinlich schon ihre Eltern und Ureltern gesessen haben. Natürlich gibt es auch weiterhin Plätze für den Kirchenvorstand. Platz findet man in Kirchen heute immer, nach dem Krieg sind die Kirchen noch voll, heute nicht mehr.

Once I am sure there's nothing going on
I step inside, letting the door thud shut.
Another church: matting, seats, and stone,
And little books; sprawlings of flowers, cut
For Sunday, brownish now; some brass and stuff
Up at the holy end; the small neat organ;
And a tense, musty, unignorable silence,
Brewed God knows how long. Hatless, I take off
My cycle-clips in awkward reverence.

Move forward, run my hand around the font.
From where I stand, the roof looks almost new -
Cleaned, or restored? Someone would know: I don't.
Mounting the lectern, I peruse a few
Hectoring large-scale verses, and pronounce
'Here endeth' much more loudly than I'd meant.
The echoes snigger briefly. Back at the door
I sign the book, donate an Irish sixpence,
Reflect the place was not worth stopping for.

Yet stop I did: in fact I often do,
And always end much at a loss like this,
Wondering what to look for; wondering, too,
When churches will fall completely out of use
What we shall turn them into, if we shall keep
A few cathedrals chronically on show,
Their parchment, plate and pyx in locked cases,
And let the rest rent-free to rain and sheep.
Shall we avoid them as unlucky places?

Or, after dark, will dubious women come
To make their children touch a particular stone;
Pick simples for a cancer; or on some
Advised night see walking a dead one?
Power of some sort will go on
In games, in riddles, seemingly at random;
But superstition, like belief, must die,
And what remains when disbelief has gone?
Grass, weedy pavement, brambles, buttress, sky,

A shape less recognisable each week,
A purpose more obscure. I wonder who
Will be the last, the very last, to seek
This place for what it was; one of the crew
That tap and jot and know what rood-lofts were?
Some ruin-bibber, randy for antique,
Or Christmas-addict, counting on a whiff
Of gown-and-bands and organ-pipes and myrrh?
Or will he be my representative,

Bored, uninformed, knowing the ghostly silt
Dispersed, yet tending to this cross of ground
Through suburb scrub because it held unspilt
So long and equably what since is found
Only in separation - marriage, and birth,
And death, and thoughts of these - for which was built
This special shell? For, though I've no idea
What this accoutred frowsty barn is worth,
It pleases me to stand in silence here;

A serious house on serious earth it is,
In whose blent air all our compulsions meet,
Are recognized, and robed as destinies.
And that much never can be obsolete,
Since someone will forever be surprising
A hunger in himself to be more serious,
And gravitating with it to this ground,
Which, he once heard, was proper to grow wise in,
If only that so many dead lie round.

Philip Larkin macht sich in seinem Gedicht Church Going Gedanken, was eines Tages aus den leeren Kirchen werden soll. Vor diesem 1954 geschriebenen Gedicht hat sich noch kein Dichter so recht darüber Gedanken gemacht. Das Land, wo die Kirchen schön und die Häuser verfallen sind, ist so gut verloren als das, wo die Kirchen verfallen und die Häuser Schlösser werden. Aber man sieht es kommen, eines Tages werden Kirchen nur noch einen historischen Status haben, ihren Platz im Gemeindeleben werden sie verlieren, weil es kein Gemeindeleben mehr gibt. Es sei denn, man macht Hundegottesdienste oder Bingo in der Kirche. Das mit den Hundegottesdiensten ist kein Witz, das hat der Vegesacker Pastor (der lieber an Bord von Kreuzfahrtschiffen als in seiner Gemeinde ist) hingekriegt, glücklicherweise nicht in der Kirche sondern im Stadtgarten. Sweet sixteen goes to church, just to see the boys hat Lonnie Donegan 1957 gesungen (war wochenlang in den Charts). Und Sänger hunderte von Jahren davor haben von Little Musgrave gesungen, der die schöne Frau von Lord Arlen in der Kirche trifft.

Und natürlich gehört das zu Kirchen vor einem halben Jahrhundert auch dazu. Nachdem man sich lange Jahre als Kind in der Kirche gelangweilt hat und nun in ein Alter kommt, in dem einen junge Frauen interessieren, wird die Kirche auch wieder interessanter. Wenn schöne junge Frauen in der Kirche sind, putting on the style, wie es bei Lonnie heißt. Wäre schön, wenn der Pastor jetzt noch die sexy Stellen vom Hohelied Salomonis vortragen würde, aber das scheint irgendwie für den Kirchengebrauch zensiert zu sein. Der Baumeister Polzin macht es einem leicht, schöne junge Frauen in der Kirche zu beobachten, das Kirchengestühl ist, obwohl verwinkelt, so angelegt, dass sich die Gemeinde sehen kann. Hier sitzen nicht alle in einem Langschiff und blicken in eine Richtung, dies ist eine Hallenkirche, die durch die Sitzordnung das Gemeinschaftsgefühl der Gemeinde betont (das Internet hat leider keine Bilder, aber in den im oberen Absatz abgebildeten Büchern von Rudolf Stein sind natürlich Abbildungen). Dies hier ist St Marien in Husum (ähnelt auch der Marienkirche von Quickborn) von Polzins Lehrmeister Christian Frederik Hansen, unsere Kirche sieht innen sehr ähnlich aus.

Die Nachbargemeinden von Vegesack haben meistens neugotische Kirchen aus dem 19. Jahrhundert, die aber recht eindrucksvoll ausfallen können, wie die Aumunder Kirche oder die Blumenthaler Kirche (wobei sie, so eindrucksvoll sie sein mögen, nicht an die Hemelinger Kirche herankommen). Und natürlich nicht an all das in London, was John Ruskin und Sir John Betjeman so toll fanden. Oder man geht historisierend noch weiter in der Baugeschichte zurück, wie der um die Jahrhundertwende bekannte Architekt Karl Mohrmann, der in Grohn 1908 eine kompakte neuromanische Kirche baut, eine richtige kleine Trutzburg. Genau für Pastor Hemmelgarn mit seiner Donnerstimme geeignet.

Mohrmann entwirft um die Jahrhundertwende auch die Blumenthaler Martin Luther Kirche in der Wigmodistraße, zu der meine Oma immer gegangen ist. Wohin wir am Sonntag gehen, hängt ein wenig von der Laune meiner Mutter ab. Bei dem guten alten Pastor Heinrich Keller, der mit Opa befreundet war, hätte sie nicht die Kirchen von Sonntag zu Sonntag gewechselt, aber mit seinen Nachfolgern kommt sie nicht so zurecht. Weil sie im Herzen, genau wie die ganze querulatorische Sippschaft aus Westfalen, eine echte Lutheranerin ist. Deshalb hat sie auch in der Aumunder Kirche (einem neugotischen Scheusal, hier das Langschiff) und nicht in Vegesack geheiratet. An das Ein Gott, ein Christus, eine Gemeinde hat sie bestimmt nie geglaubt.

Wir können daran sehen, dass die Glaubenskämpfe in Bremen mit Pezelius nicht zu Ende sind (Georg Weidemann will ich jetzt lieber nicht erwähnen). Und so sind wir häufiger in Grohn, weil Pastor Hemmelgarn so eindrucksvoll predigt. Manchmal auch in dem neugotischen Monster in Aumund. Und einmal Weihnachten bei Manfred Hausmann in der Rönnebecker Kirche (Bild), das gilt in Bremen als chic. Ich persönlich finde das alles ein bisschen albern. Seit dem Mittelalter stehen die Botschaften künstlerisch verschlüsselt, aber doch klar zu erkennen, über der Eingangstür des Gotteshauses. Bei uns braucht man sich nicht einmal in christlicher Ikonographie und Symbolik auszukennen. Ein Gott, ein Christus, eine Gemeinde - reicht dieses Bekenntnis über der Tür nicht aus? Ich mag unsere Kirche, mir gefällt unsere klassizistische Kargheit und die ausgewogenen Proportionen von Polzins Bau. Nicht nur, weil man da so schön schöne Frauen beobachten kann.

Die einzige Kirche im Bremer Norden, die kunsthistorisch mit uns konkurrieren kann und die auch wirklich schön ist, ist die Lesumer Kirche. Die auch eine Vegesacker Kirche ist, denn jahrhundertelang müssen die Lutheraner aus Vegesack hierhin zum Gottesdienst wandern und auch noch finanziell für den Erhalt der Kirche aufkommen. Die Reformierten gehen nach Blumenthal, aber die haben nicht solch schöne Kirche wie St. Martini. Für die heutige neugotische Kirche (das hier ist sie) hatte der Reeder Christian Heinrich Wätjen 1879 die Summe von 200.000 Reichstaler springen lassen. Im Gegenzug hatte er dafür auch Kirchenland bekommen, um seinen ➱Park zu vergrößern, in dem er sich ein Schloss nach englischem Vorbild im Tudor Stil bauen lässt (zu den Schlossbauten Bremer Millionäre könnten Sie auch noch die Posts ➱Horace Walpole und ➱Knoops Park lesen).

Die Lesumer Kirche hat natürlich auch die pittoreske Lage für sich, auf der Geestkante auf einem kleinen Berg, so dass man sie von Lesumbrook aus schon von weitem sehen kann. Von der Lesum aus natürlich auch. Sie könnten jetzt noch den Post Sommer in Lesmona lesen. Und sie ist in der Basis alt, noch aus fränkischer Zeit. Da nennt man Kirchen gern St. Martini, weil der Bischof Martin von Tours der Nationalheilige der Frankenkaiser ist. Ich habe einmal im Düsternbrooker Gehölz in Kiel an einem schneegrieseligen Tag in der Abenddämmerung einen Reiter mit einem blauen Mantel gesehen, der den Berg heraufritt.

Das war ein seltsames Erlebnis, bis mir einfiel, dass es Martinstag war und der wahrscheinlich zu einem religiösen Spiel unterwegs war, um dort seinen Mantel zu zerschneiden. Der Turm von St. Martini ist noch aus der Zeit der Frankenkaiser, das Kirchenschiff ist jünger. Weil die Kirche im Schwedenkrieg stark in Mitleidenschaft gezogen wurde (die Burger Schanze liegt gegenüber).

Man hat aber die alten Steine genommen, um im 18. Jahrhundert eine spätbarocke Saalkirche zu bauen, davon gibt es in Bremen nicht mehr so viele. Rablinghausen, Use Kark an’ Diek, ist nach dem Krieg restauriert und wiederaufgebaut worden, eine kleine historische Kostbarkeit. Aber auch innen ist die Lesumer St. Martini Kirche gefällig, kein Vergleich mit dem armen Vetter, der Martinskirche in Zetel. Obgleich die in ihrer Schlichtheit auch sehr schön ist. Ich habe darin mal schöne Photos von einer schönen Frau gemacht.

Der Vegesacker Friedhof liegt nicht mehr in Vegesack. Nachdem die Gräberstätte in der Kirchheide um die Kirche herum 1873 zu klein geworden war, wurde in der Lindenstraße in Lobbendorf 1876 ein neuer Friedhof angelegt. Das Tor zur Lindenstraße ist noch im Originalzustand. Es gibt ein Grabmal für den Afrikaforscher Gerhard Rohlfs und ein Ehrengrab für den ehemaligen Bürgermeister, Dr. Werner Wittgenstein, den die Nazis aus dem Amt gejagt haben.

Es gibt repräsentative Gräber für Werftbesitzer wie die Familie von Johann Lange mit ihrem Marmorengel. Andere Honorationen ziehen unscheinbarere Gräber vor. Der Bremer Familienforschunsgesellschaft MAUS (die seit 1924 existiert), hat Listen aller Gräber im Internet, und es gibt auch eine Internetseite für den Vegesacker Friedhof. Es gibt auch Tendenzen, ihn zu einer Attraktion innerhalb einer touristischen maritimen Meile zu machen. Ich finde solchen Friedhofstourismus ein wenig morbide und kann der Idee, Friedhöfe zu touristischen Zielen zu machen, nicht so viel abgewinnen (ich weiß, dass der Lokalhistoriker Thomas Begerow, der viel für den Erhalt historischer Gräber getan hat, das jetzt nicht so gerne hört). Ich bin auch nie auf dem Père Lachaise gewesen. Und die pastorale Stimmung, die Thomas Grays Elegy, written on a country churchyard auszeichnet, konnte hier nie aufkommen, keine Abendglocken, keine nach Hause ziehenden Herden und Eulen im Mondenschein. Hier klang Tag und Nacht der Eisenhammer vom Fluss herüber. Der einzig poetische Augenblick waren die Sonnenuntergänge, wenn sich die rote Abendsonne in dem Spinnennetz von Helgen und Kränen verfing. Heute ist es ruhig auf der anderen Straßenseite von Lobbendorf. Die Werft des Bremer Vulkans ist selbst zu einem großen Friedhof geworden.

Ich bin ja schon glücklich, dass sich die Gemeinde endlich besonnen hat, die riesigen Müllbehälter von der Rückseite unseres Familiengrabes zu entfernen. Dafür musste ich im Gegenzug unsere Birke opfern, die nach einem halben Jahrhundert zu groß geworden war. Meine Mutter hat das leider nicht mehr erleben können, dass die Müllbehälter verschwunden sind. Die haben ihr die letzten Lebensjahre vergällt. Zu einer vernünftigen Diskussion war die Gemeinde nicht bereit. Man hätte sie verklagen sollen, aber vor einem solchen Schritt schreckt man dann doch zurück. Man glaubt immer, nur weil dies ein Friedhof ist, der mit Kirche und Gott zu tun hat, seien hier Einsicht, Weisheit und Vernunft zu finden. Aber das sind kleine Verwaltungsspießer, wie sie überall sitzen, eine krude Mischung aus wilhelminischem Untertanengeist und kleinbürgerlichem Größenwahn, wie sie uns Deutsche leider ein Jahrhundert lang auszeichnet.

Opa hat das Grab kurz nach dem Krieg gekauft, er musste natürlich eins ganz vorn bei der Kapelle nehmen, als ob man mit dieser Lage schneller in den Himmel kommt. Die Kapelle ist 1930 von dem Vegesacker Architekten Ernst Becker-Sassenhof gebaut worden. Diese unterkühlte Schönheit der Bauhausideale kann man heute aber nur noch auf alten Architekturphotos erkennen, da die Kapelle 1958 erweitert und umgebaut wurde. Das hätten sie mal lieber lassen sollen und stattdessen etwas mehr Geld in das orgelähnliche Instrument stecken sollen. Oder in den, der das spielt. Das letzte Mal, als ich da zu einer Beerdigung war, klang die Aria von Bachs Goldberg Variationen so, dass Johann Sebastian sie nicht wiedererkannt hätte. Ich hätte den Organisten nicht im voraus bezahlen sollen.

1 Kommentar:

  1. Brilliant wie immer! Und "Das siebente Siegel" sollte auch mal eine Würdigung und ein Screening in ARTE oder ARD bekommen, wobei mir "Wilde Erdbeeren" noch besser gefällt, vermutlich wegen meines Alters und einer gewissen Affinität zu Lund. Übrigens, Bergman mit nur einem "n"...

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