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Samstag, 19. März 2016

Die Frau ohne Gesicht


Ich habe kein Mobiltelephon, ein Smartphone schon gar nicht. Hätte ich so etwas, dann hätte ich das Bild photographiert, um das es heute gehen soll. So bleibt das heute eine Bildbeschreibung ohne Bild. Wenn bei mir mal jemand vorbeikommt, der ein Smartphone hat, werde ich ihn zwingen, das Bild zu photographieren und es in meinen Computer zu zaubern. So lange müssen Sie warten. Aber ich stelle hier schon mal ein schönes Bild von der schwedischen Malerin Fanny Brate aus dem Jahre 1902 hin, ich brauche diese skandinavische Atmosphäre.

Und das Sofa im Hintergrund. Hier ist ein ähnliches Sofa, diese schwedischen Sofas werden gleich noch eine Rolle spielen. Fanny Brate ist als Malerin unterschätzt, ich glaube, ich schreibe demnächst einmal über sie. Wir können an diesen Bildern natürlich auch sehen, woher Carl Larsson (der hier einen Post hat) seine Ideen von der Innenausstattung schwedischer Wohnzimmer hat. Aber zurück zu meinem Bild.

Es war Liebe auf den ersten Blick. Was kostet die Frau ohne Gesicht? rief ich dem Händler nach, der gerade den Raum verlassen wollte. Fünfzig, war die knappe Antwort. Ich hatte mit einem höheren Preis gerechnet, hätte vielleicht auch einen höheren Preis bezahlt. Das Bild war einfach gut. Ich drängelte mich durch die Kunden, die über Perückenmoden diskutierten. Mittwochs ist es immer voll im Laden, weil das der erste Tag der Woche ist, an dem ➱Stöbern & Wohnen offen ist.

Ich musste jetzt erst einmal hinter den Ladentisch kommen, ich wollte dieses Bild mit der Frau ohne Gesicht in der Hand halten, das da auf dem Boden stand. Zwanziger Jahre, sagte mir eine Frau im Vorbeigehen. Sie ist Kunsthistorikerin und eigentlich ganz nett, aber sie redet mir zu viel. Das kommt wahrscheinlich daher, dass sie Führungen macht, da muss man viel reden. Das kann man nicht abstellen. Ich kenne das, es ist ein Grundproblem der chattering classes. Aber in diesem Augenblick ersparte ich mir einen Vortrag darüber, woran ich sehen könnte, dass dies ein Bild aus den zwanziger Jahren sei, indem ich Interessant sagte. Interessant ist in solchen Situationen immer gut.

Ich hätte diesen Post gerne la belle inconnue genannt, aber das geht nicht, diese Bezeichnung habe ich schon in den Posts ➱la belle inconnue (in dem sich dieses Bild von Iwan Kramskoj findet), ➱Tolstoi, ➱Breakfast at Tiffany's und ➱Vergil gebraucht. Also nehme ich als Titel Die Frau ohne Gesicht.

Obgleich es ein Gesicht von ihr gibt, aber nicht auf diesem Bild (inzwischen ist das erste Photo gemacht worden, was Schärfe und Ausschnitt betrifft, ist das noch verbesserungsfähig). das nur eine Skizze ist. Steht auch so in schwedischer Sprache (skiss) auf dem Keilrahmen. Es steht sehr viel auf dem Keilrahmen, das machte die Identifizierung von Maler und Modell möglich. Wenn man die schwedischen Kritzeleien richtig deuten kann. Früher hätte ich für die Identifizierung Wochen, wenn nicht Monate, gebraucht. Jetzt hilft einem das Internet. Wenn man das richtig zu bedienen weiß.

Die uns bisher noch unbekannte rothaarige Dame sitzt auf einem Sofa, das man in Schweden wohl als gustavianisch bezeichnet. Also ungefähr ein solches Modell, Vorläufer des coolen skandinavischen Möbelstils. Sie trägt ein schwarzes Kleid (oder Kostüm), unter dem sie eine Bluse in beige-bronzegold trägt. Es sind viele Abstufungen von beige, weiß und grau in diesem Bild, aber das Bild ist nicht so trist wie das von ➱Whistlers Mutter. Obgleich die Wand hinter dem Sofa ein schönes Whistlergrau hat.

Das Ölgemälde hat vielleicht auch einen touch von ➱Hammershøi und ➱Hopper, hat aber nicht diese Tristesse der Einsamkeit. Und so viele Gelbtöne, wie sie der Bezug des Sofas hat, würde Vilhelm Hammershøi nicht auf seine Palette packen. Es ist nicht nur ein Sofa auf dem Bild, es gibt rechts auch noch einen weißen Tisch. Von dem man nur ein schön geformtes Bein und eine Tischkante sehen kann. Es gibt keine Tischdecke, nichts steht auf dem Tisch. Es hängen auch keine Bilder an der Wand.

Die elegante Dame auf dem Sofa, der eine Locke des roten Haars ins nicht ausgeführte Gesicht fällt, ruht in sich. Die Hände sind im Schoß gefaltet, die Füße mit den Schuhen zierlich nebeneinander gesetzt. Die Königin von England könnte nicht eleganter dasitzen. Die Pumps an ihren Füßen könnten von ➱Henri Hellstern sein. Die Dame wartet darauf, dass das Bild fertig wird. Es ist nicht fertig geworden, ich weiß nicht warum. Vielleicht war dies die Skizze zu einem größeren Bild, das irgendwo in Schweden hängt. Oder der Maler konnte keine Gesichter malen, weil er auf Pferde spezialisiert war. Dabei hatte die junge Dame (sie ist einunddreißig, als das Bild entsteht) ein schönes Gesicht, ich habe hier eine Photographie von ihr. Sie ist übrigens Russin, genau wie Iwan Kramskojs la belle inconnue.

Ich habe auch einen Namen zu der Frau, die auf dem Portrait kein Gesicht hat: sie heißt Nina Borovko-Langlet. Die russische Musikpädagogin war die Tochter von Nikolai Afrikanovich Borovko. Den kannte der schwedische Journalist und Schriftsteller Valdemar Langlet, weil sich Borovko wie er für die Universalsprache Esperanto einsetzte. Da liegt es nahe, dass er 1925 die Tochter von Borovko heiratet, die sein Bruder, der Maler Ivar Alexander (Alex) Langlet dann im Jahre 1927 gemalt hat.

Wahrscheinlich ist das Bild von seiner Schwägerin künstlerisch gesehen das beste Bild, das er gemalt hat (dies Bild von seiner Kollegin Anna Ödman zeigt Alexander Langlet in den zwanziger Jahren). Seine Pferde finde ich furchtbar, George Stubbs konnte das besser. Geben Sie einmal bei Google Bilder Alex oder Alexander Langlet ein und Sie wissen, was ich meine. Dann könnten Sie zum Vergleich einmal die Posts ➱George Stubbs oder ➱Franz Krüger anklicken, dann brauche ich zu dem Thema Alexander Langlet und Pferde nichts mehr zu sagen.

Nicht nur von Nina Langlet, auch von Valdemar Langlet habe ich hier ein Photo, er ist ein berühmter Mann gewesen. Nicht, weil er der Vorsitzende der Schwedischen Esperanto Gesellschaft war. Nicht, weil er wie sein Bruder (der Pferdemaler) ein großer Reiter war - er ist einmal mit dem Pferd durch Ungarn geritten (sein Buch On Horseback Through Hungary war ein großer Erfolg). Nein, Valdemar Langlet sollte mit seiner Frau Nina für etwas anders berühmt werden. Sein Name steht in Budapest auf einer Plakette, und er und seine Gattin finden sich in der Liste der Gerechten unter den Völkern. Uns allen fällt der Schwede Raoul Wallenberg ein, wenn es um die Rettung ungarischer Juden geht, aber niemand denkt an Valdemar Langlet.

Er und Nina Langlet sind heute leider so gut wie vergessen. Dabei haben die beiden das Prinzip erfunden, durch das Wallenberg berühmt wurde: schwedische Papiere für ungarische Juden. Langlet ist Dozent für Schwedisch an der Universität von Budapest, aber er arbeitet auch an der Schwedischen Botschaft. Er kann sehr gut Deutsch, er hat in Heidelberg studiert. Das hilft im Umgang mit den deutschen Machthabern.

Langlet arbeitet nicht nur für die Botschaft, er ist auch ein Funktionär des schwedischen Roten Kreuzes. Er mietet im Namen des Roten Kreuzes Gebäude an, die Namen bekommen wie Schwedische Bibliothek und Schwedisches Forschungsinstitut. Häuser, die Zufluchtsstätten für Juden wurden und wo Menschen lebensrettende Schutzbriefe des Roten Kreuzes bekamen. Ich habe einen davon im Internet gefunden, man kann die Unterschrift Valdemar Langlets unten rechts ganz klar lesen. Diese Unterschrift wird tausende von Juden retten. Valdemar Langlet ist nicht von der schwedischen Regierung autorisiert, diese ➱Schutzbriefe auszustellen. Er tut es trotzdem.

Das hier ist Spetebyhall in Schweden, gebaut von dem Architekten Emil Viktor Langlet im französischen Renaissancestil. Emil Viktor Langlet ist der Vater von Alexander und Valdemar Langlet, die Langlets sind im 17. Jahrhundert aus Frankreich nach Schweden gekommen. Der Architekt war mit der Schriftstellerin Mathilda Langlet verheiratet, die neben Kinderbüchern und Romanen auch Husmodern i staden och på landet schrieb, ein Buch für die schwedische Hausfrau.

In Spetebyhall wurde Valdemar Langlet geboren, hier ist er aufwachsen. Hier ist das Bild von Nina von seinem Bruder gemalt worden. Und hierher ist er 1945 schwerkrank zurückgekehrt. Die Arbeit in Budapest, über die er später das Buch Verk och dagar i Budapest schreiben wird, hat seine Gesundheit angefressen. Und das Vermögen aufgefressen. Diese Tafel am Sacré Coeur Kloster von Budapest erinnert an Langlet, in Ungarn scheint man ihn mehr zu lieben als in Schweden. Zwei Gedenktafeln, eine Straße und eine Schule erinnern hier an ihn (in Schweden immerhin in Uppsala ein kleiner Park). Das schwedische Parlament wird lange brauchen, bis man ihm eine Rente von tausend Kronen gewährt. Die nach seinem Tod aber sofort wegfällt, man stellt Nina Langlet aber eine Witwenrente in Aussicht.

Langlets Buch über die Tage in Budapest ist im letzten Jahr unter dem Titel Reign of Terror: The Budapest Memoirs of Valdemar Langlet 1944-1945 neu aufgelegt worden, das kleine Buch seiner Frau A svéd mentőakció aus dem Jahre 1944 leider nicht (1982 macht sie noch einmal mit dem Buch Kaos i Budapest auf sich aufmerksam). Valdemar Langlet hält sich nach 1945 mit journalistischen Arbeiten über Wasser, seine Frau Nina gibt Klavierstunden. Er übersetzt auch einiges (unter anderem Immanuel Kant), der Esperantist spricht viele Sprachen. Das Sprachtalent scheint in der Familie zu liegen, schon seine Mutter hatte viel übersetzt, Harriet Beecher Stowe und Louisa May Alcott unter anderem. Bis 1955 können die Langlets Spetebyhall halten, dann ziehen sie nach Stockholm.

Es hat Ehrungen gegeben, kurz nach dem Krieg: die Silbermedaille des Schwedischen Roten Kreuzes, den schwedischen Nordstjärneorden, einen Orden aus Finnland und den Verdienstorden der Republik Ungarn. Nina Langlet, die zweiundneunzig Jahre alt wird, wird es noch erleben, dass ihr Name in der Liste der Gerechten unter den Völkern steht. Aber mehr als die Orden und Auszeichnungen bedeuten die Briefe, die das Ehepaar erreichen: Blessed is the Swedish people to be rewarded with having persons like the Langlet family counted among its citizens, schreibt Francois Pollak 1946 und bedankt sich bei Langlet, weil der seine Schwester  Edita Loewensteioiva und ihre Kinder vor der Deportation geretttet hat.

Da sieht man in einem Laden, der Stöbern & Wohnen heißt, ein Bild, das man unbedingt haben muss. Man kauft es. Ohne zu zögern. Weil dieses Bild etwas an sich hat. Auch wenn die Frau auf dem Bild kein Gesicht hat. Wollen Sie es über Ihrem Bett aufhängen? fragte die Kunsthistorikerin. Ich hätte sagen sollen, dass da schon Brigitte Bardot hängt, aber so etwas fällt einem in dem Augenblick nicht ein. Das Bild hängt jetzt erst einmal im Wohnzimmer. Eine Woche lang. Und dann bringe ich es zu ➱Anja Petrich, die mir einen zierlichen weißen Rahmen um das Porträt machen wird. So zierlich, wie das gustavianische Sofa. Und dann bleibt sie hier im Wohnzimmer, die Frau ohne Gesicht, über die ich jetzt so viel weiß. Mit der jetzt ein wenig Weltgeschichte in mein Wohnzimmer gekommen ist.

Als ich meinem Händler Tage später von meinen Bemühungen berichtete, sagte er mir, dass er das Bild aus einer Haushaltsauflösung in Kiel hätte. Man hätte ihm gesagt, dass es aus dem Budapester Haushalt eines schwedischen Diplomaten komme, der viele Juden gerettet habe. Den Namen Valdemar Langlet hatte sich Herr von Massow auch notiert. Himmel, das hätte mir Arbeit erspart, wenn ich das schon vorher gewusst hätte.

Aber dann servierte er mir noch eine kleine Sensation. Ich habe da noch ein Bild von ihm, sagte er und wies auf die gegenüberliegende Wand. Und da hing tatsächlich ein Portrait von Valdemar Langlet. Das sehr gut gemalte Bild aus den dreißiger oder vierziger Jahren (da war er jünger als auf diesem Photo) ist bestimmt nicht von seinem Bruder, dem Pferdemaler. So etwas hätte der nicht gekonnt.


Die beste kurze Würdigung von Nina und Valdemar Langlet findet sich ➱hier. Diese ➱Wikiwand Seite ist auch sehr informativ. Langlets Buch On Horseback Through Hungary kann man ➱hier im Volltext lesen. Alles über Spetebyhall aus der Sicht der Konservatoren finden Sie auf dieser informativen ➱Seite.

Noch mehr jüdische Schicksale im Zweiten Weltkrieg finden sich in den Posts: Wilfrid Israel, Peter C.W. Gutkind, Arnold Duckwitz, 9. November

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