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Dienstag, 31. Mai 2016

Kunstgeschichte 1965


Das hier ist ein Selbstportrait des berühmten italienischen Malers Tintoretto. Na ja, nicht ganz. Um genau zu sein, sollten wir sagen, dass das Bild eine Kopie des Selbstportraits von dem französischen Maler Manet ist. Der Maler Jacopo Robusti, den man Jacopo Tintoretto nennt, ist nicht unbedingt mein Lieblingsmaler, Édouard Manet schon. Und da gerade Spargelzeit ist, möchte ich mal eben auf den Post Spargel hinweisen. Tintoretto ist natürlich ein großer und bedeutender Maler, egal, ob ich ihn mag oder nicht. Meine erste Assoziation, als ich las, dass er heute vor 598 Jahren starb, war Tintelnot. Diese Tintoretto-Tintelnot Verbindung ist bei mir eine Art Pawlowscher Reflex. Der ehemalige Kieler Ordinarius für Kunstgeschichte ist schon einige Male in diesem Blog erwähnt worden, er kommt schon in den Posts Christian Rohlfs, Friedrich von Noer, Eleonore von Aquitanien und Gräber vor.

Meistens war ich ja in diesen Posts nett zu ihm, in dem Post Eleonore von Aquitanien allerdings weniger, als ich schrieb: Als der Kunsthistoriker Wolfgang J. Müller den Hörern seiner Vorlesung empfahl, das gerade erschienene Buch des französischen Historikers Jacques Le Goff über das Hochmittelalter zu lesen, habe ich das getan. Die Literaturhinweise von Müller waren immer fruchtbringend, ebenso wie die Lesetips meines Freundes Peter, der mir für das Studium der Kunstgeschichte empfahl, dass ich mir ein Samtjackett kaufen sollte. In den Lehrveranstaltungen von Professor Tintelnot bekam man keine fruchtbringenden Leseempfehlungen. Tintelnot war der Ordinarius, Müller nur Wissenschaftlicher Rat und außerplanmäßiger Professor. Es war das erste, was ich an der Universität lernte: dass Titel und höhere Bezahlung keine Garantie für Qualität der Lehre waren.

Ich war, von der Uni Hamburg kommend, auf jedes exzentrische Benehmen von Ordinarien vorbereitet. Der Hamburger Ordinarius Wolfgang Schöne schlief häufig im Sommersemester im Kunsthistorischen Institut, da seine Eltern sein Zimmer in Timmendorfer Strand an Kurgäste vermieteten. Er war keine pädagogische Leuchte, konnte aber prima Studenten im Seminar ironisch fertigmachen. Das konnten in den sechziger Jahren viele Ordinarien, dass es die kleine Revolution von 1968 gab, hatte schon seine Gründe. Vielleicht sollte ich auch noch dazu sagen, dass Wolfgang Schöne schon 1933 Mitglied der SA war, solche Dinge haben auch zu der 68er Revolution beigetragen. Den einen steht er für die Tugenden der alten Universität, die er mit unablässigem Einsatz gegen alle Reformversuche kompromißlos zu retten versuchte; den anderen ist er der Inbegriff des omnipotenten Ordinarius, der seine tradierten Rechte oft auch rabiat verteidigt hat, schrieb Martin Warnke in seinem Nachruf 1989 in der Zeit. Es ist ein höflicher Nachruf, wenn man bedenkt, wie Schöne Martin Warnke angegangen ist.

Man sollte auch einen Augenblick daran denken, dass die Professur, die von dem SA Mann und NSDAP Parteimitglied (seit 1937) vertreten wird, einst die Professur von Erwin Panofsky gewesen ist. Das sind offensichtlich spezifisch Hamburger Konstellationen. Dass Curt Bondy als Verfolgter des Naziregimes einen Nazi wie Peter R. Hofstätter nach Hamburg geholt hat, habe ich auch nie verstanden. Wolfgang Schöne wird von einer feinen Hamburger Dame ganz anders gesehen. Sie heißt Ruth Pinnau, und sie hat dieses phänomenale Buch Der Sieg über die Schwere: Cäsar Pinnau in meinem Leben geschrieben. Cäsar Pinnau hat Hitlers Neue Reichskanzlei ausgestattet und Villen gebaut, bei denen er schamlos Palladio beklaute. Da ist es nur angebracht, dass seine Gattin bei Schöne promoviert. Wenn Hans Belting in Die Deutschen und ihre Kunst über den ersten Kunsthistorikertag nach dem Krieg schreibt: Die Referate der Tagung handeln von Erneuerung und Wiedergeburt in der Kunst des Mittelalters, aber zum Beispiel nicht davon, daß nach 1933 die Elite des Fachs Kunstgeschichte emigriert war, dann ist das noch zurückhaltend ausgedrückt.

Tintelnot war in Personalunion Direktor der Kunsthalle, dass die einmal einen eigenen Direktor wie Jens Christian Jensen haben würde, war noch Jahre entfernt. Tintelnot schien dem Barock, seinem Hauptforschungsgebiet, entsprungen zu sein. Obgleich er rot(wein)gesichtig jovial auftritt, lässt er keinen Zweifel daran, dass dies sein Institut ist, dass er der einzige Ordinarius ist.

Nur er allein liest im Kunsthistorischen Institut in der Dänischen Straße, Müller und Kamphausen lesen oben in den roten Blöcken, die die Uni von der Firma Elac bekommen hat. Trotz aller Bonhomie verbreitet Tintelnot (ähnlich wie Schöne in Hamburg) manchmal Angst und Schrecken. Eine heulende Blondine stürzt einmal aus seinem Zimmer, nachdem er sie wieder nicht zum Examen zugelassen hat und brüllt: Und jetzt lerne ich Kindlers Malerei Lexikon auswendig! Wäre eine Idee, allerdings ist Kindlers Malerei Lexikon lange nicht auf dem Niveau von Kindlers Literatur Lexikon. Man muss sich als Hörer seiner Vorlesung (die mich damals sechs Mark Studiengebühren kostet) persönlich bei ihm vorstellen, wird mir gesagt, das gibt es nirgendwo sonst in der Uni. Als ich Tintelnot erzähle, dass ich Anglist bin, schaut er mich lange an, wie ein seltsames Objekt. Es gibt hier in seinem Institut keine Anglisten. Es gibt offensichtlich akzeptable und nicht akzeptable Fächerkombinationen. Archäologie ist immer akzeptabel. Ich werde es auch vier Semester studieren, zwei Jahre rotfigurige (oder schwarzfigurige?) attische Tonvasen.

Der Ordinarius Wilhelm Kraiker steht kurz vor der Emeritierung, er benutzt diese Jahre, um seine akademischen Kollegen gnadenlos zu beschimpfen. Er trägt ein schwarzes Barett wie Richard Wagner. In der Straßenbahn liest er Edgar Wallace, die roten Goldmann Paperbacks. Ich erkenne, dass aus mir unter diesen Bedingungen kein zweiter Mortimer Wheeler wird und gebe das Studium der Archäologie auf. Wenn man mit fünfzehn das Löwentor im Pergamon Museum gesehen hat, auf den obersten Stufen des Pergamonaltars saß und den Parthenon Fries mit den Augen von Keats gesehen hat (die Elgin Marbles sind übrigens im gleichen Schiff nach London gekommen, mit dem Lord Byron reiste), dann ist das Ausbuddeln von Tonscherben im Regen in Stockelsdorf ein bisschen ernüchternd.

Tintelnot hat sich im Gespräch mit mir inzwischen darauf besonnen, dass er einmal einen Studienfreund gehabt hat, der auch Anglist war, dann muss das wohl in Ordnung sein. Er wird sich meinen Namen nie merken, für ihn bleibe ich ein Exot, der Anglist. Vorwurfsvoll wird er manchmal an seine Hauptfächler gerichtet sagen: der Anglist weiß das wieder und ihr nicht. Doerners Malmaterial und seine Verwendung im Bilde wird er als Pflichtlektüre verordnen, ich bin offensichtlich der einzige, der es liest. Nachdem er einen kleinen Tobsuchtsanfall hatte, weil einzelne Studenten nicht in der Lage waren, die Farben eines Bildes exakt zu beschreiben, wird er in der nächsten Woche sehen (er wandert gerne durch den Hörsaal), dass ich einen Prospekt von einem Kieler Farbengeschäft habe, in dem alle im Handel erhältlichen Farben abgebildet sind. Er wird den aufklappbaren Prospekt nehmen, ihn hochhalten und triumphierend sagen: Der Anglist hier, der ist viel patenter als ihr alle. In der nächsten Woche haben alle einen solchen Prospekt und bei der Firma Flügger wundert man sich, weshalb es für die Farbtafeln von Schmincke plötzlich solchen Bedarf gibt.

Als ich den kleinen Hörsaal im Institut in der Dänischen Straße zum ersten Mal betrat, zählte ich die Anwesenden. Im Hörsaal waren achtundzwanzig Studenten, mehr gab es damals nicht. Drei Professoren, ein habilitierter Oberassistent, eine Sekretärin und ein Photograph, das war das ganze Institut. Passte bei Exkursionen ohne Schwierigkeiten in den Unibus. Solch ideale Bedingungen wird es nie wieder geben. Kiel ist auf dem Gebiet der Kunstgeschichte erstklassig (und wird es später mit Larsson, Büttner und von Buttlar bleiben), das Seminar hat auch eine lange Tradition von bedeutenden Lehrstuhlinhabern: Graf Vitzthum von Eckstädt, Haseloff, Sedlmaier. Sie werden alle in dem kleinen Buch Kunstgeschichte in Kiel: 100 Jahre Kunsthistorisches Institut der Christian-Albrechts-Universität von Uwe Albrecht und Tanja Soroka gewürdigt. Ich habe das vor Jahren von der Sekretärin des Instituts, Frau Sabine Lemke, bekommen, ich wollte das ja bezahlen, aber sie wollte partout nichts davon wissen. Deshalb schreibe ich diesen kleinen Dank hier hinein.

Die meisten Studenten sind in den sechziger Jahren junge Frauen, die reiche Eltern haben und endlos lange studieren, bis sie geheiratet werden. Das ist damals ein Vorurteil über die Orchideenfächer, aber es ist schon so. Die Männer sehen so aus, als würden sie irgendwann in den Archiven und Magazinen von Kunsthallen und Museen verschwinden. Keiner trägt ein Samtjackett. Sie tragen graue Harris Tweed Jacketts, die sie während ihres Studiums nicht kaputtkriegen. Ihre Hemden kommen nicht aus der Jermyn Street oder der Carnaby Street, sondern eher von Seidensticker aus Bielefeld. Die englisch angehauchte Eleganz, die man in Hamburg spürte, fehlt hier völlig.

Lediglich der schnurrbärtige Oberassistent Johann Schlick, der danach Kustos an der Kunsthalle werden wird, gibt sich ein wenig exzentrisch. Erst recht, wenn er sich eines Tages einen riesigen Irish Wolfshound zulegen wird. Das Seminar ist in einem großen Bürgerhaus in der Dänischen Strasse, über Stockwerke verteilt. Unten fährt die Straßenbahn, gegenüber ist ein Marineausstatter. Überall, wo ich hinkomme, ist die Marine. Als der in den siebziger Jahren den Laden aufgibt, wird Hans Carl Capelle dort seinen Laden Kelly's aufmachen. Da sind die Kunsthistoriker aber schon in einen seelenlosen Neubau neben dem Hochhaus gezogen. Man darf in der Bibliothek (die in vielen Zimmern des riesigen Hauses untergebracht ist) Tee oder Kaffee trinken (in Hamburg undenkbar), man muss die Tassen nur weit genug von den kostbaren Büchern entfernt plazieren. Ich höre Tintelnots Vorlesungen in einer Phase, als er nur Maler behandelt, die wie er mit den Buchstaben T+I anfangen, Tizian, Tintoretto und Tiepolo, daher der oben genannte Pawlowsche Reflex. Die Vorlesungen sind, zugegeben, nicht schlecht, Tintelnot verblüfft erstaunlicherweise immer wieder mit Parallelen zur modernen Kunst. Aber wissenschaftlich ist alles, was er bringt, ein wenig zurück. Im Studienführer 300 Jahre Christian Albrechts Universität zu Kiel 1965 nennt der Ordinarius als neuere Gelehrte Wölfflin, Goldschmidt, Pinder und Frey.

Das ist so weit von der Gegenwart weg wie sein eigenes Hauptwerk Barocktheater und barocke Kunst von 1939. Bei Dagobert Frey hat Tintelnot promoviert, bei ihm war er 1937 Assistent. Und mit dem ist er beim Kunstschutz Krakau gewesen. Deshalb liest man im Bericht der Art Looting Intelligence UnitTintelnot. Reported assistant to Prof Dagobert Frey in Kunstschutz, Cracow. Wir wollen mal hoffen, dass seine Tätigkeit nicht so schlimm war wie die von Dagobert Frey, unrühmlich war es allemal. Das hier auf dem Photo ist nicht Hans Tintelnot, das ist ein Bild aus einer Ausstellung über Beutekunst, die hier auch durch Kieler Exponate angereichert war.

Eigentlich hätte mich im ersten Semester in Kiel Kamphausens Proseminar über die holländische Malerei interessiert, aber da ist leider gleichzeitig die Vorlesung von Tintelnot. Da muss man hin, vor allem wenn man hier neu ist. Semester später werde ich zum Ausgleich für das, was ich verpasst habe, Müllers exzellente Vorlesung über die holländische Malerei im 17. Jahrhundert hören.

Man muss bei Tintelnot auch jeden Montag im Colloquium sein, morgens um acht Uhr in der Kunsthalle. Da ist die Kunsthalle noch zu, der Hausmeister lässt einen durch den Nebeneingang herein. Das Colloquium (privatissime et gratis) widmet sich museumspraktischen Fragen und den Fragen der Neuankäufe. Alles was der Markt anbietet wird hereingetragen. Sollen wir diesen Schlemmer kaufen? Er wurde gekauft. Tintelnot ist im Colloquium freier als sonst, wenn er seinen Tintoretto, Tiepolo und Tizian abspult. Er ist in seinen Themen sprunghaft, erratisch, aber durchaus substantiell, vor allem erstaunlicherweise auf dem Gebiet der modernen Kunst. Es wird gemunkelt, dass er selbst malt. Ich gebe gerne zu, dass ich bei ihm etwas lerne (und wenn es nur das ist, dass ich Doerners Malmaterial und seine Verwendung im Bilde gelesen habe), wenn er mir auch nicht so liegt wie Wolfgang J. Müller oder so volkstümlich ist wie Alfred Kamphausen.

Der erste Professor, den ich mit einem Samtjackett (dunkelgrün, und dazu eine rote Schleife) sehe, ist Wolfgang J. Müller. Sie haben alle meine Vorlesungen gehört, wird er sagen, wenn ich ihn eines Tages in seiner Sprechstunde frage, ob er mich in der mündlichen Doktorprüfung prüfen würde. Es gibt, heute unvorstellbar, keine Studienordnung in diesem elitären Fach. Der Professor entscheidet, ob man reif für die Prüfung ist. Zwar habe ich auch Tintelnot, Kamphausen und den dänischen Gastprofessor Norn gehört, aber Müller hat Recht. Ich habe alle seine Vorlesungen gehört. Und ich verdanke ihm viel. Er bittet mich zum Tee in seine Wohnung, damit wir den Umfang der Prüfung besprechen können. In Wirklichkeit ist dieses Gespräch beim Tee eine verkappte Prüfung, Müller will mich testen.

Meine Prüfungsgebiete sind der ganze Albrecht Dürer, die niederländische und flämische Malerei des 14. und 15. Jahrhunderts und, ein Zugeständnis an den Anglisten, die englischen Präraffaeliten. Eigentlich wollte ich lieber Panofkys Beitrag für die Methodik der Kunstgeschichte als Thema nehmen (heute ein Standardthema im Grundstudium). Müller rät mir von Panofsky ab. Das sei etwas problematisch, sagt er. Ich schaue ihn etwas fragend an, und er sagt mir, dass ihn mit Panofsky eine jahrelange Brieffreundschaft verbunden hätte, dass ihn aber diese Tatsache in seiner wissenschaftlichen Karriere behindert hätte. Es ist kaum zu glauben, aber es stimmt. Es ist keine Eigenheit der Universität Kiel, die in den sechziger Jahren immer noch von ehemaligen Nazis durchsetzt ist. Man hat im Nachkriegsdeutschland in der Kunstgeschichte immer noch Ressentiments gegen die jüdischen Gelehrten, die man vertrieben hat.

In der mündlichen Prüfung, in der der neue Ordinarius Hubala beisitzt, bei dem ich auch noch eine Vorlesung über Palladio belegt hatte, wird Müller keine einzige der Fragen stellen, mit denen er mich vor Monaten bei Tee und Cookies getestet hat. Er ist sich sicher, dass er mich fragen kann, was er will. Ich enttäusche ihn nicht. Als ich nach der Prüfung merke, dass die Tür zum Prüfungszimmer nicht richtig zu ist (man ist gerade in einen Neubau umgezogen, die Türen klemmen noch etwas) und ich zurückgehe, um sie zu schließen, höre ich Hubala sagen: Wo haben Sie denn den her, Herr Kollege? Der weiß ja im Nebenfach mehr als meine Hauptfächler. Ich schließe die Tür ganz leise. Ich weiß, mir kann in dieser Prüfung nix mehr passieren. Wolfgang Jott, wie ihn die Studenten nennen (niemand weiß, dass er John heißt), ist niemals Ordinarius geworden, immer nur außerplanmäßiger Professor. Dafür hat sein Intimfeind Tintelnot gesorgt. Die Universität hat diesem verdienstvollen Gelehrten, der beinahe ein halbes Jahrhundert das Kunsthistorische Seminar geprägt hat, übel mitgespielt. Aber im Internet findet sich ein liebevolles Portrait von Frank Büttner (der gerade viel zu früh gestorben ist), das diesem außergewöhnlichen Mann gerecht wird.

Alfred Kamphausen ist wie Müller außerplanmäßiger Professor, eigentlich ist er Direktor des Schleswig-Holsteinischen Freilichtmuseums in Molfsee, das er mit erstaunlichem Erfindungsreichtum aufbaut. Er könnte alles andere sein als ein Professor: Kapitän, Landwirt, Kneipenwirt, er hat Bodenhaftung. Das ist für die Universität der frühen sechziger Jahre völlig untypisch, denn das hervorstechende Merkmal der Professoren damals ist ihre Weltfremdheit. Man sieht Kamphausen den Kunsthistoriker nicht an. Aber er ist ein seriöser Wissenschaftler mit einer erstaunlichen Breite der Themen. Wenn ich mir nach fünf Jahrzehnten meine Mitschrift von seiner Vorlesung über die Kunst des 18. Jahrhunderts anschaue, dann kann ich nur, mit all dem, was ich jetzt über das Jahrhundert weiß, sagen: Respekt. Vor allem, weil er auch das Gothic Revival behandelt.

Exkursionen mit Kamphausen sind wunderbar. In Angeln wird es einen Halt des Universitätsbusses geben, wir besichtigen eine Kneipe, nur um eine kleine sowjetische Flagge auf dem Stammtisch anzugucken. Die Angeler Bauern verkaufen nämlich direkt Angeler Kühe an die Sowjets. Das hat zwar mit dem Thema Angeler Feldsteinkirchen nichts zu tun, aber Kamphausen lässt diese netten kleinen Dinge am Rande nie aus. Auf der Rückfahrt von einer Exkursion nach Lögumkloster schiebt Kamphausen noch eine Besichtigung von Schloss Glückburg außerhalb der Öffnungszeiten ein. Die Museumsleitung besteht allerdings darauf, dass ihr eigener Führer die Führung macht, nicht der Professor aus Kiel. Das wird in den folgenden Stunden zu hochkomischen Situationen führen, da Kamphausen die kunsthistorischen Ausführungen seines uniformierten Kollegen immer wieder korrigiert. Der Museumswärter tut dann so, als würde er das nicht hören, er zieht die Führung bis zum Ende stur durch. Schreiend komisch.

Kamphausen soll sich angeblich in den dreißiger Jahren dem Gedankengut der Nazis verschrieben haben, wovon ich nichts gemerkt habe. Von 1931 bis 1961 war er Direktor des Dithmarscher Landesmuseums. Dass er deutsch und national ist, kann man sicher in den Schriften des Mannes finden, den eine tiefe Liebe zur norddeutschen Heimat und ihrer Kunst kennzeichnet. Aber immerhin hat er als einer der wenigen Kunsthistoriker die Schleswiger Truthähne schon 1941 als Fälschung bezeichnet (Treppenwitz der Forschungsgeschichte). In Schleswig hatte nämlich ein junger Maler namens Lothar Malskat, dessen Karriere als Fälscher in den fünfziger Jahren in Lübeck aufflog, bei Restaurierungsarbeiten gotische Truthähne unter dem Putz gefunden.

Kann natürlich nicht sein, vor Kolumbus kann es keine Truthähne in Europa geben. Aber die nationalsozialistische Ideologie wird daraus die These konstruieren, dass die Wikinger, echte Germanen, die Truthähne aus Amerika nach Schleswig gebracht haben. Lothar Malskat wird in den frühen fünfziger Jahren beinahe die gleiche Nummer noch einmal im Lübecker Dom durchziehen, bei der Aufdeckung dieses Skandals macht der Kieler Ordinarius Richard Sedlmaier keine ganz glückliche Figur. Es ist der größte Kunstskandal der jungen Republik, Günter Grass wird Malskat in seinen Roman Die Rättin hineinschreiben. Malskat geht ins Gefängnis, wird sich ewig für ein verkanntes Genie halten. Und er malt im Alter noch Helmut Schmidt.

Mit den Nazis hat Wolfgang J. Müller nichts am Hut, kaum hat er seine Doktorarbeit fertig, ist er auch schon im Krieg. Müller ist im gleichen Jahr geboren wie mein Vater, es ist eine betrogene Generation. Kaum ist mein Vater mit seinem Studium fertig, ist er auch schon im Krieg. Aber nicht als Zahnarzt, sondern bei der Artillerie. Zwar hat Müller einmal bei Wilhelm Pinder in München studiert, der für Wikipedia der Vorzeigenazi der deutschen Kunstwissenschaft ist (Hans Belting ist da in Die Deutschen und ihre Kunst etwas konzilianter), aber er ist dann zu Richard Sedlmaier gewechselt und hat bei ihm promoviert. Der holt ihn 1946, als Müller aus der Kriegsgefangenschaft heimkehrt, als Assistenten nach Kiel.

Zusammen mit Lilli Martius (die hier einen langen Post hat) wird Müller Kunsthalle und Kunsthistorisches Institut wieder aufbauen, und das durchaus im wörtlichen Sinne, man kann sich das heute gar nicht mehr vorstellen, mit welchen alltäglichen Schwierigkeiten diese Generation zu kämpfen hat. Er wird auch die Bibliothek aufbauen und über Jahrzehnte pflegen. Ich werde ihm darin folgen und eines Tages im Englischen Seminar eine Abteilung für englische und amerikanische Kunst aufbauen (allerdings unter günstigeren Bedingungen als in der Nachkriegszeit), auf die die Kunsthistoriker manchmal neidisch sind. Und Müller ist bei all diesen Arbeiten der ersten Stunde, bei denen eine 40 Stunden Woche eine illusionäre Vorstellung ist, auch noch ein guter Mensch, wie folgendes Zeitzeugnis belegen mag:

Als ich im März 1948 von der Universität Rostock nach Kiel wechselte und mit halbvollem Rucksack und nach einem 50km-Marsch längs der damals schon ziemlich bewachten Zonengrenze glücklich in Kiel gelandet war, wandte ich mich zuallererst in der trostlos zerstörten Stadt an das Kunsthistorische Institut. Dort traf ich Dr. Wolfgang J. Müller und der machte zweierlei: Er drückte mir einige seiner Lebensmittelmarken in die Hand, Grundlage aller menschlichen Existenz damals. Außerdem besorgte er mir für die nächsten Tage eine Zelle im ehemaligen Marinegefängnis in der Wik, in deren Tür ich das Guckloch sofort mit einer Briefmarke zuklebte. Damit hatte ich in Kiel Fuß gefasst – Wolfgang J. Müller sei dies unvergessen!

Über dreißig Jahre ist Wolfgang J. Müller Vertrauensdozent der Studienstiftung, er leitet ein Studentenheim und kümmert sich um Studenten, gibt ihnen sogar kleinere Darlehen. Als der Germanist Erich Trunz 1967 für ein halbes Jahr kommissarisch das Institut leitet, wird er feststellen, dass die einzige wissenschaftliche Hilfskraft am Institut von Müller aus der eigenen Tasche bezahlt wird. Tintelnot hatte die Stelle nicht im Kultusministerium beantragt. Es wird in der Nachkriegszeit an der Universität Kiel eine Vielzahl von Persönlichkeiten geben, von deren menschlicher Wärme und fachlichem Können ehemalige Studenten heute noch berichten können (der Typ Spagatprofessor, der in Würzburg wohnt und für zwei Tage in der Woche anreist, ist noch nicht erfunden), aber Wolfgang Jott ist doch eine Ausnahmeerscheinung.

Seine Vorlesungen sind erstklassig, er ist rhetorisch brillant und auf dem neuesten Stand der Forschung. Bei Tintelnot hat man, wie bei vielen Ordinarien in dieser Zeit, das Gefühl, dass das Wort des großen Meisters vorne am Pult das letzte Wort ist, dass es keine relevante Forschungsliteratur gibt. Müller wird immer deutlich machen, dass überall auf der Welt noch zu diesem Thema geforscht wird, wird die Tür aufstoßen zu einer anderen Welt, einer weltweiten scientific community. Er wird die Nachfolger von Lucien Febvre wie Georges Duby und Jacques Le Goff wie selbstverständlich zitieren, zu einer Zeit, als die in Deutschland noch beinahe unbekannt sind. Er wird auch englische Kunsthistoriker empfehlen, das tut außer ihm niemand. Es käme Tintelnot kaum in den Sinn, das Burlington Magazine zu zitieren, das ich abonniert habe. Die deutsche Kunstgeschichte möchte in den sechziger Jahren immer noch nicht wahrhaben, dass es das Warburg & Courtauld Institute gibt. Müller wird die Leistungen von Aby Warburg und Erwin Panofsky herausstellen. Ich werde alles lesen, was er empfiehlt, was mir eine sehr seriöse Bildung geben wird. 

Als ich ihm eines Tages einen Sonderdruck meines Aufsatzes über William Cullen Bryants Zusammenarbeit mit dem amerikanischen Maler Thomas Cole sende, bekomme ich von ihm einen langen Brief. Darin beschreibt er, wie er bei einem Amerikaaufenthalt eben diesen Wasserfall von Thomas Cole in den Catskills gesucht hat. Und er legt noch einen witzigen Artikel aus dem New Yorker bei (Searching for Kaaterskill Falls), wo ein Reporter ähnliche Erfahrungen wie er gemacht hat, die romantische amerikanische Natur ist inzwischen zugebaut. Das Naturerlebnis, dass Bryant noch predigte, ist nicht mehr so leicht zu erreichen. Bei jemandem, der beinahe alle Emblembücher aus dem 17. Jahrhundert besitzt, hätte ich solche Interessen nicht vermutet. 

Ich will die Qualitäten der Vorlesungen von Tintelnot über Tiepolo und seine Zeitgenossen keineswegs kleinreden, und auch Kamphausens Vorlesungen und der Vorlesung des dänischen Gastprofessors Otto Norn (der sehr englische Anzüge und eine elegante Halbbrille aus gelbem Horn trägt) über dänische Kirchen (lesen Sie hier viel mehr) verdanke ich viel, aber die Vorlesungen von Müller sind etwas Besonderes. Niemand außer ihm wird sich an ein so schwieriges Thema wie das der Architektur der Nationalsozialisten heranwagen, auf jeden Fall nicht in den sechziger Jahren. Etwas kann er bei seinem Engagement in Vorlesungen nicht leiden, störende Geräusche von Studenten und falsch eingelegte Dias von Frau Doose, das kann ihn aus der Fassung bringen. Blonde Sportstudentinnen, die sich in seine Vorlesungen verirren, sind für ihn ein Tiefpunkt der Universität. Denkt jeder, sagt aber nur er. Und setzt dann ein etwas schiefes Lächeln auf. Man konnte ihm in diesem Augenblick nicht böse sein.

Ich werde bis zu seinem Tode ein hervorragendes Verhältnis zu ihm haben, werde ihm alle meine Publikationen zukommen lassen, von ihm reizende Briefe erhalten und ihn bei Ausstellungseröffnungen in der Kunsthalle wiedertreffen. Wenn er mit Charme und Esprit die kleine Ausstellung der Skagener Maler eröffnet und dabei die ganze Zeit ein Tuborg Bier im originalen Tuborg Glas balanciert, das die dänische Brauerei für diesen Anlass spendiert hat. Vor der Eröffnung der Ausstellung englischer Karikaturen des 18. Und 19. Jahrhunderts flüstert er mir zu, ich möchte doch weghören, ich wüsste das sicher alles besser als er. Ist gelogen, aber charmant. Wenn jemand Fachmann für europäische Druckgraphik ist, dann ist das Wolfgang J. Müller. Ich hoffe, er kann das oben im Himmel, der die Farben von Peder Severin Krøyers heure bleue hat, also da, wo die guten Kunsthistoriker sind, jetzt lesen.

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