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Sonntag, 16. Oktober 2016

holzgenagelt


Die Royal Navy bezog die Stiefel für ihre Matrosen aus Northampton. Holzgenagelt, um das Deck zu schonen. Die Army bekam sie stahlgenagelt. Alle Landarbeiter trugen genagelte Stiefel, der ziemlich steife Schuhboden ist bei Arbeitsschuhen ein großer Vorteil. Das ist jetzt hundert Jahre her, aber wir müssen noch ein wenig weiter zurückgehen in der Geschichte des genagelten Schuhs. Im Jahre 1790 hatte der englische Tischler Thomas Saint eine Nähmaschine für das Nähen von Leder erfunden (British Patent No. 1764), das wusste man lange nicht. Man hatte die Urkunde im Patentamt falsch abgelegt. Sie wurde erst 1873 von Newton Wilson, einem Pionier der englischen Nähmaschinenindustrie gefunden, der dann ein Replikat von Saints Maschine gebaut hat. Ob Thomas Saint jemals eine seiner Maschinen gebaut hat, weiß man leider nicht.

Dieser Herr hat den ersten Tunnel unter der Themse gebaut, es ist Sir Marc Isambard Brunel. Der Vater des berühmten Isambard Kingdom Brunel (der ➱hier einen Post hat) hatte als königstreuer Franzose sein Heimatland in der Revolution verlassen müssen. Jetzt verhalf er - neben tausend anderen Erfindungen - der englischen Armee zu besseren Stiefeln im Kampf gegen Napoleon. Seine Maschinen konnten Schuhe mit Stahlnägeln nageln, fünfhundert am Tag. Doch es ist ein Amerikaner namens ➱Nathaniel Leonard aus Merrimac (Massachusetts), der 1829 eine Holzpflock- und Holznagelmaschine erfand. Die machte es möglich, die Holznägel automatisch durch die Sohle zu stechen. So konnten die Holznägel gleichmäßig eingeschlagen werden, das löste viele Probleme bei holzgenagelten Schuhen. Und die holzgenagelten Schuhe zieht das Bürgertum vor, man möchte auf dem Parkett keine Kratzer machen.

Die genagelten Schuhe bleiben durch das Jahrhundert für Landbevölkerung, Arbeiter und Armee die Standardschuhe (für Armee und Feuerwehrleute noch länger). Es wird noch einige Jahrzehnte dauern, bis die genähten Schuhe en masse produziert werden. Es sind im 19. Jahrhundert immer wieder die Amerikaner, die die Erfindungen machen. Da ist zum Beispiel Gordon McKay, der sein Patent für eine angenähte Sohle an Lyman Reed Blake verkauft (hier kann man das Blake Verfahren sehen).

Und da ist natürlich Charles Goodyear Jr, der eine Maschine baut, mit der man rahmengenähte Schuhe herstellen kann (Jan Ernst Matzeliger sollten wir auch nicht vergessen). Die Geschichte der Erfindungen im Bereich der Schuhherstellung und die damit einhergehende Veränderung der Arbeitswelt scheint erstaunlicherweise niemanden wirklich zu interessieren. Symbolisch dafür ist Sigfried Giedion, der in seinem Standardwerk Die Herrschaft der Mechanisierung die Maschinen zur Schuhherstellung mit keiner Zeile erwähnt. Den sogenannten Rahmen eines rahmengenähten Schuhs können Sie hier sehen, es ist ein Lederband, das um den Schuh herumläuft. Das allerdings heute bei beinahe allen Schuhen, die als rahmengnäht bezeichnet werden, durch ein geklebtes Gemband ersetzt ist.

Als ich vor Jahren für die Firma IWC in Schaffhausen einen Artikel über ihren Firmengründer im Bürgerkrieg schrieb (Sie können den Artikel ➱hier lesen), stellte ich fest, dass Florentine Ariosto Jones nicht der einzige Uhrmacher im Regiment war. Das hätte ich mir denken können, Boston war die Metropole der amerikanischen ➱Uhrenindustrie. Ich konnte der Regimentsliste, die ich aufgetrieben hatte, auch entnehmen, dass das Regiment ungeheuer viel Schuhmacher in seinen Reihen hatte. Boston war auch das Zentrum der amerikanischen Schuhindustrie. Wenige Jahre vor dem Beginn des Bürgerkriegs hatte es einen Aufstand der Schuhmacher in Lynn gegeben, wobei die Arbeiter zur Melodie des Yankee Doodle sangen:

Starvation looks us in the face.
We cannot work so low.
Such prices are a sore disgrace.
Our children ragged go.


Abraham Lincoln, der sich bekanntlich seine ➱Schuhe selbst putzte, war auf der Seite der Streikenden: I am glad to see that a system of labor prevails in New England Under which laborers can strike when they want to, where they are not obliged to labor whether you pay them or not. I like a system which lets a man quit when he wants to, and wish it might prevail everywhere. Und so sangen die Schuhmacher nach dem Streik:

We strikers once for higher pay
With crowded ranks did cram Lynn;
We come with fuller ranks to-day
For Lincoln and for Hamlin.

The Southerners at us did sneer
And fiercely curse and ban Lynn,
But wilder yet will be their fear
Of Lincoln and of Hamlin.

Bold Robin Hood won Lincoln green,
And his sweet minstrel Gamelyn,
Were they alive they’d go, I ween,
For Lincoln and for Hamlin.

Like Sherwood’s king, we strike down wrong,
And while our town’s no sham Lynn,
We’ll wave our flag and go in strong
For Lincoln and Hamlin.


Der Streik von Lynn im Jahre 1860 - übrigens der größte ➱Streik der damaligen amerikanischen Geschichte - lehrt uns auch, dass die Schuhmacherei im 19. Jahrhundert ein System der Ausbeutung ist. Unter den tausenden von Schuhmachern, die im Schnee marschieren, sind auch viele Frauen. Die man ja besser ausbeuten kann als Männer, sie tragen Transparente mit der Aufschrift: American ladies will not be slaves. Give us fair compensation and we will labour cheerfully. Das Jahrhundert der Schuhmacherinnen hat begonnen, aber niemandem scheint das aufgefallen zu sein. Am Anfang des 19. Jahrhunderts hatte das paternalistische Lowell System für die Textilproduktion in Massachusetts Aufsehen erregt, die jungen Arbeiterinnen sollten in reinlichen Neubauten wohnen, beaufsichtigt von moralischen Gouvernanten. Sie sollten nur einige Jahre in der Fabrik bleiben, bis sie genügend Geld für die Heirat gespart haben. Das waren schöne Gedanken, aber das System sah wenige Jahre schon ➱ganz anders aus. Auf dem Bild von ➱Winslow Homer ist die Arbeitswelt noch in Ordnung, das ist sie auf Bildern immer.

Im amerikanischen Bürgerkrieg sind die meisten Stiefel genagelt, es kommen aber auch schon die ersten genähten Schuhe zum Einsatz. Gordon McKay hatte einen Auftrag für 25.000 Stiefel erhalten. Die werden von den Soldaten zuerst spöttisch als fadeaways bezeichnet, weil sie nicht genagelt sind, halten sich aber erstaunlich gut. Der Süden verfügt nicht über die Schuhindustrie, die der Norden besitzt. Und so ist es kein Wunder, dass das Gerücht, dass es in Gettysburg eine ganze Zugladung Schuhe geben soll, die Truppen des Südens nach Gettysburg zieht. Das Ergebnis kennen wir.

Man beobachtet damals in Europa den Bürgerkrieg genau. Man beobachtet aber auch genau, was sich in der amerikanischen ➱Schuhindustrie tut. Der Sohn des Firmengründers der französischen Firma ➱J.M. Weston wird sich in Boston umschauen und in Amerika die ersten Maschinen kaufen. Und nicht nur das, auch der Firmenname kommt aus Boston, denn in Weston (Massachussetts) hatte Blanchard Jr in einer der zahlreichen Schuhfabriken gelernt. Die ersten großen europäischen Fabriken wie ➱Bally oder Bata (wo der Vater von ➱Tom Stoppard eines Tages Werksarzt sein wird) werden ihre Produktion auf Goodyear Maschinen umstellen. Und die beiden Macharten, Goodyear oder Blake (das die Italiener bevorzugen) beherrschen noch heute die Herstellung von Qualitätsschuhen. Von holzgenagelten Schuhen ist wenig zu hören.

Aber es gibt sie noch. Da wären zum Beispiel Firmen wie Fischer oder Handmacher, beide in Österreich zu Hause. Und generell kann man sagen, dass es das ehemalige KuK Österreich (oder wie es auf einer Internet Seite heißt: ➱The Savile Row of the East) ist, in dem der holzgenagelte Schuh überlebt hat. Noch heute bieten die feinen Wiener Schuhmacher wie zum Beispiel Balint, Materna und Maftei ganz selbstverständlich holzgenagelte Schuhe an. Über das Thema könnte ich jetzt noch länger schreiben, das lasse ich aber. Weil Sie jetzt den Post ➱Wiener Leisten anklicken, dann wissen Sie mehr.

Erstaunlicherweise findet sich in dem Prospekt der Firma Handmacher, den mir Michael Rieckhof mitgab, überhaupt nichts über die Technik des Nagelns, lediglich eine Überschrift wie In über 250 Arbeitsschritten zum fertigen holzgenagelten Lederschuh weist auf die Technik hin. Es gibt Informationen über die Rendenbach Sohlen (die man 6 oder 8 Millimeter dick bekommen kann), aber nichts über Vor- und Nachteile des holzgenagelten Schuhs. Und in dem eigenlich charmanten Buch von Laszlo Vass, Herrenschuhe handgearbeitet, kommen holzgenagelte Schuhe nicht vor.

Man scheint Vorbehalte und Ressentiments gegen diese alte Handwerkstradition zu haben. In den Internetforen, wo diese Fachleute sitzen, die die Flöhe husten hören, kommt der holzgenagelte Schuh schlecht weg. Als mir Michael Rieckhof die Teilnahme an einem ➱Seminar des Schuhpapstes Helge Sternke geschenkt hatte, zog der auch gegen holzgenagelte Schuhe her. Wofür er sofort von Frau Schade und Frau Ratzburg attackiert wurde, denn bei Kelly's gibt es (genau wie bei Höfer in der Holtenauer Straße) Handmacher Schuhe. Es war ziemlich undiplomatisch (um nicht zu sagen schlicht doof) von Sternke. Und ich sollte vielleicht auch noch anfügen, dass ihn viele echte Kenner der Welt des Schuhs nicht für den echten Schuhpapst halten.

Holzgenagelte Schuhe sind in der Herstellung preiswerter als rahmengenähte. Auch bei Balint, Materna und Maftei (Bild), nicht nur bei Handmacher. Aber schlechter? Ich zitiere einmal das österreichische Wirtschaftsblatt aus dem Jahre 2010: Holzgenagelt oder genäht, das ist die eine Frage, die die Konkurrenten Handmacher und Ludwig Reiter tief entzweit, der Endverbraucherpreis für ein Paar Ledermaßschuhe die andere. Handmacher-Chef Bernhard Kovar meint, Reiter-Schuhe seien zu teuer.

„Ich sage Ihnen, die sind ihr Geld nicht wert", meint der 63-jährige Welser. Er stellt im tschechischen Znaim holzgenagelte Herrenschuhe her, die auf 230 bis 360 € kommen. Der teuerste Reiter-Halbschuh kostet 500 €. „Wir produzieren ausschliesslich in Wiener Neudorf. Das kostet halt ein bissl mehr als in Niedriglohnländern", kontert Reiter-Sprecherin Teresa Wlk. Marktführer Reiter verkauft 20.000 Paar Herrenschuhe pro Jahr, der vor 14 Jahren angetretene Herausforderer Handmacher mittlerweile 12.000.

Unser Sommer war im September, jetzt ist Herbst. Jetzt trage ich nicht mehr elegante Schuhe von Aubercy oder scharfe Schuhe von Stefano Branchini, jetzt kommen die soliden Schuhe aus Wien oder Budapest dran. Dieser schöne Schuh (für 35 Euro bei ebay gekauft) ist übrigens ein Crockett & Jones. Könnte genau so gut von Ludwig Reiter, Alt Wien oder Laszlo Vass sein. Ist aber nicht holzgenagelt, in ➱Northampton macht man das nicht mehr. Sind rahmengenähte Schuhe besser als holzgenagelte?

Ich weiß es nicht, ich selbst merke keinen Unterschied. Ich habe vor vielen Jahren einmal ein Interview mit einem Engländer gelesen, der einmal rund um England gewandert war. Er trug dabei stahlgenagelte Shepherd's Boots. Mit normalen Schuhen hätte er das Ganze nicht geschafft, sagte er. Mir sagte einmal ein Schuhmacher: Wenn Sie mal 25 oder 30 Kilometer laufen müssen, dann werden Sie froh sein, wenn Sie genagelte Schuhe an den Füssen haben. Ich habe ihm gesagt, dass ich bei der Infantrie gewesen sei und freiwillig keinen überflüssigen Schritt mehr zu Fuss machen würde. 25 Kilometer schon gar nicht. Mein Rekord stand auf 73 Kilometer an einem Tag, und da hatte ich keine genagelten Stiefel an den Füßen.


1 Kommentar:

  1. Spannend, ich habe vom Nageln auch bisher nur aus Österreich gehört, und glaube sofort, dass das Sinn macht, da es eine alte Technik ist. Dass ich es mir nicht vorstellen kann, spielt dabei keine Rolle, irgendwann werde ich das ja mal sehen und dann auch verstehen. Ich habe natürlich gleich bei "Meinem" Schuh-Papst geschaut, Justin FitzPatrick vom Shoe-Snob. Und, siehe da, kein genagelter Schuh kommt bei ihm in Jahren vor. Enttäuschend. Danke für diesen Artikel.
    Herzlich Giorgione.

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