Seiten

Mittwoch, 7. Juni 2017

Studienberatung


Ich fragte, ob der Platz am Tisch noch frei wäre. Die Mensa war voll, weil hier gerade die Tagung der Deutschen Gesellschaft für Amerikastudien stattfand. Der Platz war noch frei, ich bedankte mich und stellte mein Tablett auf den Tisch. Lächelte mein Gegenüber an und las dabei so ganz nebenbei den Namen auf seinem kleinen Namensschild. Fragte ihn dann, ob er derjenige gewesen sei, der 1965 in Hamburg die Einführungsvorlesung in die Anglistik gehalten hätte. Er hatte. Ich sagte ihm, dass das eine der besten Vorlesungen in meinem Studium gewesen sei, und dass ich ihm viel verdanke. Sehr viel. Das hat ihn sehr gerührt. Er hatte sich damals gerade in Hamburg habilitiert, und in diese Vorlesung hatte er alles hineingepackt, was er wusste. Das war wirklich brillant. Er hieß ➱Peter Funke, und wenn er noch lebt, dann wird er in diesem Jahr neunzig. Ich hoffe, dass er noch lebt und dass es ihm gut geht.

Die Vorlesung im Hörsaal D (der mit den Bildern von ➱Kokoschka) war Teil eines Pakets für Erstsemester, es gab dazu noch ein Tutorial, das von einer Examenskandidatin abgehalten wurde, wo alle Fragen des Studiums besprochen wurden. Und dann musste man noch unter der Aufsicht eines Assistenten oder einer Bibliothekarin zehn Stunden Bibliotheksdienst ableisten, da lernte man die Bibliothek kennen. Es war eigentlich die perfekte Sache für den Studienanfang. Ich bin auf das Thema gekommen, weil sich gerade die Schlagzeilen häufen, dass ein Drittel der deutschen Studienanfänger sein Studium aufgibt. Das ist eine traurige Entwicklung. Ist aber bei diesem bescheuerten BA-MA Studium nicht anders zu erwarten. Ich ärgere mich noch immer, dass ich mal bei einem Empfang Frau Erdsiek-Rave, die für Deutschland die Bologna Erklärung unterschrieben hat, aus dem Mantel geholfen habe.

Die Engländer setzen auf das Tutorial, es ist ja auch eine gute Sache. Wenn Sie die Krimis aus der Serie ➱Lewis verfolgen, dann wissen Sie, dass da immer Studenten oder Professoren zum Tutorial müssen. Vielleicht haben Sie auch den wunderbaren Film ➱Educating Rita gesehen, wo der akademische Unterricht ein wenig umgedreht wird und die Studentin (Julie Walters) ihren ständig besoffenen Dozenten (➱Michael Caine) erzieht. Und ihm die Haare schneidet.

Das System der Tutorials beginnt in Oxford schon im 11. Jahrhundert, in Cambridge, wo die Tutorials supervisions heißen, etwas später. Es hat seinen Höhepunkt im 19. Jahrhundert, ist aber auch heute aus Oxbridge nicht wegzudenken. Unterricht in Kleingruppen, ein Tutor, der immer für seine Studenten da ist. Nicht überall. Weil manche Professoren immer auf Vortragsreise sind. Wie zum Beispiel ➱Malcolm Bradbury. An seiner Uni gab es mal einen Graffiti auf einer Klotür, der lautete: What is the difference between God and Professor Bradbury? Und die Antwort stand natürlich dabei: God is here but everywhere. Professor Bradbury is everywhere but here. 

Die ständige Anwesenheit widerspricht natürlich meinem Liebling, dem ➱Spagatprofessor, der seine Studenten per E-Mail betreut. Der darf weiterhin in Bayern wohnen und für anderthalb Tage nach Kiel kommen. Andersherum hätte er es schwer, also, wenn er in Bayern Professor wäre und in Kiel wohnte. Da achtet das bayrische Kultusministerium schon darauf, dass seine Beamten ihren Wohnsitz so nehmen, dass ihnen eine ordnungsgemäße Erledigung ihrer Aufgaben möglich ist. Aber auch im Hochschulgesetz des Landes, das ihm sein Gehalt bezahlt, finden sich die Sätze: Die Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer nehmen die ihrer Hochschule jeweils obliegenden Aufgaben in Wissenschaft und Kunst, Forschung, Lehre, Weiterbildung sowie Wissens- und Technologietransfer in ihren Fächern nach näherer Ausgestaltung ihres Dienstverhältnisses selbständig war; in der Vorlesungszeit ist die persönliche Anwesenheit am Dienstort in der Regel an mindestens drei vollen Tagen pro Woche in der Zeit von Montag bis Freitag erforderlich.

Der erwähnte Professor ist einmal eine Woche lang im Seminar gewesen. Da stand für den Montagmorgen eine Besprechung mit Vertretern des Kultusministeriums über die Staatsexamensordnung an. Er eröffnete die Sitzung mit der Erklärung, dass er das ganze Wochenende gearbeitet hätte. Was zuerst ungläubiges Staunen und dann ein gehässiges Gelächter hervorrief. Mein Spagatprofessor referierte dann die Neuerungen der neuen Ordnung, musste sich dann aber in den nächsten halben Stunde sagen lassen, dass er nichts, aber auch gar nichts, verstanden hätte. Dann griffen die beiden Vertreter des Kultusministeriums in die Diskussion ein - und nun geschah etwas ganz Peinliches: sie hatten die Examensordnung, die sie selbst gemacht hatten, auch nicht verstanden. Dieser Montagmorgen erschien mir mit seiner Realsatire als der Höhepunkt universitären Unsinns. Ich habe einmal mit vier Kollegen in einer Studienreformkommission in einem Vierteljahr eine Studienordnung erarbeitet, die zwanzig Jahre gehalten hat. Und sie passte auf eine Seite DIN A4. So etwas darf heute nicht mehr sein.

Der Begriff des Spagatprofessors fiel öffentlich wohl zuerst 1982 in einer Rede von Hans Wallow (SPD) im Bundestag, wo er auch noch sagte: Aber trotzdem bin ich der Meinung, daß wir gesetzliche Regelungen über die Nebentätigkeit von Professoren brauchen und daß die Residenzpflicht von Professoren vorgesehen werden sollte. Das schafft nämlich auch mehr Studienplätze und Zeit für die Lehre. Der Begriff Spagatprofessor hat sich damals aber nicht so durchgesetzt, als Hugo Egon Balder vor Jahren in einer Rateshow nach dem Spagatprofessor fragte, wusste niemand, was das war. Viele amerikanische Universitäten verlangen übrigens von ihren Professoren, dass sie auf dem Campus wohnen.

Natürlich gibt es auch Spagatprofessoren, die in ihrer Universität die ganze Woche erreichbar sind, und die ihren Beruf ernst nehmen. Aber von denen soll hier nicht die Rede sein, sondern von diesen Typen, die ihre Studenten per E-Mail betreuen. Und die die Frankfurter Rundschau vor vielen Jahren einmal als den Tod der Universität bezeichnete. Unsere Spagatprofessoren haben pro forma eine Adresse am Universitätsort, irgendein billiges Zimmer in einer schlimmen Gegend. Ein Taxifahrer hat mich mal gefragt, ob die Spagatprofessorin Frau X wirklich bei uns Professorin sei. Die wohnte am Südfriedhof in einem heruntergekommenen Haus, in dem nur Rauschgiftsüchtige und Kleinkriminelle wohnten. Er hätte sich geweigert, sie dahin zu fahren und hätte sie hundert Meter davor abgesetzt. Ja, sie wohnte da wirklich in dem versifften Haus. War aber ganz selten bei den Ratten, Flöhen und Fixern, weil sie ja Spagatprofessorin war.

Dass solche Leute, die den Begriff der Freiheit von Forschung und Lehre dahin umdeuten, dass sie von Forschung und Lehre befreit sind, ihre Studenten nicht richtig betreuen können, liegt auf der Hand. In der Anlehung an die DDR Terminologie sind sie die neuen Reisekader. Das war früher anders, da gab es seriöse Leute wie Peter Funke. Der gleich nach der hervorragenden Vorlesung einen Ruf nach Bielefeld bekam (und auch dieses Buch geschrieben hat). Er war 33 Jahre lang der Vorsitzende der Deutsch Britischen Gesellschaft in Bielefeld, und er engagierte sich nach dem Zusammenbruch der DDR in seiner Geburtsstadt Dresden für den Aufbau des Instituts für Anglistik und Amerikanistik und für die Ausbildung von Englischlehrern an sächsischen Schulen.

Dafür hat er das Bundesverdienstkreuz bekommen, das mein vielzitierter Spagatprofessor natürlich nie bekommt.
Als Peter Funke pensioniert wurde, widmete er sich der Erforschung des Werkes seiner Tante, der Malerin Helene Funke. Was vor zehn Jahren zu einer großen ➱Retrospektive einer beinahe vergessenen Malerin führte.

Die Uni Hamburg hatte vor einem halben Jahrhundert eine Dame für die Studienberatung. Sie hatte einen Doktortitel und war sehr damenhaft. Sie machte die Studienberatung für alle Fächer. Man sagte ihr, welche Fächer man studieren wollte, sie legte dann mehre Folien übereinander und diktierte mir meinen Stundenplan. Das dauerte keine zwei Minuten, und es endete mit dem Satz: Wenn Sie sich ein wenig beeilen, schaffen Sie es noch zum Audimax, um die Vorlesung von Walter H. Sokel zu hören. Habe ich geschafft. An meinem Seminar hatten wir Jahrzehnte später eine etwas ausführlichere Beratung: in der Woche vor dem Semesteranfang gab es jeden Vormittag einstündige Studienberatungen. Mal kamen drei, mal kamen dreißig, und nach einer Stunde wurde man von einem Kollegen abgelöst. So hat der ➱Dr Hilarius mich damals gefunden. Die Studenten bekamen Studienordnungen und ein Kommentiertes Vorlesungsverzeichnis, es ist immer gut, wenn man etwas Gedrucktes mit nach Hause nehmen kann. Was auch schon ein Studiosus in einem Theaterstück erkennt:

Das sollt Ihr mir nicht zweimal sagen!
Ich denke mir, wie viel es nützt
Denn, was man schwarz auf weiß besitzt,
Kann man getrost nach Hause tragen.

Auf das Theaterstück komme ich gleich noch zu sprechen. An meinem Institut gab es nicht nur Studienberatungen, es gab auch Tutorials, das hatte ➱Peter Nicolaisen, als er aus Amerika zurückkam, angeregt. Sie waren eine Pflichtveranstaltung für Erstsemester. Die Kurse wurden nicht wie in Hamburg 1965 von älteren Studenten abgehalten, sondern von promovierten Mitgliedern des Lehrkörpers. Dr Hilmar Schlieter von der Universitätsbibliothek übernahm freundlicherweise für jeden Kurs die Einführung in die UB. Im Tutorial wurde alles besprochen, was der Student am Anfang des Studiums wissen musste: Wie schreibe ich eine wissenschaftliche Hausarbeit? Wie findet ich die wichtigste Literatur für mein Thema? Wie ist die Bibliothek aufgebaut? Welche Möglichkeiten gibt es für das Auslandsstudium? Welche Bücher soll und muss man lesen? Und, und, und. Das ganze Semester lang, und für die nächsten Semester bis zur Zwischenprüfung war der Tutor die erste Anlaufstation für alle Studienfragen.

Es war ein schönes System. Wir hatten damals auch beinahe alle offene Türen, die signalisierten, dass Studenten auch außerhalb der Sprechstunden jederzeit hereinkommen konnten. Also nicht dieses Es klopft? Herein! Wer will mich wieder plagen? wie in dem oben zitierten Theaterstück. Aber sie ahnen schon, was kommt. Das alles können sich Studenten in kleinen Gruppen zu Hause auch aneignen, verkündete eine frischgebackene Professorin, die das Rad wieder einmal neu erfinden wollte. Können sie nicht, sagte ich. Aber das war das Ende der Tutorials. Und offene Türen gibt es da heute auch nicht mehr.

Im Paragraphen 48 des Schleswig-Holsteinischen Hochschulgesetzes steht: Die Hochschule unterrichtet Studieninteressierte und Studierende über Studienmöglichkeiten sowie über Inhalte, Aufbau und Anforderungen eines Studiums. Dies geschieht durch eine zentrale Studienberatung. Bin ich vor Jahrzehnten mal gewesen, als Studi getarnt. Mit Jeans und versifften Klamotten, Bart hatte ich sowieso. Weil mir Studenten erzählt hatten, dass die zentrale Studienberatung den größten Unsinn erzählt. Tat sie. Manche Unis haben ein Beratungsportal im Internet. Aber Computer helfen nicht viel bei all diesen Dingen von Beratung und Einführung, die werden überschätzt. Jeden Morgen, wenn ich früher in die Uni kam, stieß ich auf eine Horde Japaner, die vor dem Sprachlabor darauf warteten, dass das um acht geöffnet wurde. Als ich dem stellvertrenden Leiter des Sprachlabors mal sagte, dass die Japaner doch fleißige Studenten seien, sagt er mir: Ih, bewahre, die kommen nur zum Pornogucken hierher. Offensichtlich gehören Pornos zur japanischen Kultur. Wenn etwas zur ➱Kultur gehört, dann darf man dagegen nichts sagen.

Für Studienberatungen, Tutorials und Einführungsvorlesungen braucht man Wissenschaftler, die etwas davon verstehen. Und die auch immer für eine face to face communication erreichbar sind. Eine Beratung per Telephon ist vollständiger Tinnef. Das mag die Telephonfürsorge tun, aber nicht eine Universität. Das sokratische Prinzip des Geschrächs ist niemals ein Auslaufmodell gewesen. Der Professor, bei dem ich als Assistent anfing, war vielleicht wissenschaftlich keine so große Leuchte. Aber er war immer für seine Studenten da, die konnten ihn bei Problemen noch nachts um elf anrufen. Und er war ein guter Prüfer. Bei dem selbst der Klaus von der DKP seine Eins im Staatesexamen kriegte. Und ➱Dodo, die Schwester von ➱Heide Simonis, die ihn mehrfach vor das Oberlandesgericht Schleswig gezerrt hatte, kriegte auch ihre verdiente Eins. Der Klaus ist nicht in den Schuldienst gekommen, weil er in der DKP war. Er wäre bestimmt ein guter Lehrer geworden. Bestimmt besser als ➱Björn Höcke.

Wenn heute jemand zur Uni kommt, voller Idealismus, und sagt: Ich bin dabei mit Seel und Leib; Doch freilich würde mir behagen Ein wenig Freiheit und Zeitvertreib An schönen Sommerfeiertagen, dann bekommt er keine Studienberatung, dann bekommt er eine Checkliste. Und gegen Freiheit und Zeitvertreib an schönen Sommerfeiertagen ist nichts einzuwenden. Dafür hat Herr ➱Albig ja die Anwesenheitspflicht in den Lehrveranstaltungen abgeschafft (hier eine Graphik des Asta der Uni Kiel). Der Student heute ist ein virtuelles Wesen, das credit points sammelt.

Unser Studiosus wendet sich zwecks Studienberatung an einen berühmten Gelehrten: Ich bitt Euch, nehmt Euch meiner an! Ich komme mit allem guten Mut, Leidlichem Geld und frischem Blut; Meine Mutter wollte mich kaum entfernen; Möchte gern was Rechts hieraußen lernen. Aber er hat schon gewisse Zweifel, ob er an der Uni richtig ist: Aufrichtig, möchte schon wieder fort: In diesen Mauern, diesen Hallen Will es mir keineswegs gefallen. Es ist ein gar beschränkter Raum, Man sieht nichts Grünes, keinen Baum, Und in den Sälen, auf den Bänken, Vergeht mir Hören, Sehn und Denken. Das hat er schon begriffen, dass die Uni aus nichts anderem besteht als aus Mensa, Fahrradständern, Photokopierern und dem Sekretariat. Die Fahrradständer und den Photokopierer kennt unser Studiosus noch nicht, denn er ist direkt aus Goethes ➱Faust in unseren Text gewandert. Was er nicht weiß ist, dass sein Gegenüber garnicht der Dr Faust ist, sondern ein gewisser Mephistopheles. Und dann folgt die berühmteste Studienberatung der deutschen Literatur. Die den Studiosus seufzen lässt: Mir wird von alledem so dumm, als ging, mir ein Mühlrad im Kopf herum.

Im Jahre 2007 haben Wilma Pradetto und Thomas Schadt den Grimme Preis für ihren Dokumentarfilm Beruf Lehrer bekommen, und das völlig zu Recht. Sie haben ein halbes Dutzend Lehrer aller Altersgruppen monatelang bei ihren Unterrichtserfahrungen gefilmt. Die ARD schob den Film auf eine Sendezeit kurz vor Mitternacht. Es gab ihn mal im Internet, aber da ist er inzwischen verschwunden. Das Gute verschwindet immer aus dem Internet, der Müll bleibt. In dem Film sagt ein Lehrer (ich zitiere das sinngemäß): Die Kultusminister, das sind doch alle schlaue Leute. Ich wünschte mir, dass jeder Kultusminister einmal eine Woche lang an einer Schule unterrichtet. Ja, warum nicht. Das möchte ich sehen. Ich könnte wetten, dass die Kultusminister und ihre Staatssekretäre und ihre Referenten und Referentinnen damals nie den 90-minütigen Film Beruf Lehrer gesehen haben. Ich möchte wirklich mal sehen, dass sich der neue Amtsinhaber (nein, nicht mehr Frau ➱Wende und nicht die Gattin von Olaf Scholz) mal Jeans und ein Kapuzenshirt anzieht und sich als weiblicher Harun al Raschid in die Uni traut. Einen Monat lang. Und zur Studienberatung geht.

Aber nicht bei jemandem klopft, bei dem Dr Heinrich Faust oder Dr Mephisto an der Tür steht.

1 Kommentar:

  1. Ein Post, geschrieben für meine Seele. Man glaubt kaum, wie was man alles auf z.B. Polizeischulen herunter brechen kann.
    Viele Grüße
    Uwe Rennicke

    AntwortenLöschen