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Samstag, 4. November 2017

Gänsemarkt


Der Gänsemarkt Hamburg ist ein charmanter Platz im Herzen der Innenstadt, um den herum sich Geschäfte mit junger Trendmode, eine Einkaufpassage sowie hanseatische Traditionsgeschäfte angesiedelt haben. Architektonisch wechseln sich Backsteinbauten mit Stuck verzierten Gründerzeit-Bauten ab. Cafés und Restaurants am Platz laden zum Verweilen ein, kann man heute im Internet lesen. Nichts als Kommerz. Wenn ich schon junge Trendmode lese, furchtbar. Wenn Sie Mode suchen, dann gehen Sie ein paar hundert Meter weiter zu ➱Rudolf Beaufays. Da gibt es zwar keine junge Trendmode, aber dafür englische Klassik. Das, was die anglophilen Engländer lieben. Und garantiert echter als das, was ➱Kledasche & Oelke den anglophilen Hamburgern verkauft. Deren Jacketts kommen nicht aus England, die kommen von Eduard Dressler.

Wir müssen mal eben ein wenig zurückspringen in der Zeit. Nicht ins Jahr 1881, als hier am hundertsten Todestag von ➱Lesssing das Lessingdenkmal zum Mittelpunkt des Gänsemarkts wurde. Und auch nicht ins Jahr 1788, als der Engländer William Kemnant in seiner English Library, Gaense Markt, Hamburgh jeden Monat einen Katalog aller englischen Bücher offerierte. Nein, wir müssen an den Anfang des 18. Jahrhunderts, als die Oper am Gänsemarkt die bedeutendste Oper der Welt war. Das Opernhaus sah nicht großartig aus, war keine architektonische Mißgeburt wie die Elbphilharmonie, über die heute jedermann redet. Als Stefan Gwildis da letztens aus Storms Schimmelreiter gelesen hat, hat er gesagt: Die Elphi ist doch ein Mistding. Wo er recht hat, hat er recht.

Als ich las, dass am 4. November des Jahres 1717 im Theater am Gänsemarkt in Hamburg die Uraufführung der Oper Trajanus von Reinhard Keiser aufgeführt worden war, dachte ich mir: darüber schreibe ich. Mit Reinhard Keiser kenne ich mich aus, weil ich im ersten Semester das Proseminar Das europäische Drama und Theater des Barock bei dem Hamburger Theaterwissenschaftler Dr Diedrich Diederichsen besucht hatte. Dieser Diederichsen war nicht der bekannte Popliterat, es ist sein Vater gewesen. Schrieb in der renommierten Zeitschrift Maske und Kothurn, schrieb über Goethe und das komödiantische Theater in Deutschland und hielt auf einem Händel Kongress einen Vortrag (Zwischen Kunst und Kommerz: Organisationsformen der Barock-Oper). Schrieb definitiv nicht über Popkultur. Er war auch der Leiter der 1940 gegründeten Theatersammlung, die zu dem Lehrstuhl für Germanistik gehörte. Die Rolle des Hamburger Theaters im 18. Jahrhundert lag ihm am Herzen, und so gab es eine Menge über die Oper am Gänsemarkt zu hören.

Bevor ich jetzt zu schreiben begann, gab ich mal eben Gänsemarkt in dem kleinen Suchfeld ein, und zu meiner Überraschung stellte ich fest, dass es schon einen Post mit dem Titel Hamburger Oper gab. 2015 geschrieben, 2017 schon vergessen. Ist mir ein büschen peinlich. Es gibt für Gänsemarkt noch einen weiteren Post in diesem Blog, da geht es um den Tod eines dänischen Königs in einem Hamburger Puff. Denn ehe sich die Hamburger Zeitungen um den Gänsemarkt herum ansiedeln, ist hier erst einmal ein Edelpuff. Und die Oper. Die zur Zeit von Reinhard Keiser eine bürgerliche Einrichtung ist, die anderen Opernbühnen sind im Deutschland der damaligen Zeit an Fürstenhöfen angesiedelt. Auch wenn die Finanzierung nicht immer solide ist (1717 ist man einmal pleite, und das Jahr 1738 markiert das Ende der Hamburger Oper), ist die Hamburger Oper einzigartig in Europa. Keine andere Oper in Europa hat so viele Stücke auf ihrem Spielplan, Händel (der vier Opern für Hamburg schrieb) und Hasse haben hier angefangen, Telemann wird der letzte Direktor sein.

1697 übernahm Reinhard Keiser die Stelle als Kapellmeister, von 1703 bis 1707 ist er Operndirektor. Er wird zwanzig Jahre in Hamburg bleiben. Es ist seine große Zeit, und es ist die große Zeit der Hamburger Oper. Kaiser schreibt bis zu vier Opern pro Jahr, die auf große Publikumsresonanz stoßen. Er ist berühmt, vielleicht sogar exzentrisch. Händel auch, der hat sich auf dem Gänsemarkt mit Johann Mattheson duelliert. Und Mattheson, der ansonsten mit Keiser gut zusammenarbeitet, schreibt, dass sich Keiser in der Öffentlichkeit mehr als ein Cavallier, denn als Musicus betragen habe. Es ist viel Schmäh unter Künstlern. Von Zeit zu Zeit machte sich Kaiser bei der Obrigkeit unliebsam. Seine Oper Hamburger Schlachtzeit oder Der mißlungene Betrug fiel gleich nach der Premiere der Zensur zum Opfer. Weil darin einige Zeilen gegen den Reichtum der Pfeffersäcke standen:

Kein besser Mittel ist auf Erden
Geschwinde grosz und reich zu werden
Als kuppeln by dem Freyn
Die Müh ist leicht und klein
Ein Biszchen ungewissenhaft
Und ausverschämt zu seyn
Und trägt uns doch ein grosses ein.

Zum Weihnachtsfest 1728 wurde Keiser, der vorher vergeblich in Stuttgart und Kopenhagen versucht hatte, eine Anstellung zu bekommen, als Nachfolger von Mattheson zum Canonicus minor und Cantor cathedralis am Hamburger Dom ernannt. Dann schreibt er beinahe nur noch Kirchenmusik. Er bleibt bis zu seinem Tode in Hamburg. Nach seinem Tod wird Mattheson in seiner Grundlage einer Ehren-Pforte sagen, dass Keiser der größeste Opern-Componist von der Welt gewesen sei. So berühmt Keiser zu seinen Lebzeiten war, so schnell hat man ihn nach seinem Tod vergessen. Die Gerüchte um seinen ausschweifenden Lebenswandel taten wohl das ihre dazu. Aber sein Kollege Telemann schrieb ihm einen Nachruf mit dem Titel Sonett auf das Absterben des berühmten Capellmeisters Keiser:

Ihr, die in Deutschlands Raum die Tonkunst Kinder nennet,
lasst Keisers Untergang nicht fühllos aus der Acht!
Er hat um euren Ruhm sich sehr verdient gemacht,
und manchen Ehrenkranz den Welschen abgerennet.

Da seine Jugend noch in erster Glut gebrennet,
wie reich, wie neu, wie schön, wie ganz hat er gedacht!
Wie hat er den Gesang zum vollen Schmuck gebracht,
den dazumal die Welt noch ungestalt gekennet!

Zu diesem zog ihn bloß ein angeborner Trieb,
durch den er, ohne Zwang der Schulgesetze, schrieb;
durch den wir mehr von ihm, als hundert Werke, lesen.

Wir ehren dein Verdienst, du Züchtling der Natur,
der, suchtest du gleich nicht der Kunst verdeckte Spur,
dennoch der größte Geist zu seiner Zeit gewesen.

Reinhard Keiser blieb nicht vergessen. Die Musikwissenschaftler haben alle Verdächtigungen bezüglich des liederlichen Lebens ausgeräumt, und ein wenig Cavallier wird man ja noch sein dürfen. Ulrich Schreiber hat in seiner hervorragenden Geschichte der Oper im ersten Band beinahe zwanzig Seiten für die die Hamburger Oper und den größeste Opern-Componist von der Welt, und bei Amazon gibt es CDs noch und noch. Und bei mir gibt es heute Lasciami piangere, gesungen von Joyce DiDonato aus aus der Oper ➱Fredegunda (Naxos hat die Oper im Programm). Man sollte das ➱Lasciami piangere nicht verwechseln mit dem ➱Lascia ch'io pianga aus Händels Rinaldo, das Joyce DiDonato auch sehr schön singt. Händel, der in seiner Hamburger Zeit in gewisser Weise der Assistent von Keiser war, hatte nur Nettes über den größesten Opern-Componist von der Welt zu sagen.

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