Seiten

Samstag, 10. Februar 2018

Fenstersturz


Am 10. Februar des Jahres 1798 hat die Armée de Rome unter General Louis-Alexandre Berthier Rom eingenommen, sechs Jahre später macht Napoleon den Mann, der im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg unter Lafayette diente, zum Marschall. Und überhäuft ihn mit Titeln und Geschenken. Wenn man dieser veralteten Seite glauben will, ist Berthier ein hervorragender General gewesen. Andere sehen das ganz anders. Im spanischen Feldzug glänzte er durch neue Uniformen, die er selbst entworfen hatte. Durch nichts anderes. Er ist Napoleons Stabschef für beinahe zwei Jahrzehnte. Mit Landkarten und Organisation ist er gut, eine Armee im Felde darf man ihm nicht anvertrauen. Als Napoleons Stern am Sinken ist, ist Berthier der erste, der sich Ludwig XVIII andient. Von dem bekommt er wieder neue Geschenke, wird Hauptmann der Leibwache des Königs, Pair von Frankreich und Kommandeur des Ordens de Saint-Louis.

Sein Fürstentum Neuchâtel verkauft er dem König von Preußen gegen eine Pension von 34.000 Talern. Deshalb kann Wilhelm II eines Tages auch die Uniform der ➱Neuenburger Garde Schützen tragen. Wenn der französische König flieht, weil Napoleon wieder vor Paris steht, begleitet Berthier ihn auf seiner Flucht in die Niederlande. Nimmt dann Urlaub, um seine Frau (eine Nichte des Königs Maximilian I. Joseph von Bayern) und seine Kinder zu besuchen, die sich in der Bamberger Residenz aufhalten. Das ist die offizielle Version. In Wirklichkeit ist er längst beim König in Ungnade gefallen, weil der entdeckt hatte, dass Berthier insgeheim mit Napoleon korrespondiert. Napoleon hätte Berthier gerne wieder als Stabschef an seiner Seite. Nach der Schlacht von Waterloo hat er gesgt: Si j’avais eu Berthier, je n’aurais pas eu ce malheur. Ausreden findet Napoleon immer.

Ich habe Ihnen bisher diese Dame verschwiegen, die größte Eroberung, die Berthier in Italien macht. Sie heißt ➱Giuseppa Carcano, heiratet einen Grafen Sopransi und nach dessen Tod einen Marquis Francesco Visconti di Borgorato. Berthier nimmt sie mit nach Paris. Den Marquis auch. Zum Missfallen Napoleons: Votre passion a duré trop longtemps, elle est devenue ridicule, et j’ai le droit d’espérer que celui que j’ai nommé mon compagnon d’armes ne restera pas plus longtemps abandonné à une faiblesse sans exemple. Je veux donc que vous vous mariez, sans cela je ne vous verrai plus. Vous avez cinquante ans, mais vous êtes d’une race où l’on vit quatre vingt, et ces trente années sont celles où les douceurs du ménage vous seront le plus nécessaires… vous savez que personne ne vous aime plus que moi et vous savez aussi que la première condition de mon amitié est qu’elle soit subordonnée à mon estime. Vous l’avez méritée jusqu’ici, continuez à vous en rendre digne en concourant à mes projets et en devenant la souche d’une bonne et grand famille.

Berthier missachtet Napoleons Anweisungen, er bleibt seiner Geliebten treu. Und als Napoleon ihn in eine Zwangsheirat mit der bayrischen Prinzessin treibt, wohnt die Visconti weiterhin bei ihm, eine ménage à trois, die immer wieder für Spott sorgt. Die Damen sind beinahe Freundinnen geworden, sie spielen abends Karten zusammen. Aber jetzt ist der Marschall in Bamberg, die geliebte Visconti ist in Paris. Die bayrische Geheimpolizei bespitzelt Berthier Tag und Nacht. Er möchte gerne nach Frankreich zurück. Zum Beispiel hierhin. Das ist das Schloss Chambord. Napoleon hat ihm das geschenkt, ganze zwei Tage ist Berthier bisher dort gewesen.

Er beantragt für sich und seine Familie Pässe für Frankreich. Er bekommt sie nicht. Metternich will ihn nicht in Frankreich haben, zu groß ist die Gefahr, dass er sich wieder Napoleon anschliesst. Doch dann kommt der erste Juni des Jahres 1815 - bis zur Schlacht von Waterloo sind es noch zwei Wochen hin, aber die Russen marschieren schon durch Bamberg. Berthier beobachtet den Aufmarsch, ruft: Ce défilé n’aura donc pas de fin ! Pauvre France, que vas-tu devenir? Et moi, je suis ici! Und fällt aus dem Fenster der Residenz, er ist sofort tot. Als Napoleon die Todesnachricht überbracht wird, soll er ohnmächtig geworden sein.

Wir haben jetzt drei Möglichkeiten. Nummer Eins: Es war ein Unfall. Er ist auf dem Sessel ausgerutscht, den er sich ans Fenster gestellt hat, um die Russen zu beobachten: Er beobachtete vom Fenster aus die herannahenden russischen Truppen, während er das Zeichen gab, die Wagen für die Flucht einzuspannen. Um besonders gut sehen zu können, ist er nach Zeugenaussagen auf einen Fauteuil am "Fenstertritt" gestiegen und habe wiederholt ausgerufen: "Ma pauvre patrie!" Dann habe man den Sessel fallen hören, und Madame Gallien, Bonne der fürstlichen Kinder, habe sich von dem unglücklichen Sturze überzeugen müssen. Aber warum soll er die russischen Truppen beobachten? Er weiß, dass sie da sind. Er hat den Abend zuvor mit ihren Generälen gespeist. Sein Schwiegervater Herzog Wilhelm in Bayern hatte ein Diner zu Ehren der Russen gegeben. Der russische General ➱Fabian von der Osten-Sacken macht Berthier das zweischneidige Kompliment, dass er einer der wenigen französischen Marschälle sei, die ihrem König die Treue hielten.

Wir schließen den Unfall einmal aus. Wir haben dann noch Sätze wie: Aber in seinem Gemüthe von tiefer Schwermuth, endete er, des Daseyns müde, sein Leben, indem er sich am 1. Jun. Nachmittags um 1 Uhr, aus einem Fenster der dritten Etage der herzoglichen Residenz stürzte. Schwere Depressionen soll er plötzlich gehabt haben, sein behandelnder Arzt weiß nur etwas von Gastritis und Gicht, nichts von ➱Depressionen. Aber wir haben noch eine dritte Möglichkeit. Es hält sich das Gerücht, dass da mittags sechs Herren mit schwarzen Masken gekommen sein, den Fürsten von Wagram ergriffen und ihn aus dem Fenster geworfen haben.

Mir gefällt diese Theorie, auch wenn sie ein klein wenig etwas von einer Verschwörungstheorie hat. Doch wir müssen bedenken, dass es jetzt den terreur blanche gibt. Napoleons Generäle und Marschälle leben in diesen Tagen gefährlich. Bevor man ➱Michel Ney erschiesst, sind in dem terreur blanche schon andere Marschälle und Generäle umgekommen. Marschall Brune wurde in Avignon von einem royalistischen Mob aus der Kutsche gezerrt, zu Tode getrampelt und in die Rhône geworfen. Jean-Piere Ramel wurde in Toulouse ermordet. ➱Joachim Murat, der König von Neapel, wurde in Kalabrien standrechtlich erschossen. Ebenso wird der General Charles Angélique François Huchet de La Bédoyère im August in Paris erschossen. Marschall Soult kann nach einer Warnung durch den englischen General Robert Wilson in das Herzogtum Berg entkommen. Obgleich Wilson in Spanien gegen Soult gekämpft hat, fände er es jetzt nicht gentlemanlike, seinen einstigen Gegner der Rachsucht der Bourbonen ausgeliefert sein zu lassen. Napoleons Freund Comte Lavalette gelingt eine Nacht vor seiner Hinrichtung die Flucht in den Kleidern seiner Frau. Über England gelangt er zu seinem Schwiegervater Maximilian Joseph von Bayern. Seine Frau, die mit ihm die Kleider getauscht hat, behält man aber noch ein Jahr im Gefängnis. Als Lavalette 1820 nach Frankreich zurückkehren darf, ist seine Emilie wahnsinnig geworden und erkennt ihn nicht mehr.

Maria Elisabeth in Bayern darf ihren Titel einer Fürstin Wagram behalten, das Schloss Chambord auch. Das wird sie 1819 verkaufen. Die Visconti ist über die Jahre fett geworden, halb gelähmt, kann ihre Wohnung nicht mehr verlassen. Sie wird nach dem Tod von Berthier noch ein Vierteljahrhundert leben. Das hier ist kein Photo aus dem 19. Jahrhundert, hier haben sich die ➱Nachkommen von Berthier im Jahre 1913 in historische Kostüme geworfen, um die gute alte Zeit nachzuspielen. War die gute alte Zeit jemals gut?

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen