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Mittwoch, 13. Juni 2018

Regiolekt


Der Bremer redet ein herrliches Plattdeutsch und, wenn man ihn reizt, ein vorbildliches Hochdeutsch. Aber er hat noch eine dritte Sprache, die zwischen diesen beiden ein gesundes Eigenleben führt: das Bremische, das gemütliche und mundgerechte Idiom der »Tågenbåren«. In ihm sind, zum Nutzen allgemeiner Verständlichkeit und mit dem Bemühen um lauttreue Wiedergabe, die Anekdoten dieses Buches erzählt. Das bremische Wesen offenbart sich in diesen Geschichten – diese Begrenzung sei ausdrücklich betont – nur in seiner heiteren Hälfte: in seinem wortkargen, deftigen, vernünftigen, helläugigen Humor. Mag er freiwillig oder unfreiwillig, bedachtsam oder derb, naiv oder bewußt, herausfordernd oder voll behaglicher Selbstironie sein: immer ist er zu unverkennbarer und aufschlußreicher Eigenart geprägt.

Schreibt Karl Lerbs in der Vorrede zu Der lachende Roland. Und er liefert auch gleich eine Dialektprobe, sozusagen ausser lamäng»'chott nee, was 'n auch ümmer alles so belebt!« sagte Minna Knake. »Sitz ich gestern abend in mein Zimmer un lutsch saure Bontschen, die hol ich dschetz dscha ümmer bei Crüsemeyer, früher ging ich dscha zu Meyerdierks, aber da kann ich dscha nich ümmer um zu laufen, das is mich zu um. No, mit einmal, da pingelt das. Ich verdschag mich dscha eers, denn das konnte dscha 'n Telegramm sein, un da hab ich nix mit in 'n Sinn, da steht dscha meist was Übles in. No, ich geh bei un mach auf – was meinen Se? Steht da so 'n lüttschen Bötel. So 'n richtigen kleinen Schietbüdel. Un wissen Se, was er sagt? ›'tschuldigen Se‹, sagt er, ›ob Sie woll so freundlich wären un meinen kleinen Hund nich gesehen hätten?‹«

Obgleich alle Bremer etwas sprechen können, was bestenfalls die regionale Variante des hamburgischen Missingsch ist, sind Bremer überzeugt, dass, wenn sie Hochdeutsch sprächen (mit dem betonten sp), es das beste Hochdeutsch in ganz Deutschland sei. Es gibt da auch andere Meinungen. Im 17. Jahrhundert glaubte der Engländer Sir Philip Sidney, dass das beste Deutsch am sächsischen Hof gesprochen würde. Linguisten versichern uns, dass in Hannover das beste Hochdeutsch zu Hause ist. Der berühmte Satz In’ner Löwestross ham se’n Mann mitten Bönönenwögen öbern Mögen gefahr’n wird an dieser Stelle immer dagegengehalten. Soll heißen: In der Lavesstrasse haben Sie einem Mann mit einem Bananenwagen über den Magen gefahren.

Wahrscheinlich gibt es ein reines Hochdeutsch nicht, die regionalen Einsprengsel verhindern das. Glücklicherweise. Auch fremde Einflüsse, wie die französische Besatzung, hinterlassen ihre Spuren. Viele dieser Wörter, wie Muckefuck, Kinkerlitzchen, Trottoir, Chaiselongue und Poussieren, kennt man in Berlin auch, und dort wahrscheinlich schon länger. Seit Friedrich der Große die Hugenotten ins Land geholt hat (und damit auch die Fontanes) vermischen sich das Deutsche und das Französische. Aber manches gibt es nur in Bremen, wie den Muschepunt, zum Beispiel. Oder das awangs wie in n büschen awangs für ein bisschen schneller (von en avant). Oder sittjepöh (von si je peux) in einem Satz wie: das mach’ ich ganz sittjepöh. Und so wunderbare Trinksprüche, die man in den 50er Jahren noch hören konnte, wie Schötteldör, mit der Entgegnung Wrummsi. Was die plattdeutsche Aussprache von J’ai l’honneur und  Je vous remercie ist. Das gibt es wirklich nur in Bremen. Dass keine Fisematenten machen von einer französischen Aufforderung an junge Mädchen, visitez ma tente, kommt, ist inzwischen linguistisch angezweifelt. 

1767 erschien in Bremen bei Georg Ludewig Förster das erste Lexikon des Bremischen, der Versuch eines bremisch-niedersächsischen Wörterbuchs von Eberhard Tilling. Inzwischen gibt es eine Vielzahl kleiner Bücher, die den Bremer Snak vermitteln: Walter A. Kreye und Volker Ernsting: Was’n in Bremen so sacht und wo ein fein auf hören muß (1973), Klaus Kellner: Bremisches Wörterbuch (2011) und Daniel Tilgner: Das Bremer Schnackbuch (2011). Aber so wirklich hat sich die Sprachwissenschaft seit Eberhard Tilling noch nicht auf diesen Regiolekt gestürzt. Gewiss, Anton Kippenberg hat in Geschichten aus einer alten Hansestadt (das einen Anhang mit Erklärung einiger platt- und hochdeutscher Wörter hat) eine Vielzahl von witzigen Beobachtungen, aber die wirkliche Beschreibung der feinen Nuancen steht noch aus. Immerhin erstellt der NDR schon eine Art Wörterbuch.

Die feinen Unterschiede bewegen sich ja vor allem in dem, was berufsmäßige Linguisten Soziolinguistik nennen. Und von diesen feinen Nuancierungen, in der die Wahl eines plattdeutschen Wortes (oder eines hochdeutschen) und die Betonung den Unterschied zwischen Kompliment und Beleidigung machen, haben Universitätslinguisten nun wirklich keine Ahnung. Das Wort Schusseltriene wäre so ein Beispiel. Dagegen ist das Postür nicht so nett, ein altes Lexikon sagt uns: postür bedeutet eine widerwärtige und verhaßte Person, namentlich ein altes Weibsbild; zu Grunde liegt natürlich franz. posture (lat. positura). Allerdings hat das im Laufe der Zeit geändert, wenn heute jemand sagt: son mageres postür, dann ist das frei vom Widerwärtigen.

Manchmal schwächt das Plattdeutsche auch grobe Beleidigungen ab, es klingt einfach netter, wie zum Beispiel in klei mi doch ann Mors. Oder dem wunderbaren Satz des des Plattdeutschen mächtigen Bürgermeisters Wilhelm Kaisen, der über seinen eingebildeten Bildungssenator Dehnkamp sagte: Ischa to’n Lachen, dass een, de sin Lewen lang Nieten auffen Vulkan gekloppt hat, sich nu aafspeelt as’n Geheimroot. Anton Kippenberg würzt seine Beschreibung Bremens mit plattdeutschen Döntjes, und er kann darauf vertrauen, dass sein Lesepublikum ihn vor über siebzig Jahren verstand, denn immerhin macht der Anteil des Plattdeutschen ein Drittel des Buches aus. 

Man gewinnt auch den Eindruck, dass Plattdeutsch eine Art lingua franca zur Verständigung zwischen oben und unten ist. Eine gemeinsame Sprachebene, auf der sich Pfeffersäcke und Zigaarenmookers treffen können. Für meinen Vater war das Platt keine soziale Herablassung, er ist damit aufgewachsen, und er wird es wie selbstverständlich auf dem Wochenmarkt sprechen oder wenn er Bauern oder Arbeiter vom Bremer Vulkan behandelt. In meiner Jugend ist das Bremer Platt noch nicht tot, die plattdütsche Morgenandacht im Radio gehört genau so zum festen Tagesablauf wie Hör mal ‘n beten to. Ich bin mit Rudolf Kinau und Irmgard Harder aufgewachsen. Aber das alles ist Nostalgie, das Bremer Platt ist auf dem Rückmarsch.

Die Bücher von Kippenberg und Lerbs stammen aus den dreißiger Jahren, sie geben die Welt vor dem Ersten Weltkrieg wieder. Die Welt, die sie beschreiben, gibt es nicht mehr. Die Sprache wahrscheinlich auch nicht. Wie schon der ehemalige Bremer Bürgermeister Theodor Spitta in seinen Erinnerungen formulierte: Davon ist manches inzwischen verklungen, wie auch das heimische Platt mehr und mehr zurückgeht. In meiner Jugend war diese ganze Welt volksverbundener Kräfte und origineller Einzelgänger noch lebendig. Anton Kippenberg lebte in ihr und verkörperte sie.

1 Kommentar:

  1. In Delmenhorst nannte man um 1950 den rudimentären Embryo eines Hühnereis das "Schackerpü". Das klingt wie verballhorntes Französisch wie etwa das zitierte "sittjepöh". Woher kommt es wohl?

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