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Samstag, 15. September 2018
deutscher Gruß
Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs sieht den deutschen Studenten Alwin Belger in Oxford. Da ist er zu einem Ferienkurs an der Universität, er könnte da bleiben, aber er flieht nach Deutschland zurück. Seine abenteuerlichen Erlebnisse auf dieser Flucht lässt er in einer kleinen Schrift drucken. Danach zieht er freiwillig in den Krieg. 1915 schickt man ihn nach Hause, weil er ein Bein verloren hat. Er setzt sein Studium fort, promoviert und wird 1919 Lehrer in meinem Heimatort. Meine Mutter hat ihn noch als Lehrer am Lyceum gehabt, mein Opa kannte ihn als Kollegen.
Neben seiner pädagogischen Tätigkeit macht Belger sich an eine Mammutaufgabe. Er ordnet er die Korrespondenz (ca. 4.500 Briefe) und die Schriften des berühmtesten Sohns der Stadt, Gerhard Rohlfs. Der ist mittlerweile längst vergessen, Belger macht ihn zu einem Vorkämpfer... für das Verständnis des deutschen Volkes für unsere Überseeischen Besitzungen. Schreibt ein Buch nach dem anderen über den Afrikaforscher und leitet das kleine Heimatmuseum. Das wurde in den dreißiger Jahren in dem Gebäude eingerichtet, aus dem man gerade die Freimaurer vertrieben hatte. Sein Hauptwerk Die große Zeit deutscher Afrikaforschung und deutscher Kolonialarbeit wird nicht mehr erscheinen, da er in den letzten Kriegstagen von einem englischen Tiefflieger getroffen wurde. Heute heißt eine Straße in Bremen Nord nach Dr Alwin Belger.
Ein vorbildliches Gelehrtenleben? Oder vielleicht doch nicht? Es gibt da eine Geschichte, die ein ganz anderes Licht auf das Vorstandsmitglied der Deutschen Geographischen Gesellschaft wirft. Ich las letztens in der gerade erschienen Autobiographie einer Frau, die in den dreißiger Jahren das Lyceum in Vegesack besuchte: Immerhin ist Frau Nöll, so ungerecht und machtbewusst sie agiert, keine ausgeprägte Nationalsozialistin. Die Schüler bleiben von wuchtiger Propaganda und extremer Indoktrination halbwegs verschont. Aber diese glühenden Nazis gibt es natürlich auch. Den Erdkundelehrer etwa, einen Dr. Belger, der im Ersten Weltkrieg bei Verdun ein Bein im verloren hat ... Wir Mädchen hatten die Angewohnheit, den Hitlergruß mit einer lässigen Handbewegung zu machen. Als wir Dr. Belger eines Tages in der Einkaufsstraße von Bremen-Vegesack trafen, grüßten wir ihn auf diese Weise. Am nächsten Tag wurden wir auf den Schulhof kommandiert. Zehn Minuten mussten wir vorschriftsmäßig an ihm vorbeimarschieren und immer wieder den Hitlergruß auf korrekte Weise rufen und ausführen.
Man schämt sich für den Dr Belger, einen Mann, der eine gewisse Reputation als Gelehrter hat. Und dann so etwas: Strafexerzieren mit Hitlergruß für junge Mädchen. Es gibt keinen Grund, die Darstellung von Ruth Rupp anzuzweifeln, die sie mit der Hilfe ihres Ghostwriters Sven Rohde verfasst hat. Die 91-jährige Autorin ist in Der Traum von Leben in dir hemmungslos ehrlich. Mit 77 Jahren hat Ruth Rupp ihre Bühnenkarriere begonnen, da hatte Ulrich Tukur (der auch das Vorwort zu ihrer Autobiographie schrieb) sie für seine Inszenierung der Dreigroschenoper auf die Bühne geholt. Die 1,43 große Frau singt heute immer noch in dem Chor Heaven Can Wait auf der Reeperbahn, es ist eine erstaunliche Geschichte. Sie hat eine innere Stärke, die überhaupt nicht laut ist, etwas Kreatürlich-Kraftvolles, ganz einfach das Herz am rechten Fleck. Diese Lebensbildung kannst du auf keiner Universität lernen. Sie hat ein Element von liebenswürdigem anarchistischem Aufbegehren, geistiger Unabhängigkeit und Nonchalance, um dem die Stirn zu bieten, was Konvention ist. Im Alter verhält man sich eigentlich nicht so – andererseits: Warum nicht?! Und sie macht das mit Stil. Diese bewundernswerte Stärke, die haben in ihrem Alter nicht viele Menschen, hat Ulrich Tukur über sie gesagt.
Und im Vorwort zu Der Traum von Leben in dir schreibt Tukur: Dass all das, was sonst unerhört verklingt und verloren geht, nun in eine Form gebracht und erhalten wird, ist ein großes Glück. So erfährt der Leser in den hier vorliegenden Lebenserinnerungen, dass Humor, Herzensbildung und Bescheidenheit die wesentlichen Voraussetzungen sind für ein glückliches, gelungenes, erfülltes Leben. Dem kann man nur zustimmen.
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