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Mittwoch, 22. Dezember 2021

Toggenburg


Hamlets Geist

Gustav Renner war bestimmt die beste
Kraft im Toggenburger Stadttheater.
Alle kannten seine weiße Weste.
Alle kannten ihn als Heldenvater.

Alle lobten ihn, sogar die Kenner.
Und die Damen fanden ihn sogar noch schlank.
Schade war nur, daß sich Gustav Renner,
wenn er Geld besaß, enorm betrank.

Eines Abends, als man „Hamlet“ gab,
spielte er den Geist von Hamlets Vater.
Ach, er kam betrunken aus dem Grab!
Und was man nur Dummes tun kann, tat er.

Hamlet war aufs äußerste bestürzt.
Denn der Geist fiel gänzlich aus der Rolle.
Und die Szene wurde abgekürzt.
Renner fragte, was man von ihm wolle.

Man versuchte hinter den Kulissen
ihn von seinem Rausche zu befrein,
legte ihn langhin und gab ihm Kissen.
Und dabei schlief Gustav Renner ein.

Die Kollegen spielten nun exakt,
weil er schlief und sie nicht länger störte.
Doch er kam! Und zwar im nächsten Akt,
wo er absolut nicht hingehörte!

Seiner Gattin trat er auf den Fuß.
Seinem Sohn zerbrach er das Florett.
Und er tanzte mit Ophelia Blues.
Und den König schmiß er ins Parkett.

Alle zitterten und rissen aus.
Doch dem Publikum war das egal.
So etwas von donnerndem Applaus
gab’s in Toggenburg zum ersten Mal.

Und die meisten Toggenburger fanden:
Endlich hätten sie das Stück verstanden.

Das ist ein Gedicht von Erich Kästner, dem Meister des feinen, hintersinnigen Humors. Die Aufführung von Shakespeares Hamlet muss natürlich in Toggenburg stattfinden, das ist wichtig. Denn Toggenburg und Shakespeare gehören zusammen. Natürlich gibt es kein Stadttheater in Toggenburg, weil es keinen Ort names Toggenburg gibt. Das Toggenburg ist ein Tal. Aus diesem Tal kam Ulrich Bräker, der am 22. Dezember 1735 geboren wurde und sich Der arme Mann aus dem Toggenburg nannte. Auf jeden Fall tut er das in seiner Autobiographie. Der Sohn eines Tagelöhners besaß kaum Schulbildung, und dennoch wurde er zum Schriftsteller. Was ihm sein närrischer Schreibhang eingibt, wird am Ende seines Lebens fünf Bände füllen. 1777 entdeckt er William Shakespeare in der Übersetzung von Johann Joachim Eschenburg für sich, und drei Jahre später wird er über ihn schreiben: Etwas über William Shakespeares Schauspiele Von einem armen ungelehrten Weltbürger, der das Glück genoß, ihn zu lesen. Beginnend mit den Zeilen:

Wann man dich auch citiren kann,
Komm doch ein Weil zu mir,
Und gönne mir, du großer Mann,
Ein kurz Gespräch mit dir.
Hört uns das Gsind und spottet mein,
So bitt ich, hilf du mir.
Ich will dir dann den Rüpel sein,
Sonst kann ich nichts dafür.


Lesen Sie doch einfach einmal, was der ungelehrte Weltbürger zu Shakespeares Hamlet zu sagen hat.

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