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Mittwoch, 12. Mai 2010
Sprachwandel
Frau Merkel hat vorgestern etwas eingeräumt. Das tun Politiker neuerdings immer häufiger, sie räumen ein. Sie geben nix zu, ih bewahre, sie räumen ein. Wenn zwei kleine Steppkes dabei ertappt werden, dass sie mit ihrem Fußball eine Scheibe zerdeppert haben, dann haben sie zwei Möglichkeiten: sie lügen oder sie geben zu, dass sie es waren. Politiker lügen nicht, ebenso wenig wie Erzbischöfe. Politiker geben aber auch nichts zu. Sie räumen bestenfalls etwas ein. Frau Merkel hat das auch noch live eingeräumt. Damit die Menschen in unserem Land es verstehen. Und Fakt ist, der Reporter war vor Ort. Also tief drunten im Stollen des Bergwerks, denn das bedeutet vor Ort.
Was ist bloß los mit der öffentlichen Rede? Alle Behörden haben neuerdings Sprecher, die garantiert eins nicht können: sprechen. Karl Kraus ist glücklicherweise schon tot. Er braucht das nicht mehr zu hören oder zu lesen, was hierzulande öffentlich gestammelt wird. Wörter sind sehr einfach. Wer kann machen, machen. Wer nicht kann machen, sprechen. Wer nicht kann sprechen, der schreiben. Dieser in Österreich gesprochene Satz, Giovanni Trappatonis Kritik an der schreibenden Zunft, ist sicherlich ein unbewusster Kommentar auf Wittgensteins berühmten letzten Satz aus dem Tractatus logico-philosophicus: Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.
Dieses Wort einräumen ist schon lange in unserer Sprache, nach den Brüdern Grimm ist es laut ihres Wörterbuchs (der Dativ ist dem Genetiv sein Tod) das deutsche Äquivalent für das lateinische concedere und das lateinische fateri. Luther verwendet es schon (haben müssen nachgeben und einreumen) und in einem der ersten deutschen Wörterbücher, der Teütsche Sprach und Weißheit von Georg Henisch (1616) findet es sich auch schon. Kommt aus der Kriegsführung, wenn man unter Zwang dem Gegner eine Stadt übergeben muss. Politiker räumen ja auch nur unter Zwang ein. Aber danach verschwindet dieses Wort ein wenig, lebt allerdings noch in der Kanzleisprache und im Juristendeutsch. Rechtsanwälte lieben es. Das ist nun nicht unbedingt eine Empfehlung für den Gebrauch von Wörtern. Wenn Wörter erstmal im Juristendeutsch oder bei den Politikern angekommen sind, sind sie sowieso schon sinnentleert und tot.
Abraham Lincoln hat die Gettysburg Address selbst geschrieben. Sein Vorgänger als Redner bei der Gedächtnisfeier hatte mehrere Stunden geredet, Lincoln brauchte nur wenige Minuten. Aber an die Rede von Edward Everett erinnert sich heute niemand mehr, Lincolns Rede bleibt im Gedächtnis der Nation. Lincoln war ein hervorragender Stilist, für ihn war es selbstverständlich, dass er alle seine Reden selbst schrieb. Woodrow Wilson war der letzte im Weißen Haus, der seine Reden selbst geschrieben hat. Roosevelt beschäftigte dafür Schriftsteller wie Archibald MacLeish. Später hatte man dafür ghostwriter. Warum können Politiker ihre Reden nicht selber schreiben? Können Sie kein Deutsch? Dass sie keine Fremdsprachen können, das wissen wir. Wozu benötigen sie Scharen von ghostwriters und spin doctors, wenn das sprachliche Ergebnis so kläglich ist? Und da sind dann andere Heerscharen mit Kameras, Mikrophonen und Stenoblöcken, um diese nichtssagenden Worthülsen aufzufangen. Warum tun die das? Warum kommentieren sie das Gestammel, das jetzt ein statement ist, in dem immer wieder die Menschen in unserem Lande bemüht werden, nicht mit dem unsterblichen Halbsatz ware schwach wie Flasche leer?
Meine Regionalzeitung ist voller Verstöße gegen die simpelsten Regeln der deutschen Sprache. Bekäme ich Geld für die Korrektur jedes Fehlers, wäre ich schon nach dem Frühstück ein reicher Mann. Was hat Wolf Schneiders Kampf für ein besseres Deutsch an der Hamburger Journalistenschule bewirkt? Im Radio können Sprecher schon deutsche Ortsnamen (von anderen Namen ganz zu schweigen) nicht mehr aussprechen. Wenn man jetzt in einem Sprachpflegeverein wäre, wäre man schon am Vormittag mit den Nerven fertig. Aber was haben die Vereine zur Verbesserung der deutschen Sprache seit dem Gekrönten Blumenorden von der Pegnitz gebracht? Jede bessere Zeitung hat ihre kleine Ecke für Sprachtorheiten, aber ändert sich was? Hat sich das Deutsch verbessert, als Dieter E. Zimmers Redensarten: Über Trends und Tollheiten im neudeutschen Sprachgebrauch erschien? Andererseits vermelden Verlage erstaunliche Verkaufszahlen bei der Deutschnachhilfe durch Bücher wie Willy Sanders' Gutes Deutsch - Besseres Deutsch oder Ernst und Ilse Leisis Sprach-Knigge. Aber diese Bücher stopfen auch nicht alle Schadstellen im Deich, hinter dem die Sprachverhunzung lauert. Jenes tödliche Gemisch aus falsch verstandenen Anglizismen, Political Correctness, Schreibprogramm des Computers und Rechtschreibreform. Auch wenn Karl Kraus, Ludwig Reiners und W.E. Süskind noch lebten, sie hätten nicht genug Finger, um die Löcher im Deich zu stopfen. Und es ist ja nicht nur bei uns so. Edwin Newmans Strictly Speaking: Will America be the Death of English? war 1975 Bestseller # 1 in Amerika. Aus der Vielzahl der schönen Beobachtungen des Autors über den Verfall der Sprache seien nur zwei Sätze zitiert: Language is in decline. Not only has eloquence departed but simple, direct speech as well, though pomposity and banality have not. Dem kann man nichts mehr hinzufügen, außer Trappatonis Ich habe fertig.
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