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Dienstag, 13. Juli 2010

Landleben



Am 13. Juli des Jahres 1793 ist John Clare geboren worden, er ist immer arm gewesen, ist kurze Zeit ein wenig berühmt geworden, aber dann hat man ihn schnell vergessen. Das letzte Vierteljahrhundert seines Lebens ist er im Irrenhaus gewesen, er bildete sich ein, dass er Lord Byron sei. Oder Napoleon. Oder Shakespeare. Während einer Shakespeare Aufführung hat er angefangen mit Shylock auf der Bühne zu diskutieren, da wußte man, dass irgendetwas nicht mit ihm stimmt. Er hat da auch viel getrunken, um sein Leid zu ertränken. Aus der ersten Anstalt ist er eines Tages fortgelaufen, seine Frau hat ihn erschöpft am Straßenrand gefunden. Da war er achtzig Meilen zu Fuß gelaufen. Er hat seine Frau nicht wiedererkannt, weil er auf der Suche nach seiner Jugendliebe war. Reicht nicht diese Anekdote schon für einen Film? Die englische Schriftstellerin Judith Allnatt hat mit The Poet's Wife zumindest einen Roman daraus gemacht, der auch in der englischen Presse sehr wohlwollend besprochen wurde.

In seinen ersten Jahren im Asyl hat er Gedichte von Lord Byron umgeschrieben. Aber man hat ihn dort, und auch in der zweiten Anstalt (und das ist für das 19. Jahrhundert nicht unbedingt typisch) menschlich und anständig behandelt. Er durfte auch im Wald spazieren gehen, die Natur hat er immer geliebt.

I am: yet what I am none cares or knows,
My friends forsake me like a memory lost;
I am the self-consumer of my woes,
They rise and vanish in oblivious host,
Like shades in love and death's oblivion lost;
And yet I am, and live - like vapors tossed

Into the nothingness of scorn and noise,
Into the living sea of waking dreams,
Where there is neither sense of life nor joys,
But the vast shipwreck of my life's esteems;
Even the dearest, that I loved the best,
Are strange - nay, rather stranger than the rest.

I long for scenes where man has never trod;
A place where woman never smiled or wept;
There to abide with my creator, God,
And sleep as I in childhood sweetly slept:
Untroubling, and untroubled where I lie,
The grass below - above the vaulted sky.


Das Gedicht heißt I am, und John Clare hat es wahrscheinlich in der Anstalt geschrieben. Er hat nie aufgehört zu schreiben. Und wenn er nicht gerade Shakespeare oder Byron war, hat er auch noch richtig gute Gedichte geschrieben. Da hat er Hölderlin etwas voraus.

Er hat ein klein wenig Schulbildung bekommen als Sohn eines armen Landarbeiters, er ist der erste in der Familie, der lesen kann. Er hat die Bibel gelesen und diese billig gedruckten chapbooks, die einen Almanach und Volkslieder und nursery rhymes enthalten. Irgendwann hat er sich ein Exemplar von James Thomsons Seasons gekauft. Und dann hat er zu dichten begonnen. Man kann, wenn man genug Thomson gelesen hat, diesen Einfluss in seinem Werk spüren. Sein erstes Buch, das durch einen Zufall gedruckt wird, heißt Poems Descriptive or Rural Life and Scenery. By John Clare. A Northamptonshire Peasant.

Damals hat man ihn so gemalt, idealisiert, so ähnlich wie Keats (das Portrait von Thomas Hilton aus dem Jahre 1820 ist in der National Portrait Gallery), und Clare hätte sich auch gerne in den Kreisen der Londoner Romantiker gesehen, die jetzt alle über die Natur dichten. Aber wenn einer die Natur wirklich kennt, dann ist es der kleinwüchsige (wahrscheinlich als Folge der Mangelernährung in der Jugend) Landarbeiter John Clare. Aber der peasant auf dem Titelblatt, der ist jetzt in Mode. Spätestens seit Rousseaus Satz revenons à la nature ist die Landbevölkerung literaturwürdig. Das ist natürlich eine bittere Ironie, dass der ärmste der Armen der englischen Landbevölkerung literarische Aufmerksamkeit bekommt, weil die romantische Dichtung diese gerade entdeckt hat.

Now twenty years I’ve pack’d behind me,
Since Hope’s deluding tongue inclin’d me
To fuss myself. But, Warbler, mind me,
It’s all a sham;
And twenty more’s as like to find me
Just as I am.

I’m poor enough, there’s plenty knows it;
Obscure; how dull, my scribbling shews it:
Then sure ’twas madness to suppose it,
What I was at,
To gain preferment!—there I’ll close it:
So mum for that.

Let mine, sweet Bird, then be a warning:
Advice, in season, don’t be scorning;
But wait till Spring’s first days are dawning
To glad and cheer thee;
And then, sweet Minstrel of the morning,
I’d wish to hear thee.


Das sind die letzten Strophen eines Gedichtes über eine Lerche im Winter, das mit den schönen Zeilen Ay, little Larky! What's the reason/ Singing thus in winter season? anfängt, und es ist irgendwie rührend, wie er in diesem Gedicht sein eigenes Scheitern (und seine Träume) im Zwiegespräch mit dem Vogel bekennt. Und dennoch ist es nicht ohne Humor. Der junge Dichter ist siebenundzwanzig Jahre alt und sieht vielleicht so aus wie auf dem Portrait von Hilton. What life is in his eyes! What ardent thirst for excellency... hat ein Zeitgenosse über das Portrait gesagt. Für ihn ist die Melancholie des Autors noch nicht zu erkennen.

In den letzten Jahrzehnten hat sich peu à peu die Lehrmeinung etabliert, dass John Clare mit zu den größten englischen Naturdichtern gezählt werden muss. Ich habe als junger Student eine Vorlesung über englische Romantik gehört, die über mehrere Semester ging. John Clare kam da nicht drin vor. Es war auch eine Vorlesung im Sinne des Wortes, der Professor (der hier namenlos bleiben soll) las vor, was sein Assistent ihm geschrieben hatte. Die Wissenschaft, sie ist und bleibt, was einer ab vom andern schreibt - doch trotzdem ist, ganz unbestritten, sie immer weiter fortgeschritten, Eugen Roth hatte schon Recht. Ich wollte, ich hätte nicht den langweiligen Professor X gehört, sondern den englischen Professor John Lucas. Der hat sehr schöne Dinge über John Clare geschrieben, und er versteht Clare vielleicht auch besser, weil er selbst Dichter ist.

Es hat einmal einen guten Penguin Band mit einer Werkauswahl gegeben, der antiquarisch noch erhältlich ist. Es gibt eine John Clare Society, und der größte Teil seines Werkes ist hier zugänglich. Jeder kann John Clare für sich selbst entdecken. Es gibt auch bei blogspot.com einen wunderbaren John Clare Blog (mit Bildern), den man nur empfehlen kann. Auf seinen Grabstein hat man die Zeilen Now autumn's come with blighted yellow ting'd and russet stain aus dem Gedicht A reflection in autumn geschrieben. Ich wollte, man hätte die schönen Zeilen aus einem späten Gedicht darauf geschrieben:

A silent man in lifes affairs
A thinker from a Boy
A Peasant in his daily cares -
The Poet in his joy.

1 Kommentar:

  1. Danke, Jay, für dieses kleine Feuilleton und auch für das schöne Zitat am Schluss.

    Viele Grüße
    Morgenländer

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