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Mittwoch, 5. Januar 2011

Arturo Benedetti Michelangeli


Man müßte Klavier spielen können,
Wer Klavier spielt hat Glück bei den Fraun.
Weil die Herrn, die Musik machen können,
Schnell erobern der Damen Vertraun.

Der Klang des bespielten Klavieres
Wirkt auf jede erregend wie Sekt,
Und ihre geheimsten Gefühle
Werden piano doch forte geweckt.

Ich weiß nicht, ob der italienische Pianist Arturo Benedetti Michelangeli, der heute vor einundneunzig Jahren geboren wurde, diesen Schlager gekannt hat. Hätte er darüber lachen können? Er wirkte immer etwas melancholisch, schien nicht ganz von dieser Welt. So viel Applaus, so viele Menschen, aber eine halbe Stunde nach dem Konzert fühlt man sich einsamer als zuvor, hat er einmal gesagt. Was macht manche Pianisten zu einem Mythos und andere nicht? Wilhelm Kempff oder Wilhelm Backhaus sind große Pianisten gewesen, aber hat es jemals einen derartigen Hype um sie gegeben wie um Glenn Gould oder Arturo Benedetti Michelangeli? Angela Hewitt oder Ragna Schirmer sind brillante Pianistinnen, aber werden sie verehrt wie Michelangeli? Die verdienstvolle Dokumentation von Philips Die grossen Pianisten des 20. Jahrhunderts präsentierte 74 Künstler von Géza Anda bis Krystian Zimmermann, aber nur wenige hatten diesen Nimbus, der Michelangeli umgab.

Seit die Salons des 19. Jahrhunderts die virtuosen Tastenlöwen hervorgebracht haben und das Klavier die Domäne der Töchter des Bürgertums wurde, hat es viele Klaviervirtuosen gegeben. Natürlich gibt es auch Karikaturen des Virtuosentum wie Richard Clayderman. Ich hatte mal eine Nachbarin, die spielte jeden Tag mit Schmackes stundenlang die Ballade pour Adeline. O manno, wie ich Rischarkleidermann gehasst habe. Man hätte eine Mietminderung verlangen sollen. 

Meine eigenen Klavierkünste sind begrenzt, zuerst hat mein Opa mich unterrichtet (der zu Anfang des Jahrhunderts als Dorfschulllehrer noch sonntags die Orgel spielen musste), dann wurde ich zur Klavierlehrerin geschickt. Der konnte ich nicht erzählen, dass ich eigentlich Jazzpianist werden wollte. Also blieb nur Die Schule der Geläufigkeit von Carl Czerny. Dann Sonaten von Friedrich Kuhlau, dann Bach und Mozart. Aber ich bewunderte meinen Klassenkameraden Lizzi Lißewski, der alles aus der Lamäng spielen konnte, Klassik und Jazz. Manchmal erlaubte mir der Leiter des Jugendheims, Hannes Meyer, dass ich auf dem etwas heruntergekommenen Flügel im großen Saal abends noch eine Stunde spielen durfte, wenn er schon zugesperrt hatte. Da habe ich für mich eine Art von Musik erfunden, für die später Keith Jarrett berühmt geworden ist. Ich hätte mir das patentieren lassen sollen.

Doch ich habe etwas von dem Klavierunterricht mitgenommen. Ich kann immer noch mit einer Münze auf dem Handrücken spielen, obgleich ich inzwischen gehört habe, dass diese Methode ziemlicher Quatsch ist. Ich kann Noten lesen und kann ziemlich gut falsche Noten hören. Und ich habe auf ewig eine Bewunderung für gute Pianisten, seien sie Männer oder Frauen. Das wird meine Klavierlehrerin freuen, die das jetzt bestimmt auf der Wolke im Himmel liest, wo alle Klavierlehrerinnen sitzen, die wir in unserer Jugend nicht geliebt haben. Es wird sie aber auch freuen, dass ich mir, als ich an der Uni pensioniert wurde, als erstes ein neues Klavier gekauft habe.

Arturo Benedetti Michelangeli wollte eigentlich Violinist werden (als er drei Jahre alt war), ist dann aber beim Klavier gelandet, weil sein Vater, den er sehr verehrte, auch Klavier spielte. Bei seinem ersten Konzertauftritt war er fünf. Er kam auf die Bühne, verbeugte sich und verschwand wieder. Wurde wieder aus dem Vorhang geschubst, verschwand wieder. Es dauerte einige Zeit, bis man hinter der Bühne begriff, dass er keinen Schiss hatte und von der Bühne fliehen wollte. Er suchte nur einen Erwachsenen, der ihn auf den Klavierschemel hievte. Danach spielte er, blond und schön (wie seine spätere Frau Giuliana sagte), unaufgeregt und brillant zwei Czerny Etüden. Die Geschichte mit dem Klavierschemel gibt es auch in einer anderen Version, wie es überhaupt für alles in seinem Leben mehrere Versionen gibt. Man weiß wenig über das Leben von ABM. Aber die Geschichte, dass er 1939 bei einem Wettbewerb als ersten Preis eine Armbanduhr und eine Mitgliedskarte der faschistischen Partei erhielt, die Armbanduhr einsteckte und den Parteiausweis liegen ließ, die ist wohl wahr. Dass er Jagdflieger in der italienischen Luftwaffe war, entspricht wahrscheinlich  nicht der Wahrheit, dass er dem Widerstand nahestand, wohl schon. Dass er schnelle Sportwagen geliebt hat und mit Todesverachtung mit überhöhter Geschwindigkeit über enge italienische Landstraßen gebrettert ist, dafür gibt es viele Zeugen.

Er hat nicht nur sein Privatleben verteidigt, er hat auch eine Aura der Unnahbarkeit verbreitet. Kritiker empfanden das manchmal als Arroganz gegenüber den Hörern. la faccia del silenzio, hat ihn eine italienische Zeitung genannt. Für Camilla Cederna, die ihn einmal interviewt hat, war sein Gesicht aus Marmor, abstrakt, kaum jemals lächelnd. Journalisten müssen ja immer übertreiben. Er hat lange geprobt, bevor er etwas öffentlich spielte. Für Beethovens Sonate Opus 111 jahrelang. Da erzählte man in der Nachbarschaft, dass die Vögel in seinem Garten die schon mitzwitschern konnten. Den zweiten Satz mit dem schönen sangbaren Teil (den Thomas Mann als Hommage an Theodor Wiesengrund Adorno in seinem Doktor Faustus als Wiesengrund, o Wiesengrund anklingen lässt) ganz bestimmt. Sein Repertoire ist auch - ähnlich wie bei Glenn Gould - relativ klein gewesen, man sollte alles kennen und dann auswählen, was man für sich selbst spielt und was man in der Öffentlichkeit spielt.

Bevor ich ihn entdeckte, hießen meine Helden Van Cliburn und Glenn Gould. Und Champion Jack Dupree. Den hatte ich vor einem halben Jahrhundert nachts mit einem Transistorradio auf einem Segelboot im Hafen von Kopenhagen gehört. My name is Champion Jack Dupree, and they are broadcasting me... Jahre später habe ich ihn nach einem Konzert hinter der Bühne erwischt. Und da hat er mir mit einem dicken schwarzen Filzer, wie ihn die Möbelpacker zum Beschriften den Umzugskisten verwenden, ein Autogramm auf die in einer Plastiktüte mitgeschleppte Platte geschrieben. Yours Champion Jack Dupree 1975 steht da rechts oben in der Ecke. Hätte ABM sowas gemacht?

Die Schönheit der Töne ergreift uns, haut uns um. Ob Orpheus die Welt mit seiner Stimme verzaubert oder ob Glucks Orpheus J'ai perdu mon Eurodice singt, es verwandelt unseren Alltag. Die sechzehnjährige Göre im Adidas Trainingsanzug, die zu ihrem Auftritt bei Jugend musiziert zu spät kommt und dann durch das ganze Kirchenschiff scheest, die Treppe hinauf, und dann auf der Orgel einen göttlichen Bach spielt, ist sie noch die gleiche, die eben die Kirchenruhe störte? Oder hat sie mit ihrer Fähigkeit, uns durch ihr Orgelspiel zu verzücken, jetzt göttliche Dimensionen angenommen? Der deutsche Archäologe Ludwig Curtius hat Arturo Benedetti Michelangeli 1942 in Italien erlebt. Und in seiner kurzen Skizze (die sich in Torso: Verstreute und nachgelassene Schriften und nicht in seinen Lebenserinnerungen Deutsche und Antike Welt findet) wird Benedetti Michelangeli zu einem jungen Gott. Curtius kommt aus einer anderen Zeit, der darf so etwas sagen. Bevor er Professor für Archäologie wurde, war der Schüler von Adolf Furtwängler bei dem als Privatlehrer seines Sohnes Wilhelm beschäftigt. Bei dem größten pianistischen Gottesanbeter unserer Republik, Joachim Kaiser, klingt in seinem Kapitel über ABM in seinem Buch Große Pianisten in unserer Zeit auch viel Überirdisches an. Joachim Kaiser ist ein gebildeter Mann, ohne Frage, aber ich kann das nicht ab, wie er über Musik redet. Und das ist ja auch seit Jahrzehnten das gleiche Geschwafel, und es ist diese quallige Geschwöge (das quallige Geschwöhge ist nicht von mir, ich habe es letztens gelesen, und es gefiel mir), das für viele Menschen offensichtlich einen Musikkritiker ausmacht.

Als Joachim Kaiser sein Große Pianisten in unserer Zeit schrieb, konnte er noch nicht auf sehr viele ABM Platten zurückgreifen, es gab nur wenige. Das ist heute anders. Es gibt mittlerweile im Netz auch eine Diskographie. Ich habe inzwischen 47 CDs. Das bedeutet aber nichts, denn ABM CDs zu kaufen ist so etwas wie Überraschungseier kaufen. Inzwischen habe viele Studios ihre Archive geöffnet. Erstklassige Aufnahmen aus dem Maida Vale Studio der BBC, knisternd Knackendes von der RAI. Warum sind eigentlich Jazz-Aufnahmen aus den dreißiger und vierziger Jahren technisch gut und Klassikaufnahmen aus der gleichen Zeit so kläglich?

Der Markt ist überschwemmt mit Raubkopien (gegen die der Meister einen lebenslangen Kampf geführt hat) und unautorisierten Konzertmitschnitten. Die häufig von unterirdischer Aufnahmequalität sind. Aber auch da kann man Überraschungen erleben: während das Orchestra Sinfonica di Roma della Radiotelevisone Italiana im Hintergrund dahinwabert, gibt es plötzlich kristalline Klavierpassagen, die einen aufhorchen lassen. Wahrscheinlich liegt der Effekt auch darin, dass klangliche Welten zwischen dem Pianisten und dem störenden Orchester liegen. Am besten ist man, sagt man ja immer, aufnahmetechnisch mit den Aufnahmen der Deutschen Grammophon beraten. Obgleich die so wirklich toll leider auch nicht sind (aber immer noch besser als die EMI Aufnahmen aus den Abbey Road Studios). Und ganz oben stehen da natürlich seine Debussy Aufnahmen.

Wenn Sie noch nie etwas von ABM, diesem jungen Gott, den Alfred Cortot 1939 den neuen Liszt genannt hat, gehört haben sollten, oder immer einen Bogen um ihn gemacht haben sollten und jetzt fragen: womit anfangen? dann wäre meine Antwort ganz klar und einfach. Nehmen Sie die vier Mozart Klavierkonzerte (KV 415, 450. 466, 503), die er 1989 mit Cord Garben und dem NDR Orchester in Bremen und Hamburg aufgenommen hat. Und vielleicht wäre ein preiswerter Zehnerpack ABM auch nicht schlecht. Und dann werden Sie die Debussy CDs haben wollen, und die schönen Haydn Klavierkonzerte. Scarlatti, Albéniz, Granados und Mompou. Und am Ende haben Sie ganz viele CDs von ABM. Es ist ein klein wenig wie eine Sucht.

Er ist mit achtzehn Professor am Konservatorium geworden, und er hat länger als ein Vierteljahrhundert unterrichtet. Er hat gerne unterrichtet. Das passt kaum ins Bild von dem einsamen Virtuosen, dem faccia del silenzio. Er hat auch so nebenbei Amateure aus seiner Nachbarschaft unentgeltlich unterrichtet. Über seine Lehrtätigkeit hat er 1966 gesagt: Ich widme ihr einen großen Teil meiner Zeit und sie kostet mich sehr viel Energie. Der Unterricht, den ich gebe, ist zeitlich nicht begrenzt. Ich bin für meine Schüler jederzeit da, wenn sie Rat brauchen. Vielleicht tue ich dies aus einem Mangel an Egoismus. Und er hat hinzugefügt - und das ist sicherlich sein eigenes Credo gewesen: Die meisten Studenten müssen anfangen, Musik zu studieren, nachdem sie das Konservatorium absolviert haben. Technik hat erst dann einen Wert, wenn sie für musikalische Zwecke angewandt wird. Zu viele Pianisten üben heutzutage ihre Musik wie Klavierspieler aus. Die Aufgabe eines Künstlers ist, die Gedanken und die Aussage eines Komponisten zum Leben zu erwecken. Dazu muss man die Musik spielen und nicht nur die Noten.


2 Kommentare:

  1. Eine ähnlich faszinierende Aura hatte wohl nur Richter (wenn auch in einer ganz anderen Art und Weise). Für mich auch noch John Ogdon.

    Ein Geheimtipp bzgl. ABM ist die Aufnahme des 4. Klavierkonzerts von Rachmaninoff, Ende der 1950er Jahre. Nein, man muss Rach. nicht mögen, aber die Verbindung von ABM und SR ist ebenso ungewöhnlich wie magisch.

    Die Scarlatti-Aufnahmen von ABM werden wohl auf immer unübertroffen bleiben.

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  2. Vielen Dank, dass Sie Richter erwähnen. Ich hatte ihn weggelassen, weil ich irgendwann noch einmal über Richter schreiben wollte. Ist unverzeihlich, mache ich wieder gut. Ich habe mir das Klavierkonzert No. 4 in G-moll (EMI Aufnahme von 1958) noch einmal angehört. Ich muss sagen, dass selbst Rachmaninoff Hasser diese Aufnahme gut finden werden. Ich habe zu R. ein leidenschaftliches Nicht-Verhältnis, habe aber einmal den ganzen R. eingespielt von Howard Shelley gekauft. War ein Super-Sonderangebot. Howard Shelley ist ja ein direkter Nachfahre von Percy Bysshe Shelley, die englischen Kritiker finden seine R. Aufnahmen ganz toll.

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