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Freitag, 24. Juni 2011

Wuddel



Der Konny aus meiner Abiturklasse hat mir geschrieben, dass unser Klassenkamerad Bernd Wurthmann, den wir alle Wuddel nannten, plötzlich gestorben ist. Konny war unser Klassensprecher, und obgleich er ein berühmter Mann geworden ist, kümmert er sich nach einem halben Jahrhundert immer noch um die alte 10 L1. Gestern ist Bernd auf dem Friedhof von Bremen Grohn beerdigt worden. Er hatte mich letztens im Rahmen seiner Tätigkeit für das Vegesacker Overbeck Museum noch um etwas gebeten, was ich aber nur zur Hälfte erledigt hatte. Den Rest schicke ich Dir später, habe ich geschrieben. Nun braucht er es nicht mehr, und ich habe ein schlechtes Gewissen. Wuddel und ich haben nebeneinander auf der Schulbank gesessen. Jahrelang, in jedem neuen Schuljahr saßen wir wieder nebeneinander. Und dabei waren wir völlig verschiedene Charaktere, schon äußerlich: als er so etwas Ähnliches wie eine Elvis Frisur trug, hatte ich einen crew cut. Aber er war ein zuverlässiger Kumpel, wir haben uns in all den Jahren nie gestritten und niemals gekloppt. Wenn ich nicht Dich als linken und Mille als rechten Nachbarn zum Abschreiben gehabt hätte, wäre ich kein rechtschaffener A-14-Beamter geworden, sondern mit viel Glück vielleicht bei Nehlsens Müllabfuhr untergekommen sein, hat er mir vor kurzem geschrieben. Das fand ich sehr rührend. Er hatte diesen schönen, trockenen norddeutschen Humor. Ich neigte immer zum Abheben, er kommentierte das immer ironisch.

Er hat mir in dem Brief damals auch gestanden, dass er mal hinter der Frau her war, die damals meine Freundin war. Wusstest du übrigens, dass ich damals stocksauer auf dich war, als du mit Renate abschobst? Ich wäre dir gern zuvorgekommen. Zweimal habe ich sie vor einiger Zeit wiedergesehen: Einmal beim Buchhändler und einmal im Grohner Schwimmbad. Also, Renate B., wenn Du das jetzt lesen solltest, dann weißt Du das, dass auch Wuddel hinter Dir her war. Was mag aus ihr geworden sein?

Obgleich Wuddel und ich Kumpels waren, weiß ich über manche Seiten von ihm nichts. Weshalb in der Bierzeitung unserer Lateinklasse 10 L1, in der jeder der Klasse eine Funktion in einem imaginären Zirkus hatte, über ihn gesagt wird: großen Erfolg erzielte er als Initiator einer gegen die Bundesbank gerichteten Bewegung, entzieht sich meiner Kenntnis. Hatte er Zehnmarkscheine gedruckt? Im Sommer 1959 habe ich ihn auf dem Montmartre getroffen, wo er den Malern zuguckte, die blitzschnell Portraits von den Touristen malten. Einen der Maler habe ich photographiert, Wuddel nicht. Ich habe Hallo, Wuddel gesagt, und das war's. Wir waren sehr cool in jenen Tagen. Ich weiß bis heute nicht, wie er nach Paris gekommen war, und was er dort machte (Ende der fünfziger Jahre aus einem kleinen Bremer Vorort nach Paris zu kommen, war schon eine kleine Sensation). Ich habe ihn auch nie gefragt. Damals pflegte man eine große Verschwiegenheit, weil man mit sechzehn sorgfältig dabei war, an der eigenen Selbstinszenierung zu arbeiten. Erst im Alter wird man geschwätzig. Ich hätte ihn ja letztens fragen können, wie er damals nach Paris gekommen ist und ob er zufälligerweise die Adresse von Renate hat, aber ich habe es natürlich gelassen.

Ich habe ihm im letzten Jahr meine immer noch unfertigen Memoiren (die mit dem schönen Titel Bremensien) geschickt. Weil er mehrfach da drin vorkommt (und mein kleines search Feld auf dieser Seite sagt mir, dass er auch schon zweimal in diesem Blog vorgekommen ist). Er ist einer der wenigen Mitschüler aus meiner Gymnasiumsklasse, der in den Bremensien vorkommt. Viele andere waren mir nicht so wichtig. Renate kommt natürlich auch drin vor. Er hat das Leseerlebnis nett kommentiert. Es ist schön, durch Dich die alten Zeiten noch einmal wiederauferstehen zu sehen, obwohl diese natürlich durch verschiedene Brillen gefiltert werden, war sein letzter Satz damals. Ich habe von ihm auch eine Vielzahl von Dingen erfahren, die ich durch meine Brille damals nicht gesehen habe. Habe ich natürlich sofort geklaut und in die Bremensien hineingeschrieben. Wenn man seine Memoiren schreibt, ist man wie ein Vampir und saugt die Erinnerung von anderen aus. Es hat mich in seinem Brief damals etwas gestört, dass er von meiner Karriere bei der Infanterie als den Stoppelhopsern sprach. Aber Wuddel war bei der Luftwaffe, da muss man ihm das verzeihen. Er hat über diese Zeit sehr ironisch gesagt: Meine Leutnantskarriere scheiterte allerdings da dran, dass ich während der entscheidenden Zeit in München-Neubiberg war, und in München herrschte zu der Zeit Karneval, sodass für dienstliche Belange eigentlich wenig Zeit blieb. Zudem kotzte mich das Offiziersgetue ohnehin schon an. Heute finde ich auch, dass das alles ein großer Unsinn war, aber ich habe länger gebraucht als er, um zu dieser Erkenntnis zu kommen.

Auf seine Armbanduhr war ich damals neidisch, er auf meine grünen englischen desert boots, die er aus irgendeinem Grund meine golly Schuhe nannte. Seine Uhr war viel eindrucksvoller als meine Konfirmations-Junghans. Und sie wurde eines Tages in der ganzen Schule berühmt, weil der Geigerzähler von Humbert Settler im Physikunterricht einen hundertfach höheren Wert an ihr als an dem Demonstrationsteil eines schwach radioaktiven Elements maß. Ich höre heute noch das Geräusch des Geigerzählers neben mir. Es stellte sich danach heraus, dass die Firma, die den silbernen Kasten in der Größe einer Gefriertruhe mit dem schwach radioaktiven Element geliefert hatte, vergessen hatte, das schwach radioaktive Teil in den Kasten zu packen. Ja, Physik ist das, was nie gelingt.

Wuddel war Photoamateur, wie viele von uns damals, und wir haben eine Vielzahl von Stunden zusammen in der Dunkelkammer verbracht. Ich will jetzt nicht von den Geheimnissen eines Perutz Pergrano Schwarzweiß-Films, von Neofin Blau und anderen Dingen aus der Rotlichtwelt der Dunkelkammer reden (ich habe gerade bei ebay reingeschaut und mein altes Liesegang Vergrößerungungsgerät wiedergesehen, Nostalgie, Nostalgie!). Das sagt Leuten, die eine DigiCam haben oder mit dem Handy photographieren, sowieso nichts. Aber es ist ein Hobby, das Menschen verbindet. Tat es auf jeden Fall in den fünfziger und sechziger Jahren. Wir konnten stundenlang über Kameras reden, da wir alle den Photo Porst Katalog auswendig gelernt hatten, und wir beobachten ständig die Schaufenster von Maack, Seemann und Hallfeldt. Was wir gerne als Kamera gehabt hätten, war natürlich außerhalb unserer finanziellen Reichweite. Niemand konnte wissen, dass die Objekte unserer Begierde heute zum Dumpingpreis auf Flohmärkten verscheuert werden. Im letzten Jahr habe ich Wuddel noch voller Stolz erzählt, dass ich auf dem Flohmarkt preiswert eine Exakta Varex gefunden habe.

Da Wuddel ein richtiges Ass in allen Photodingen war und auch einen Filmvorführerschein bei der Landesbildstelle in Bremen gemacht hatte (sodass er in der Aula die Filme für die Schüler Film Gilde vorführen durfte), hat es niemanden von uns gewundert, dass er nach dem Abi eine Ausbildung zum Photographen gemacht hat. Also, nachdem er bei der Luftwaffe in München-Neubiberg gewesen war. Dann hat er in Hamburg ein Gewerbelehrerstudium absolviert, und hat danach in Bremen Photographen, Photolaboranten und Mediengestalter ausgebildet. Er ist auch Mitglied einer Vielzahl von Jurys und Prüfungsausschüssen gewesen, das hat er immer sehr ernst genommen. Wuddel war nicht der einzige aus der Klasse, der Photograph geworden ist. Der Eberhard ist als Photograph noch ziemlich bekannt  geworden. Ich hoffe nur, dass er jetzt geschmackvollere Socken trägt, als auf dem Photo vom Abtanzball. Ja, guck Dir das ruhig noch mal an, Eberhard!

In den letzten Jahren hat Wuddel ehrenamtlich für das Fritz Overbeck Museum in Vegesack gearbeitet und den ganzen Bestand der Bilder photographiert und archiviert. Dafür werden ihm das Museum und die Overbeck Forscher sicher dankbar sein. In allen Büchern und allen Katalogen, die in den letzten Jahren entstanden sind, steht jetzt sein Name. Im Overbeck Museum hatte er in diesem Jahr auch noch eine große Ausstellung seiner Bilder, Norddeutsche Fotografien, gehabt. Das Photo da oben war auf dem Plakat für die Ausstellung. Die neue Direktorin des Museums Dr. Katja Pourshirazihat hat zur Eröffnung eine ➱Rede gehalten, in der sie eine Menge zum Verhältnis von Fritz Overbeck zur Photographie gesagt hat. Und Susan Sontags On Photography zitiert hat, das macht ja jetzt jeder, der über Photographie redet. Über Bernd Wurthmanns Photographien hat sie relativ wenig gesagt. Ich glaube nicht, dass Wuddel Susan Sontags On Photography gelesen hat, das ist etwas für Theoretiker. Wuddel war Praktiker, und er hatte das Auge eines Photographen. Die brauchen Susan Sontag nicht.

Als er mir vor Monaten erzählte, dass er seine Ausstellung vorbereitete, habe ich mich nicht gewundert, dass es Landschaftsphotos waren. So haben wir in den fünfziger Jahren angefangen, die Lesum- und Weserdeiche entlang, von Moorlosen Kirche bis Hammelwardener Sand. Unser Vorbild war sicherlich, ob wir uns das eingestanden oder nicht, der Bremer Photograph Hans Saebens (oben), der hatte immer wunderschöne Wolken. An dem kam man nicht vorbei. Wir versuchten diese Art der Photographie mit dem Einsatz von Gelbfiltern und langer Belichtung bei ganz kleiner Blende (und natürlich niedrig empfindlichen Perutz Filmen) auch zu erreichen. Das Ideal dieser Photographie sind natürlich die Bilder von Ansel Adams.

Wir guckten uns aber auch immer die Photos im Schaufenster von Photo Maack an, Erich Maack machte Industriephotos, Werften und Schiffe. Hatte aber auch immer schöne Gelbfilterwolken. Irgendwie sind die fünfziger Jahre eine Gelbfilterepoche. Ich habe noch alte Magnum Hefte aus den fünfziger Jahren (die damals natürlich neue Magnum Hefte waren), in denen man das Beste finden konnte, was so photographiert wurde, von Robert Doisneau bis Henri Cartier-Bresson. Leute auf der Straße zu photographieren, wie Doisneau und Cartier-Bresson das taten, trauten wir uns noch nicht. In Paris habe ich das aber 1959 gemacht, ich dachte mir, da kennt mich eh keiner. Meine Photos sehen aus wie etwas mißratene Doisneau Kopien, man entkommt einem Zeitstil nicht. Doch ansonsten war unsere Photographie an unsere norddeutsche Landschaft gebunden, dem entkam man auch nicht. Auch wenn ich jetzt eine viel bessere photographische Ausrüstung habe und mit einem Farbfilm photographiere, irgendwie sehe ich die Landschaft immer noch so, wie sie Hans Saebens gesehen hat. Oder die alten Niederländer.

Tja, Wuddel, das isses. Schöner Himmel, da auf Deinem Bild. Wir denken alle an Dich, manche aus unserer Lateinklasse sind quer durch die Republik gereist, um zu Deiner Beerdigung zu kommen. Vielleicht ist sogar unser alter Klassenlehrer Gustav Renziehausen gekommen, über den ich damals behauptet hatte, dass er der Bruder von Eva Renzie sei. Natürlich war das ein blödes Gerücht, dass ich da in die Welt gesetzt hatte, denn die schönste Frau Deutschland und unser Lehrer sahen sich wirklich nicht ähnlich. Ich hoffe, dass Gustav Renziehausen, der heute in vier Wochen fünfundachtzig wird, mir das verziehen hat. Er ist immer ein grundanständiger und ehrlicher Mensch gewesen, das kann man nicht über so viele Lehrer sagen.

Du hättest nie daran gedacht, einmal Lehrer zu werden, Wuddel, und bist es doch irgendwie geworden. Deine Schüler aus vielen Jahren an der Wilhelm Wagenfeld Schule werden sich hoffentlich an Dich erinnern (das hofft man als Lehrer ja immer), Du hast noch Deine große Ausstellung gehabt. Und jeder, der sich mit Fritz Overbeck beschäftigt, wird Deinen Namen im Werkverzeichnis lesen. Ich hasse es, Nachrufe zu schreiben. Aber man kommt in das Alter, wo Kondolenzbriefe und Nachrufe zu einer ungeliebten Übung werden.

Ich wollte ein Gedicht ans Ende stellen, Gedichte und Goethezitate sind ja immer gut. Zuerst dachte ich an ein Gedicht aus einem kleinen Gedichtband, den Eckehart Dittmann mir mal geschenkt hat Aus der Hand gegeben heißt der Band, und es sind vorne auch schöne Wolken drauf. Eckehart war auch in unserer Klasse (ihm verdanke ich auch eine Adressenliste aller aus der Klasse, die der Achim noch systematisiert hat), er ist schon ein paar Jahre tot. Aber ich fand nichts in dem Büchlein, das mir gefiel.

Ich habe dann den guten alten John Donne wiedergelesen, der eignet sich ja für alles. Wenn man Englisch studiert hat (ich glaube, ich war der einzige aus der Klasse) ist ja auch ein englischsprachiges Gedicht ganz angebracht. Habe John Donne wieder weggelegt. Bei Hemingway hat diese Suche  funktioniert, der hat so den Titel for whom the bell tolls gefunden. Und dann habe ich meinen Lieblingsdichter des 20. Jahrhunderts genommen, den Amerikaner Robert Lowell. Das Gedicht ist eins der letzten, die er vor seinem Tod 1977 geschrieben hat, es heißt Epilogue. Und es hat auch mit dem Gestalten zu tun, dem kreativen Prozess. Dem Sehen des Malers und des Photographen und dem Schreiben des Dichters.

Those blessèd structures, plot and rhyme—
why are they no help to me now
I want to make
something imagined, not recalled?
I hear the noise of my own voice:
The painter’s vision is not a lens,
it trembles to caress the light.
But sometimes everything I write
with the threadbare art of my eye
seems a snapshot,
lurid, rapid, garish, grouped,
heightened from life,
yet paralyzed by fact.
All’s misalliance.
Yet why not say what happened?
Pray for the grace of accuracy
Vermeer gave to the sun’s illumination
stealing like the tide across a map
to his girl solid with yearning.
We are poor passing facts,
warned by that to give
each figure in the photograph
his living name.

1 Kommentar:

  1. Ich bin wohl der falscheste, der hier kommentieren sollte, dennochh, meine aufrichtige Anteilnahme!

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