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Donnerstag, 8. September 2011

Hecken


Die vier Bänke auf den vier Ecken der roten Schanze hatten alle ein schattig Gebüsch hinter sich, und man konnte sich wohl auf ihnen in die Lust der Jugend: unter der Hecke zu liegen zurückträumen...
Wie du gleichfalls bemerkst, Eduard, bin ich auch hier immer unter der Hecke geblieben....Für dich armen, zerzausten Spatz ließ mich die Weltentwicklung unter der Hecke in der Sonne liegen und auf der Studentenbude im Schatten und Tabaksgewölk.  (Stopfkuchen)

Es war eigentlich gar kein einzelner Baum, sondern ein Bündel dick- und hochstämmigen Gebüsches, das der liebe Gott aus einem halben Dutzend Kernen zu unserem Vergnügen auf einer Bodenerhöhung an der Hecke zu außergewöhnlicher Höhe und Pracht hatte aufschießen und sich ineinander weitästig verwirren lassen. In weit entlegene, uns ganz und gar vorgeschichtliche Zeit war das Aufsprießen gefallen, aber der Gipfel der Verwirrung nur allein für uns, wie wir glaubten, in die unserige, und das war das Schöne. Die Vorsehung hatte es auch in diesem Falle gewußt, was alles in dem Keime lag, den sie hier in seiner Hülse auf den Boden fallen ließ, den sie erst mit gelben Blättern, dann mit trefflicher Gartenerde bedeckte und ungestört Wurzeln nach unten in die Dunkelheit und zwei zarte grüne Blättchen nach oben in das Licht, in die Sonne treiben ließ! Der Mensch denkt nie daran, wenn er im großen Walde geht, was alles in zwei solchen grünen Keimblättchen zu seinen Füßen für ihn und seine Art auseinanderklappt. Wo bliebe aber auch das Spazierengehen, wenn dem so wäre? Es würden manche dafür danken, und unter diesen ich zuerst. Zu Hause, innerhalb seiner vier Wände, unter alledem, was man sich selber allgemach zusammengetragen hat, würde es bei weitem behaglicher sein als draußen im Freien.

Es war natürlich Ewald Sixtus gewesen, der zuerst herausgefunden hatte, wozu dieses Baumgebüsch gut sei. Er hatte die Leiterstufen gezimmert, die an dem knorrigen Hauptstamm in die Höhe führten bis zu der ersten Gabelung, von wo dann Irenes Ruhe, Evas Höhe, Friedrichs Lust und Ewalds Heim mit mehr oder weniger Beschwerlichkeit und Gefahr des Hals-, Arm- und Beinbrechens zu erreichen waren. Die »Ruhe« und das »Heim« hingen selbstverständlich im schwanksten und luftigsten Gezweig; Evas Höhe saß ebenso selbstverständlich am tiefsten und sichersten, und ich – ich wäre mit und zu meiner Lust am liebsten unten am Baum auf festem Erdhoden geblieben; aber hinauf mußte ich wie die anderen, und wenn ich einmal oben saß, so gab es freilich auch für mich keinen besseren Platz im Himmel und auf Erden als diesen zwischen Himmel und Erde. (Alte Nester)


Von diesem Felsen herab stürzte sich früher der lustige Bach auf das Rad, aber, wie gesagt, die großen neuen Fabriken droben im Lande hatten längst den Hauptfluß des Wassers für sich in Anspruch genommen und dem demütigen Schwesterchen in der Tiefe nur grade soviel davon gelassen, als nötig war, um rund um das alte Gemäuer, Gestein und Gebälk und das zerbrochene Radwerk eine Vegetation hervorzubringen und zu erhalten, wie kein Maler sie sich anmutiger, üppiger, frischer und grauer vorstellen konnte, Ein wildes Gärtchen zog sich vor dem Hause her, und es war kaum zu erkennen, wo die lebendige Hecke in das Gebüsch des Waldes überging. Wilde und edle Rosen hatten sich ineinander verflochten, Zaunwinden und Jelängerjelieber ebenso unzertrennlich ineinander verschlungen. Über das Dach der Mühle hatte sich der Efeu in einer Weise gelegt, daß eine wahre Merkwürdigkeit daraus geworden war. Wie es um den Speichen und Schaufeln des alten schwarzen Rades blühte und grünte, läßt sich kaum beschreiben. Es war ein Wunder, daß die Fenster des Hauses nicht aus Bonbontafeln bestanden, und kein Wunder war's, wenn Leonhard Hagebucher vor Überraschung stehenblieb und rief: »Das ist die Katzenmühle?! O was ist aus der geworden? Der Anblick würde einem in den Hundstagen unterm Äquator Kühlung geben, o das ist schön!«

Er sah Nikola von Einstein in der Fensterbrüstung sitzen, wie sie mit den Blüten und grünen Zweigen, welche in das Fenster lugten, spielte; er sah sie auf dem weißen Pferde gleich einer Jägerin aus »Tristan und Isolde«, wie sie über die Hecke winkte, ehe sie im Walde verschwand. Auch ihre Stimme und ihr Lachen erfüllten die Nacht und sein Herz; – sein Weg führte ihn sanft ansteigend aus der Tiefe in die Höhe, und nun stand er, immer noch zwischen den Ährenfeldern, neben einem alten, morschen, sehr überflüssigen Wegweiser und blickte zurück und rief, was er schon einmal am Zaun des Bumsdorfer Gutsgartens ausgesprochen hatte: »Bei Gott, es ist doch schön im Vaterlande.

Er meint, unsere gesellschaftlichen Verpflichtungen würden sich leicht um ein bedeutendes verringern lassen: man habe gewiß das Seinige getan, um andern das Dasein angenehm zu machen, und man könne nunmehr mit gutem Gewissen eine Rosenhecke, aber immer eine Hecke, um sein eigenes Behagen ziehen. Einverstanden! Er mag das alles so einrichten, wenn es wirklich seine Absicht ist; ich verlange weiter nichts, als so oft wie möglich eine Tasse Tee mit Dir, Emma, hinter jener Hecke trinken zu dürfen, und verpflichte mich jedenfalls, der Welt kein außergewöhnliches Ärgernis zu geben

Aber es war auch nicht ganz meine Schuld, Fräulein Nikola! Erinnern Sie sich noch jener Mondscheinnacht an der Hecke von Ihres Oheims Garten? Sie guckten über die Hecke und riefen mich an in meiner Verwirrung; was kann ich für den Zauber, der in jener Nacht war? (Abu Telfan)


Drei Romane von Wilhelm Raabe und nichts wie Hecken. Man könnte die Beispiele beliebig verlängern. Wilhelm Raabe wurde heute vor 180 Jahren geboren, er ist in diesem Blog ja schon mehrfach vorgekommen. Ich mag ihn, auch wenn ich große Teile seines Werkes erst vor wenigen Jahren richtig gelesen habe. Aber auch wenn ich schon manches über ihn gesagt habe, ein solches Jubiläum kann ich nicht auslassen. Was also über ihn schreiben?

Ich konnte nicht im Regal nach Sekundärliteratur gucken, denn ich habe keine Bücher über Wilhelm Raabe. Über alle möglichen deutschen Autoren habe ich massenhaft Sekundärliteratur, nur nicht zu Raabe. Das ist sicher eine bewusste Entscheidung eines Lesers, der spät zu Raabe gekommen ist: ich misstraue dem Geschwätz der Germanisten immer mehr. Ich wollte natürlich etwas Originelles schreiben, das will ich jeden Tag. Manchmal gelingt es mir ja auch. Und da fielen mir die Hecken ein. Als ich im letzten Jahr Die Akten des Vogelsangs las, war mir aufgefallen, wie häufig Gebüsch und Hecke darin vorkommen (eigentlich war mir das schon bei der Lektüre von Alte Nester aufgefallen). Im ersten Kapitel allein einunddreißig Mal eine Hecke. Die vielen Hecken in Stopfkuchen, von denen da oben drei erwähnt sind, will ich jetzt lieber gar nicht zählen. Und so habe ich mir mal eben bei Zeno ein par Hecken zusammengesucht. Das ist ja jetzt eine tolle Sache, früher brauchte man dafür wochenlange Lektüre und einen großen Zettelkasten. Wenn man das Verfahren geschickt verwendet - und dies ist ein kostenfreier Hinweis für die Guttenbergs dieser Welt - kann man damit große Belesenheit vortäuschen.

Häufig ist ein Loch in der Hecke, wie zum Beispiel in Pfisters Mühle: Wir verließen den Mühlgarten nunmehr durch ein mir seit meinen frühesten Lebensjahren wohlbekanntes Loch in der Hecke und wanderten am Uferröhricht über feuchtes Wiesen- und holperichtes Ackerland den Fluß aufwärts. Oder in den Roman Im alten Eisen: ... er hat Herr Uhusen geheißen und hat in einem gradeso kleinen Hause und Garten nebenan gewohnt, und es ist nur die grüne Hecke zwischen ihnen gewesen.«»O ja! voll Käfer, goldene, grüne, rote und bunte, und bunte Schmetterlinge –« »Und mit einem Loch in ihr, wo man hat durchkriechen können, wenn man nicht herüberspringen wollte, wie der Mama bester Freund, des Großpapas besten Freunds sein Junge – so einer wie ich, wenn ich es mir fest vornehme und nicht lüge und nicht – stehle und nicht bettle und – mich – nicht – fürchte...

Oder, um noch ein Beispiel zu geben, in Alte Nester: Warten Sie, ich kenne zehn Schritte weiter abwärts ein Loch in der Hecke – komm, Lina. Das schöne Haupt der Sprecherin tauchte unter, zwei Sprünge brachten den Afrikaner zu dem besagten Loch; es rauschte im Gebüsch, ein schlaftrunkenes Vogelpärchen flatterte, aus dem schönsten Traum der Sommernacht geweckt, auf; mit dem Schwesterchen wand sich Fräulein Nikola von Einstein durch das Gezweig. Die Raabeschen Romanfiguren, diese seltsamen aus der Bahn geworfenen Charaktere die hinter der Hecke liegen gelassen worden sind, kennen ihre Hecken genau. Und sie erinnern sich gerne an die guten Stunden unter den Hecken. Sie können weit weg in der Welt gewesen sein, am Mondgebirge in Afrika oder in Berlin, sie finden immer wieder nach Hause. Und finden immer wieder die Hecke und das Loch darin. Oder sie finden irgendwo in der Welt einen Platz, um sich in die Lust der Jugend: unter der Hecke zu liegen zurückträumen. In die Welt der grünen Hecken seiner Kinderheimat.

Überall, in so vielen Romanen, ist dieses Sehnen nach der letzten grünen Hecke unserer Jugendzeit. Aber die Hecken (und die Erinnerung an die Jugend) sind bedroht, das weiß Wilhelm Raabe. Immer wieder dringt die so genannte Zivilisation in die Natur ein, ob in Pfisters Mühle oder in Die Akten des VogelsangsAuch Gärten, die aneinandergrenzten und ihre Obstbaumzweige einander zureichten und ihre Zwetschen, Kirschen, Pflaumen, Äpfel und Birnen über lebendige Hecken weg nachbarschaftlich austeilten, gab es da noch zu unserer Zeit, als die Stadt noch nicht das »erste Hunderttausend« überschritten hatte und wir, Helene Trotzendorff, Velten Andres und Karl Krumhardt, Nachbarkinder im Vogelsang unter dem Osterberge waren. Bauschutt, Fabrikaschenwege, Kanalisationsarbeiten und dergleichen gab es auch noch nicht zu unserer Zeit in der Vorstadt, genannt »Zum Vogelsang«. Die Vögel hatten dort wirklich noch nicht ihr Recht verloren, der Erde Loblied zu singen; sie brauchten noch nicht ihre Baupläne dem Stadtbauamt zur Begutachtung vorzulegen. Wir hatten von ihren Nestern unsere Hecken, Büsche und Bäume voll und unsere Freude dran. 

Ein Mensch, den seine Zeitgenossen unter der Hecke liegenlassen, der sucht sich eben einsam sein eigenes Vergnügen und läßt den andern das ihrige, sagt Heinrich Schaumann im Stopfkuchen. Wahrscheinlich redet Wilhelm Raabe hier über sich selbst.

Die Bilder im Text sind von Wilhelm Busch, Thomas Herbst, Wilhelm Busch, einer unbekannten Malerin aus dem Blog selfconscious.wordpress.com und Edgar Degas.

1 Kommentar:

  1. Lieber Jay -

    - vielen Dank für Ihre wunderbaren Raabe-Texte. Und dann auch noch Ihr Hecken- und Raabe-Post, den ich ohne Ihren Hinweis im Raabe-Artikel gar nicht gefunden hätte - und wie sehr freue ich mich ihrer nun! Ich schreibe das als einer, der sich - als Landschaftsfotograf - viel und schon lange mit Hecken und Büschen beschäftigt. Raabes Stopfkuchen ist glaube ich noch lange nicht ausgeschöpft. Brigitte Kronauer, über die Sie sonst gerne schimpfen, hat den in ihren "Favoriten" ganz einlässlich und kenntnisreich gewürdigt. Baßlers FAZ-Text über Raabe haben sie vor vier Wochen vielleicht gelesen, da waren Hinweise auf Raabe-Erzählungen, die ich (die Hinweise jetzt) ebenfalls gut fand. Der Schüdderump mit seinen Schopenhauer-Reminiszenzen ist ebenfalls ein interessanter Raabe-Roman.
    Die von Ihnen zitierte Literaturportal-Leserin erinnert mich in ihrer Ungeduld an Helmut Müller-Sievers im letzten MERKUR, der ex-Kathedra Raabe zum alten Eisen warf.
    Ich hab so mit dreißig eine Raabe-Phase gehabt, als er mir ein unglaublicher Trost war und ich für viele Monate in diesem Erzähl-Kosmos herumtrieb. Das ist schon eine Weile her, aber unvergessen. Dennoch fand ich Ihre Überlegung, man müsse vielleicht etwas älter sein, um Raabe mit Gewinn und gerne zu lesen, interessant.
    Tausend Dank und viele Grüße!

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