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Freitag, 9. September 2011

Shangri-La


Die Engländer haben ja ein Händchen für sentimental-kitschige Romane. Ich meine jetzt nicht Frau Pilcher, sondern Autoren einer älteren Generation. Mit solch schönen Romanen wie The Prisoner of Zenda, Under Two Flags, The Four Feathers, Lost Horizon oder Goodbye, Mr Chips. Die würden bei mir ganz oben auf der Liste stehen. Ich bekenne mich auch zu dieser Lektüre, ich liebe so ein Zeuch: All normal people need both classics and trash, hat G.B. Shaw gesagt. Von den fünf genannten Romanen sind zwei von dem selben Autor, von James Hilton. Der wurde heute vor 111 Jahren geboren. Er war Engländer, hat aber einen großen Teil seines Lebens in Hollywood verbracht, weil sich alles, was er schrieb, hervorragend für den Film eignete.

Und das waren nicht nur Romane wie Lost Horizon, Goodbye, Mr Chips oder Random Harvest. Das waren auch Drehbücher wie das zu ➱Mrs Miniver (1942). In Halliwell's Film Guide finden sich die Sätze: This is the rose-strewn English village, Hollywood variety, but when released it proved a beacon of morale despite its false sentiment, absurd rural types and melodramatic situations. It is therefore beyond criticism... Ein Propagandafilm gewiss, aber auch ein hervorragender Film. Weil da diese ganze sentimentale Englishness drin ist, die auch Goodbye, Mr Chips ausmacht, die noch aus den bürgerlichen upper middle class Idealen des viktorianischen Zeitalters zu kommen scheint.

Der Roman Lost Horizon, wie Goodbye, Mr Chips noch in England geschrieben, hat ganz konventionell eine Rahmenhandlung, in der drei Engländer (natürlich alle Oxford Absolventen) zusammensitzen. Es beginnt aber nicht irgendwo in dem synthetischen England, in dem Mrs Miniver wohnt, sondern auf dem Flughafen Berlin-Tempelhof, damals offenbar der Höhepunkt der Modernität: The evening, however, was far from dull. We had a good view of the big Lufthansa machines as they arrived at the aerodrome from all parts of Central Europe, and towards dusk, when arc flares were lighted, the scene took on a rich, theatrical brilliance. One of the planes was English, and its pilot, in full flying kit, strolled past our table and saluted Wyland, who did not at first recognize him. When he did so there were introductions all around, and the stranger was invited to join us. He was a pleasant, jolly youth named Sanders. Wyland made some apologetic remark about the difficulty of identifying people when they were all dressed up in Sibleys and flying helmets; at which Sanders laughed and answered: "Oh, rather, I know that well enough. Don't forget I was at Baskul." Wyland laughed also, but less spontaneously, and the conversation then took other directions.

Als in allen Trivialitäten geschulte Romanleser merken wir natürlich an dem less spontaneously des Botschaftssekretärs Wyland Tertius, dass mit dem Wort Baskul etwas Geheimnisvolles verbunden sein muss. Wir werden peu à peu mehr erfahren: ein verschwundenes Flugzeug irgendwo zwischen China und Tibet, ein verschwundener englischer Diplomat namens Conway, ein dunkles Geheimnis. Dieser Conway ist das, was die Engländer einen Renaissance man nennen, überlebensgroß - und doch bleibt er als Romanfigur erstaunlich farblos (wie übrigens alle Romanfiguren in diesem Roman).

Am Ende der Rahmenerzählung übergibt der Schriftsteller Rutherford unserem Ich-Erzähler ein Manuskript: He [Conway] told me something about it, and it would be absurd for me, after letting you know so much, to be secretive about the rest. Only, to begin with, it's a longish sort of tale, and there wouldn't be time even to outline it before you'd have to be off for your train. And besides, as it happens, there's a more convenient way. I'm a little diffident about revealing the tricks of my dishonorable calling, but the truth is, Conway's story, as I pondered over it afterwards, appealed to me enormously. I had begun by making simple notes after our various conversations on the ship, so that I shouldn't forget details; later, as certain aspects of the thing began to grip me, I had the urge to do more, to fashion the written and recollected fragments into a single narrative. By that I don't mean that I invented or altered anything. There was quite enough material in what he told me: he was a fluent talker and had a natural gift for communicating an atmosphere. Also, I suppose, I felt I was beginning to understand the man himself." He went to an attaché case, and took out a bundle of typed manuscript. "Well, here it is, anyhow, and you can make what you like of it. Und so fängt dann die Geschichte von Shangri-La an.

Ich weiß nicht, wie viele Hotels es heute auf der Welt gibt, die Shangri-La heißen. Aber vor dem Jahre 1933 gab es bestimmt noch keins, weil James Hilton Shangri-La erfunden hat. In beinahe allen literarischen Utopien kommt ein Schiff vom Kurs ab, und man entdeckt eine neue Welt. In diesem Roman, der auf dem Flughafen Tempelhof anfängt, ist es ein Flugzeug, das vom Kurs abkommt. Aber warum soll ich mehr von der Handlung verraten? Frank Capra hat den Roman mit erheblichen Änderungen drei Jahre später verfilmt. Es gibt zweifellos bessere Filme von Capra, aber wenn man Fantasy Filme mag, muss man ihn natürlich gesehen haben. Ronald Coleman spielt hier den typischen Engländer, das macht er ja immer perfekt. Er spielt übrigens in drei der fünf Romanverfilmungen der in den ersten Zeilen genannten Titel den perfekten Engländer.

Man kann den Roman, der wohl das erste Taschenbuch der englischen Verlagsgeschichte war, heute noch kaufen. Man kann ihn auch beim ➱Project Gutenberg Australia lesen, die ein Dutzend Titel im Angebot haben. Durch eine seltsame Fügung des Zufalls kommt James Hilton in der Autorenliste von Project Gutenberg Australia vor einem Autor namens Adolf Hitler. Der wird in Lost Horizon nicht erwähnt (in Goodbye, Mr Chips schon), hier gibt es nur Positives über die Deutschen: die big Lufthansa machines, ein deutscher Entdecker im 19. Jahrhundert mit dem sprechenden Namen Meister und ein weltberühmter Pianist namens Sieveking (hinter dem wir wohl Walter Gieseking vermuten dürfen). Dem spielt Conway während einer Schiffsreise ein unbekanntes Stück von Chopin vor, das er in Shangri-La gehört hat.

Wenn ein Roman, der dem Leser eine Weltflucht zu einem geheimnisvollen Ort namens Shangri-La anbietet, im Jahre 1933 erscheint, sind Erfolg und Bestsellerstatus des Romans leicht vorhersagbar. Das gilt für die Verfilmung von 1937 von Frank Capra erst recht:  It is no accident that Frank Capra, supreme interpreter of the populist mood of the thirties, should have filmed 'Lost Horizon' nor that Hilton himself should have contributed to the screenplay of 'Mrs Miniver'. For they are part of the same trend. During the thirties, they are Hollywood's key to open a door through which an anxious audience may escape into a reassuringly idealized dream world, sagt Jeffrey Richards in Visions of Yesterday.

Der Roman hat ein wenig von Conan Doyles The Lost World und einem Manifest des allgemeinen Pazifismus und des guten Willens an sich. Aber irgendwann ist auch das verworrene Gutmenschentum und das beinahe ewige Leben für einen überlebensgroß gezeichneten Abenteurer wie Conway zu viel:  And he knew, too, that his mind dwelt in a world of its own, Shangri-La in microcosm, and that this world also was in peril. For even as he nerved himself, he saw the corridors of his imagination twist and strain under impact; the pavilions were toppling; all was about to be in ruins. He was only partly unhappy, but he was infinitely and rather sadly perplexed. He did not know whether he had been mad and was now sane, or had been sane for a time and was now mad again.

Er verlässt Shangri-La, weil er sich da irgendwie so fühlt wie in einem RTL Dschungelcamp. Man kann das Gute auf Dauer nicht ertragen, oder die Leute, mit denen man zusammen sein muss. Vielleicht kann er auch die modernistische Architektur nicht ertragen. Das hier ist nicht aus dem Film Lost Horizon, das ist das Harry Huffman Mansion, 1938 von Raymond Harry Ervin in Denver gebaut. Eine Mischung aus Art Deco und Depression Modern (wie Martin Greif diesen Stil genannt hat), eine elegante ➱Kopie des Hauses aus dem Film. Das ist natürlich auch eine Möglichkeit, mitten in der Great Depression sein Shangri-La zu finden: man baut sich einfach die Filmkulisse nach.

Wenn Conway den Fesseln von Shangri-La (so der deutsche Verleihtitel des Films) entkommen ist, erzählt er dem Schriftsteller Rutherford während der Schiffsreise die Geschichte von Shangri-La. Das ist die Reise, auf der er Sieveking das unbekannte Chopin-Stück vorspielt. Das er in der Mitte des Himalayas von der schönen Lo-Tsen gespielt hörte (Conway kann sich nicht nur mit Sieveking auf Deutsch unterhalten und ein halbes Dutzend anderer Sprachen sprechen, der hat auch das absolute Gehör). Die schöne Prinzessin Lo-Tsen ist nur dafür da, um schön zu sein und Klavier zu spielen. Sie sagt im Roman kein einziges Wort. Conway nodded, and thought a little tenderly of Lo-Tsen. He pictured her as she might have been half a century before, statuesque in her decorated chair as the carriers toiled over the plateau, her eyes searching the windswept horizons that must have seemed so harsh after the gardens and lotus pools of the East. "Poor child!" he said, thinking of such elegance held captive over the years. Knowledge of her past increased rather than lessened his content with her stillness and silence; she was like a lovely cold vase, unadorned save by an escaping ray. Warum fällt mir da nur der Satz no sex, please. we're British ein?

Die junge Frau, die im Roman kein einziges Wort sagen darf, ist - wie Conway irgendwann klar wird - nicht mehr jung, sie ist schon seit einem halben Jahrhundert in Shangri-La. Das sind so Konstellationen, an denen Edgar Allan Poe seine Freude gehabt hätte. Erinnern Sie sich noch an die Szene in The Fall of the House of Usher:

   Have I not heard her footsteps on the stair? Do I not distinguish that heavy and horrible beating of her heart? Madman!" — here he sprung violently to his feet, and shrieked out his syllables, as if in the effort he were giving up his soul — "Madman! I tell you that she now stands without the door!" 
   As if in the superhuman energy of his utterance there had been found the potency of a spell — the huge antique panels to which the speaker pointed, threw slowly back, upon the instant, their ponderous and ebony jaws. It was the work of the rushing gust — but then without those doors there did stand the lofty and enshrouded figure of the lady Madeline of Usher. There was blood upon her white robes, and the evidence of some bitter struggle upon every portion of her emaciated frame. For a moment she remained trembling and reeling to and fro upon the threshold — then, with a low moaning cry, fell heavily inward upon the person of her brother, and in her horrible and now final death-agonies, bore him to the floor a corpse, and a victim to the terrors he had dreaded.
   From that chamber, and from that mansion, I fled aghast.

Also, ganz so ist das in Lost Horizon doch nicht, obgleich der Film da so etwas Ähnliches konstruiert. Und irgendwann will unser Übermensch Conway doch wieder zurück nach Shangri-La. Cherchez la femme oder Zivilisationsmüdigkeit, ich weiß es nicht. Falls Sie jetzt nach Shangri-La wollen, nehmen Sie das Hotel in Paris. Und fragen Sie nicht nach einer schönen Mandschu-Prinzessin namens Lo-Tsen. Das würde nur Dominique Strauss-Kahn tun.

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