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Dienstag, 28. August 2012

Augustinus


Augustinus (der am 28. August des Jahres 430 starb) ist in den Philosophievorlesungen, die ich in meinem Studium hörte, nicht vorgekommen. Alle meine Lieblinge, Montaigne, Kierkegaard und Schopenhauer übrigens auch nicht. In den Lehrveranstaltungen der Kunstgeschichte und der Literaturwissenschaft kam irgendwie mehr Philosophie vor als bei den Philosophen. Ich gewann den Eindruck, dass die venia legendi im Fach Philosophie den Professor in den Stand versetzte, für den Rest des Beamtenlebens seinen philosophischen Hobbies (oder dem Segelsport) nachzugehen. Auf jeden Fall schienen sie Voltaires Il faut cultiver notre jardin als Maxime zu haben.

Eigentlich hatte ich mir von dem Fach Philosophie erhofft, dass es einen systematischen Überblick über die Geschichte der Philosophie vermittelte, aber das war wohl zu viel verlangt. Allerdings studierte ich zu einer Zeit, als Karl Marx auf der Straße gerade zu dem wichtigsten deutschen Philosophen erklärt worden war, und es (deshalb?) an der Universität ein Überangebot an Hegel gab. Sehr hinderlich beim Studium war auch die Tatsache, dass die meisten Dozenten vielleicht irgendwelche philosophischen Qualitäten besitzen mochten, ihre pädagogischen Fähigkeiten bei der Wissensvermittlung aber gegen Null tendierten. Was bei den alten Griechen der Dialog gewesen war, war hier zum Monolog verkommen. Der auch noch von schlechten Schauspielern dargeboten wurde, die von Zeit zu Zeit auf ungereinigten Tafeln mit krakeligen Zeichnungen zu verdeutlichen suchten, was die Welt im Innersten zusammenhält.

Meinem Studium der ➱Kunstgeschichte verdanke ich sehr viel, meinem Studium der Philosophie verdanke ich eigentlich gar nichts. Allgemeine Weisheiten und philosophische Plattitüden vermittelten einem ja auch Taxifahrer und Kneipiers, die meist auf ein abgebrochenes Philosophiestudium zurückblicken konnten. In einem Lokal unten an der Küste im Rotlichtbezirk gab es einen Rausschmeißer, der perfekt im Altgriechischen war und Nietzsche verehrte. Heute kriegt man mit einem Studium der Philosophie mit Magisterabschluß oder im Nebenfach viel Sendezeit beim Fernsehen eingeräumt, wie man an ➱Thea Dorn oder ➱Richard David Precht sehen kann.

Aber wenn die Verhältnisse an der Universität auch nicht so waren, dass man ohne ἀπορία ein Freund der Weisheit werden konnte, habe ich doch niemals aufgehört, die Schriften von Philosophen zu lesen. Das haben mir die staatlich alimentierten Universitätsphilosophen nicht austreiben können. Eigentlich war die Situation ja auch sehr schön - je magerer das Lehrangebot war, desto mehr gab es für einen selbst zu entdecken. Und die Philosophen standen mit ihren Hauptwerken auf dieser Liste des St John's College, die ➱Fred M. Hechinger in seinem Artikel über die Lage der amerikanischen Universitäten im Heft 16 der Zeitschrift ➱Perspektiven zitierte. Die Liste der Great Books war mir zu einer Richtschnur geworden - ich habe mit einer gewissen Rührung festgestellt, dass es sie immer noch gibt. Man kann sie ➱hier im Internet lesen. Sie ist nach einem halben Jahrhundert ein wenig abgemagert worden, von Augustinus stehen nur noch die Bekenntnisse auf der Liste, De civitate Dei ist gestrichen. Ich möchte jetzt diese Liste, die zu einem Programm der Allgemeinbildung des St John's Colleges gehört, ungern in Kontrast zu einem Bologna-Studiengang setzen. Mit einem schönen Gruß an Frau Schavan möchte ich aber den Spruch If you think education is expensive, try ignorance zitieren.

Augustinus war ganz und gar meine eigene Entdeckung, als mir die von William Watts übersetzten Confessions in der Reihe der Loeb Classical Library in die Hände fielen. Handliches Format, außen quietscherot, innen links Latein, rechts Englisch. Der Millionär James Loeb hatte der Harvard Universität eine schöne Summe gestiftet, damit diese Klassikerreihe gegründet werden konnte. Man hat ja nicht so häufig Bankiers, die Altphilologen sind. Als er sich aus dem Geschäft zurückzog, ist er nach München gezogen. Wo er zuerst in der ➱Rumfordstraße wohnte, etwas anderes geht für Deutschamerikaner ja nicht.

Ich habe Augustinus vor einiger Zeit neu entdeckt. Weil ich im Antiquariat ➱Eschenburg für sieben Euro fünfzig den Band Augustinus aus der Reihe Philosophie Jetzt! kaufte. Ausgewählt und vorgestellt von Kurt Flasch (links). Die 20-bändige Reihe Philosophie Jetzt!, die von Peter Sloterdijk herausgegeben wird, ersetzt ja ein ganzes Philosophiestudium. Es gibt Bildungshilfe allerorten, die Liste der Great Books des St John's College, die Loeb Classical Library, die Reihe Philosophie Jetzt! Und natürlich Kurt Flasch. Der hat gerade den hoch dotierten und hoch angesehenen Joseph Breitbach Preis bekommen, seit seiner Emeritierung im Jahre 1995 scheint er nur noch Preise zu bekommen. Er bekommt offensichtlich auch viel Kritik, wie ich diesem ➱Video bei YouTube und den Kommentaren entnehmen kann. Ein Teil der Kritik richtet sich gegen seine Übersetzung von Dantes Göttlicher Komödie. Dazu kann ich nix sagen, weil ich nur die schöne alte Ausgabe des Atlantis Verlags mit der Übersetzung von Karl Vossler besitze. Auf einem etwas höheren Niveau als dem YouTube Video ist Kurt Flasch von dem Philosophen Vittorio Hösle angegriffen worden. Den nannte man früher einmal den Boris Becker der Philosophie, aber ich glaube, ich lasse das mal weg. Flasch kann sich selbst wehren, die Polemik gehört bei ihm zum Repertoire. Glücklicherweise haben seine intellektuellen Fähigkeiten im Alter nicht nachgelassen.

1958 war der Band Augustinus in Rowohlts verdienstvoller Reihe rowohlts monographien von Henri Marrou verfasst, das war damals sicherlich das state-of-the-art Buch. Ein halbes Jahrhundert später geht nichts mehr ohne Kurt Flasch. Denn wenn heute jemand in der Lage ist, das philosophische Denken im Mittelalter zu vermitteln, dann ist das Flasch. Nicht nur, weil Das philosophische Denken im Mittelalter der Titel eines seiner Bücher ist (bei Reclam erschienen, 807 Seiten stark). Dies Buch aus dem Jahre 1986 ist 2000 in überarbeiteter Fassung neu aufgelegt worden ist, war einige Zeit ausverkauft, ist jetzt aber wieder lieferbar. Ein Rezensent hatte das Buch bei seinem Erscheinen als quellennah, frisch und unprofessoral beschrieben. Das Zitat hat Flasch im Vorwort zur zweiten Auflage mit Dank wieder aufgenommen, denn das wollte er, frisch und unprofessoral sein. Eine verständliche Geschichte der Philosophie von Augustinus bis Machiavelli schreiben. Nicht nur theoretische Schriften referieren, sondern zeigen, was eine philosophische Schrift in ihrer Zeit bedeutet, und wie eine bestimmte Epoche mit ihren sozialen Gegebenheiten in eine Philosophie eindringt. Wenn man so will, ist es auch eine Sozialgeschichte der mittelalterlichen Philosophie (hier spürt man die Einflüsse der französischen Annales Schule). Und das alles, bei aller Gelehrsamkeit des Autors, in einer klaren, verständlichen Sprache. Ohne philosophisches Gewese und theoretische Verquastheit. Als das, was unser sogenanntes Abendland ausmacht, in Entwicklungslinien, von der Antike bis zur Renaissance. Wobei Flasch einer der wenigen ist, der auch dem Morgenland Gerechtigkeit widerfahren lässt, das hat er auch in ➱Interviews immer wieder betont. Es gibt keinen direkten Weg von den alten Griechen zu uns, die arabischen Gelehrten sind dazwischen. Seien wir ihnen dankbar.

Als eine Art Komplementärband zu dem Buch gab es bei Reclam, wiederum von Flasch herausgegeben, einen Band in der Reihe Interpretationen: Hauptwerke der Philosophie Mittelalter. Hier interpretiert Flasch Augustinus' Hauptwerk De civitate Dei, und er macht das in seiner unnachahmlichen Art. Klar und verständlich, frisch und unprofessoral. Wobei er erst einmal mit all den Vorurteilen gegen die Schrift von Augustinus aufräumt, wie zum Beispiel der Behauptung, dass sie ein Manifest der päpstlichen Weltherrschaft sei. Denn natürlich ist in anderthalbtausend Jahren viel in das Werk des algerischen Bischofs hinein interpretiert worden, was so bei ihm nicht steht. Wie die angebliche Rechtfertigung eines gerechten Krieges.

Der Augustinus von Kurt Flasch ist ein anderer als der Augustinus des jetzigen Papstes. Und natürlich ein anderer, als der, den uns ➱Karlheinz Deschner präsentiert. Es gibt bei Reclam noch einen weiteren Band von Kurt Flasch, der Augustin: Einführung in sein Denken heißt und auch über 500 Seiten stark ist. Flasch sagt da in seinem Vorwort, dass er die Textarbeit und Diskussion von Argumenten suche und erbauliche Sprüche, christlich-existentialistische Besinnlichkeit und theologische Belletristik vermeiden wolle. Ach, hätte das doch zu meinen Studentenzeiten ein Philosophieprofessor einmal laut gesagt!

Im großen Supermarkt der Geistesgeschichte können wir heute ans Regal gehen und einen Band der Werke von Augustinus herausnehmen. Tolle lege, nimm und lies. Wir brauchen dazu keine Stimme zu hören, die bei Augustinus angeblich die Bekehrung bewirkt hat. Wir können das Buch in unseren Einkaufskorb tun, es beobachtet uns kein Warenhausdetektiv des Vatikans. Wir gehen zur Kasse, es fragt uns niemand nach unserer Religionszugehörigkeit. Die Confessiones, herausgegeben und kommentiert von ➱Kurt Flasch und Burkhard Mojsisch (mit einer Einleitung von Kurt Flasch) kosten 14,80 €. Lesen müssen wir es selbst. Wir dürfen dabei unsere Zweifel haben, ob dies wirklich alles so gewesen ist, die Confessions von Rousseau sind auch eher schöne Literatur als die Wahrheit. Augustinus' Confessiones sind eine Erzählung, und Erzähler sind nicht immer zuverlässig, credituri tamen volunt, numquid cognituri? dicit enim eis caritas, qua boni sunt, non mentiri me de me confitentem, et ipsa in eis credit mihi. Wir glauben ihm das mal. Noli foras ire, in te ipsum redi, in interiore homine habitat veritas.

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