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Freitag, 23. November 2012

Claude Lorrain


Claude Lorrain (spr. Klohd Lorräng, eigentlich Gelée) beginnt der Pierer von 1845 seinen Lexikonartikel. Gut, dass wir jetzt wissen, wie man ihn ausspricht. Claude Lorrain ist heute vor 330 Jahren gestorben, Grund genug, um wieder einmal über ihn zu schreiben. Als Pastetenbäcker soll er begonnen haben, dann ist er Gehilfe bei Malern in Rom geworden, durfte die Farben anreiben. Wir wissen nicht so viel über seine Jugend, wir können uns nur auf zwei Quellen stützen. Die eine ist der berühmte Joachim von Sandrart, der in seinen Jahren in Rom der Nachbar von Claude gewesen ist, und der Claude in seiner ➯Teutschen Academie würdigt. Die zweite Quelle ist der Italiener Filipino Baldinucci, der zu dem Maler etwas mehr zu sagen hat als Sandrart (der nur sechs Jahre in Rom war). Wir besitzen nur eine Handvoll Briefe von Claude Lorrain, im Gegensatz zu seinem Kollegen Nicolas Poussin war er kein großer Briefschreiber. Er hat sich auch nicht wie ➯Poussin an der kunsttheoretischen Diskussion der Zeit beteiligt.

Aber wir besitzen von Claudes Hand ein Buch (genau genommen sind es sechs Bücher), das den Namen ➯Liber Veritatis bekommen hat: ein Skizzenbuch mit einer Bestandsaufnahme seines Werkes. Wenn man so will, ist es der erste Katalog seines Schaffens ab 1635. Dies Bild hier ist nicht aus dem Originalband, sondern aus einem der zahlreichen Reprints des Werkes. Heutige Kataloge sind ein wenig umfangreicher als das Liber Veritatis. Der Schweizer Kunsthistoriker Marcel Roethlisberger hat in vier voluminösen Bänden das Werk von Claude Lorrain katalogisiert; zum einen mit The Paintings (Yale University Press 1961) und sieben Jahre später The Drawings (University of California Press 1968). Beide Kataloge bestehen aus einem kritischen Katalog und einem Bildband. Ich weiß leider nicht, wie gut die Qualität der Abbildungen in The Paintings in der Originalausgabe sind, da ich nur den Nachdruck von Hacker Art Books 1979 habe, wo die Abbildungsqualität (nur Schwarz-Weiß) eine mickrige Photokopiequalität erreicht. Wahrscheinlich waren die beiden Bände damals deshalb billiger.

Ich habe vor einem Jahr an der etwas kläglichen Lage der Literatur  zu dem Maler herumgemäkelt (der Post ➯Claude lohnt wahrscheinlich immer noch die Lektüre). Das kann ich heute nur wiederholen. Und meine Literaturempfehlungen sind auch sehr kurz: wenn Sie antiquarisch ein Exemplar von Helen Langdons Claude Lorrain (1989 bei Phaidon erschienen) finden, kaufen Sie es. Die Schwester von Margaret Drabble und A.S. Byatt gibt einen sehr guten Überblick über Claudes Werk (und man kann das Buch z.B. beim ZVAB noch verhältnismäßig preiswert erhalten). Ansonsten ist natürlich der neue Katalog vom Ashmolean Museum und dem Frankfurter Städel (Claude Lorrain: Die verzauberte Landschaft von Martin Sonnabend, Jon Whiteley und Christian Rümelin) der state-of-the-art Katalog.

Das Buch, das ich am besten finde, ist der von H. Diane Russell herausgegebene Ausstellungskatalog der National Gallery of Art. Die Washingtoner Ausstellung ist danach in Paris gezeigt worden, Dr. Russell wurde in Amerika mit der Award of Merit of the American Association of Museums und der Alfred H. Barr Jr. Award of the College Art Association of America geehrt. Leider kann man diesen hervorragenden Katalog kaum noch finden, ich bin natürlich froh, dass ich ihn habe.

Während heute Claude Lorrain als der perfect painter darsteht - von Goethes Satz Im Claude Lorrain erklärt sich die Natur für ewig wollen wir gar nicht reden - ist sein Status nicht immer so unumstritten gewesen. Zu seinen Lebzeiten war er ein angesehener Maler, Päpste und Fürsten waren seine Auftraggeber. Für Joachim von Sandrart war Claudius Gilli der wichtigste Maler in Landschaften. Es ist vielleicht ganz informativ, Sandrart einmal im Original zu lesen. Sein Text ist nach einigen Jahrhunderten immer noch erstaunlich lebendig:

Die Landschaft-Mahler/ haben hierinn/ indem sie viel nach dem Leben gezeichnet/ sich wol-erfahren gemacht: maßen sie solcher Handriße sich nachmals überall bedienen können. Ich selbst thäte solches/ etliche Jahre lang. Endlich aber/ als mein nächster Nachbar und Hausgenoß zu Rom/ der berühmte Claudius Gilli, sonst Loraines genant/ immer mit ins Feld wolte/ um nach dem Leben zu zeichnen/ aber hierzu von der Natur gar nicht begunstet war/ hingegen zum Nachmahlen eine sonderbare Fähigkeit hatte: als haben wir ursach genommen/ (an statt des Zeichnens oder Tuschens mit schwarzer Kreide und dem Pensel) in offnem Feld/ zu Tivoli, Frescada, Subiaca, und anderer Orten/ auch al S. Benedetto, die Berge/ Grotten/ Thäler und Einöden/ die abscheuliche Wasserfälle der Tyber/ den Tempel der Sibylla, und dergleichen/ mit Farben/ auf gegründt Papier und Tücher völlig nach dem Leben auszumahlen. Dieses ist/ meines darfürhaltens/ die beste Manier/ dem Verstande die Warheit eigentlich einzudrucken: weil gleichsam dadurch Leib und Seele zusammen gebracht wird. In den Zeichnungen wird hingegen alzuweit zuruck gegangen/ da die wahre Gestalt der Sachen nimmermehr also pur eigentlich heraus kommet. Es ist auch besagter Claudius, wiewol langsam genug/ endlich in dem Landschaft-Mahlen/ gründen und coloriren/ so perfect worden und hoch gestiegen/ daß er wunder gethan/ und billich ein Antecessor und Ubertreffer aller der andern Noch andere fürtreffliche Landschaft-Mahlere.mag genennet werden. Von ihme/ wie auch von Adam Elzheimer/ Paulo Bril/ Fochier, Bothe, und andern Teutschen und Niederländischen fürtreflichen Landschaft-Mahlern/ wird im Andern Theil ein mehrers zu lesen seyn.

Im 18. Jahrhundert entdecken die Engländer die Landschaft und die Landschaftsmalerei (auch wenn es etwas länger dauert, bis sie mit Richard Wilson einen Landschaftsmaler haben). Und sie lassen sich, wenn sie vermögend genug sind, Landschaftsgärten anlegen. Die Engländer entdecken auch eine neue ästhetische Kategorie, die taste heißt - zuvor bedeutete der Geschmack nur das, was man schmecken konnte. Und wenn man taste hat, muss man auf seiner Grand Tour Italien besuchen. Was liegt näher, als dort einen Claude (die Engländer nennen den Maler von nun an beim Vornamen) zu kaufen? Scottish and English aristocrats on the 18th-century Grand Tour bought many of his works; a number in the Collection come from such sources, heißt es auf der Internetseite der National Gallery, die mehr als ein Dutzend Claudes besitzt. Die Königin hat etwas weniger als die Hälfte, das da oben ist einer davon. Aber man sollte nicht vergessen, dass neben den Gemälden noch sehr viele von Claudes Zeichnungen und Radierungen in der ➯Royal Collection sind.

Die Engländer haben glücklicherweise bei ihren Reisen ästhetische Wegführer wie Edmund Burke, der ihnen Kategorien wie sublime und beautiful beschert. Oder den Reverend William Gilpin, der den schönen Passepartout Begriff picturesque erfindet. Mit solchen Begriffen ausgestattet, reisen die Engländer jetzt überall hin. Wahrscheinlich nicht zum oberen Peneios, wo Mephistopheles fragt:

Sind Briten hier? Sie reisen sonst so viel,
Schlachtfeldern nachzuspüren, Wasserfällen,
Gestürzten Mauern, klassisch-dumpfen Stellen;
Das wäre hier für sie ein würdig Ziel.


Reverend Gilpin empfiehlt seinen Landsleuten auf der Suche nach dem picturesque, dass sie mit dem Zeichnen anfangen sollen. Eine um sich greifende Mode, die wenig später schon von ➯Thomas Rowlandson karikiert wird. Erstaunlicherweise sind für ➯William Gilpin die Zeichenkünste von Claude nicht so großartig: The etchings of Claude Lorrain are below his character. His execution is bad ; and there is a dirtiness in it, which displeases : his trees are heavy ; his lights seldom well-massed ; and his distances only sometimes observed. The truth is, Claude's talents lay upon his pallet; and he could do little without it. Glücklicherweise hat sich seine Meinung nicht durchgesetzt. In England sammelt man auch die Graphik von Claude. Wenn Sie einen Überblick über den Bestand von Claudes graphischem Werk in der englischen National Gallery haben wollen, dann klicken Sie ➯hier.

Gilpin ist nicht der einzige englische Meckerfritze. Zwar versichert uns William Hazlitt, dass Claude the perfect painter sei, und John Constable sekundiert mit the most perfect landscape painter the world ever saw. Aber das hat vor den Augen des viktorianischen Kunstpapstes ➯John Ruskin keinen Bestand. Für ihn hat ein Satz von Constable wie In Claude's landscape all is lovely, all amiable, all is amenity and repose—the calm sunshine of the heart. He carried landscape, indeed, to perfection, that is, human perfection keine Bedeutung, weil ein Maler wie ➯Constable für ihn nicht zählt: There was, perhaps, the making in Constable of a second or third-rate painter... But he is nothing more than an industrious and innocent amateur blundering his way to a superficial expression of one or two popular aspects of common nature.

Und an einer anderen Stelle schlägt er noch einmal auf Constable ein, wenn er über ihn (und den in Deutschland zu Unrecht unbekannten ➯David Cox) sagt: For instance, two landscape-painters of much reputation in England, and one of them in France also—David Cox and John Constable, represent a form of blunt and untrained faculty which in being very frank and simple, apparently powerful, and yet needing no thought or intelligence or trouble whatever to observe, therein meeting with instant sympathy from the disorderly public mind now resentful of every trammel and ignorant of every law - these two men, I say represent in their intensity the qualities adverse to all accurate science or skill in landscape art; their work being the mere blundering of clever peasants, and deserving no name whatever in any school of true practice. Das Bild oben ist übrigens kein Claude Lorrain, es ist eine ➯Kopie von John Constable.

Wie kann der von Constable bewunderte Claude vor den Augen dessen bestehen, auf den die viktorianische Kunstwelt blickt? Die Antwort ist natürlich: Gar nicht. Claude's capacities, were of the most limited kind; but he had tenderness of perception and sincerity of purpose, and he effected a revolution in art. Also das letztgesagte steht er ihm dann doch zu, aber er wird immer wieder an dem Mann mit den limited capacities herummäkeln. Zum Beispiel, dass der keine Berge malen kann: These mountains of Claude ... have the forms and colours of heaps of chalk, in a lime kiln not of Alps ... They are destitute of energy, of height, of splendour and variety, and are the work of a man who had neither feeling for nature nor knowledge of his art.

Wenn die Sonne der Kultur tief steht, werfen auch Zwerge lange Schatten. Ruskin ist der Beweis für diesen Satz. Die Viktorianer haben einen notorisch schlechten Geschmack, die glauben alles, was Ruskin ihnen über die Kunst erzählt. Und nur in diesem verlogenen Klima, das die größten Spinner als liebenswerte Exzentriker duldet und sexuelle Perversionen mit einem schönen double standard erträgt, kann jemand wie Ruskin gedeihen. Wenn jemand im Blog des Guardian schreibt Scorned for years as a crank, a reactionary, and a sexual deviant, could it be Ruskin's time again? dann will ich das crank, reactionary und sexual deviant gerne unterschreiben. Dass Ruskin eine neue Renaissance bekommt, hoffe ich nicht.

Für Ruskin gibt es nur einen Maler, und der heißt William Turner. Der übrigens den Einfluss von Claude nie geleugnet hat. Das Bild oben ist kein Claude, das ist ein von Claude Lorrain beeinflusster Turner. Als Turner der National Gallery seine Gemälde vermachte, hat er das unter der Bedingung getan, dass man sein Bild Dido Building Carthage (hier eine Skizze) neben den ➯Claude hängt, der ganz oben abgebildet ist. Die National Gallery hat in diesem Jahr mit der Ausstellung ➯Turner Inspired: In the Light of Claude den Einfluss von Claude auf Turner noch einmal deutlich gemacht (schauen Sie doch mal eben in dies ➯Video). Wie gut, dass Ruskin das nicht mehr zu sehen brauchte!

Noch mehr Claude hier: Claude, Ästhetik, Himmel, Richard Wilson, Reynolds, 18th century: Grand Tour, Gothick, Kreidefelsen, Richard Parkes Bonington, Johann Adam Ackermann, John Ruskin, Mein Stifter, Asher B. Durand, Thomas Moran, Luminism, Tänzer

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