Wie soll ich das heute nennen? Hundert Zeilen Hass? Ich weiß, dass ich Leser habe, die Ruskin mögen. Ich mag ihn nicht. Als ich noch jung war, hatte ich den festen Plan, alles von Ruskin zu lesen. Weil Proust ihn mochte. Heute steht beinahe alles in der zweiten Reihe des Bücherregals. Zumeist sind es die inzwischen ausgebleichten, lachsfarbenen alten Bände mit dem schönen Golddruck auf dem Buchrücken der Everyman Library, die kurz nach Ruskins Tod (er starb heute vor 112 Jahren) erschienen sind. Ein großer Teil des Werkes ist heute noch immer in der Everyman Library erhältlich.
Was ist von ihm geblieben? Er war Englands berühmtester Kunstkritiker zur Zeit der Königin Victoria. Aber das will nicht so furchtbar viel heißen, denn seien wir ehrlich: Wenn irgendeine Epoche einen sauschlechten Geschmack hat, dann ist es das Victorian Age. Ruskin verhilft den banausenhaften Kapitalisten, die ihr Geld mit der Ausbeutung der Arbeiter machen, zu einem ästhetischen ➱Überbau. Gleichzeitig möchte er aber auch noch ein Sozialreformer sein. Obwohl das Kind reicher Eltern (die ihn von dem Maler James Northcote malen ließen) das Elend der viktorianischen working class nicht wirklich kennt.
Ruskin hat Turner auf den Thron gehoben und John Constable abgewertet. Er hatte einen etwas seltsamen Geschmack, Claude Lorrain konnte er nicht ausstehen: These mountains of Claude ... have the forms and colours of heaps of chalk, in a lime kiln not of Alps ... They are destitute of energy, of height, of splendour and variety, and are the work of a man who had neither feeling for nature nor knowledge of his art. Er war ein Kämpfer für die Präraffaeliten und alle rückwärts gerichteten Kunstrichtungen wie das Gothic Revival. Er hatte zu allem etwas zu sagen (das macht ihn zu einer Fundgrube für zitierfähige Sentenzen), aber er besaß keine wirkliche akademische oder berufliche Ausbildung. Darwins Theorien hält er (wie viele seiner Zeitgenossen) für pernicious nonsense. Er hat den Maler ➱Whistler beleidigt, aber der Prozeß gegen Whistler (der einmal unterbrochen werden musste, weil Ruskin das Gehirnfieber hatte), ist für ihn ein Pyrrussieg. Seine Reputation als Kunstpapst ist endgültig beschädigt.
Auf dem Höhepunkt der Industrialisierung will Ruskin zurück zum Ideal des Handwerks und des Handwerkers. Den ➱Manufactum Katalog hätte er sicher begrüßt. Es ist nicht nur der Handwerker, den er verherrlicht, es ist der mittelalterliche Handwerker. In einer Zeit, als das Leben auf Gott zentriert ist - auf jeden Fall für Ruskin. Er tritt für die Neugotik ein, die eigentlich eine Gotik ohne Gott (so der Buchtitel von Alfred Kamphausen) ist. Er bringt seine Studenten in Oxford dazu, eine kleine Straße mit Blumenrabatten anzulegen. So kommt der junge Oscar Wilde - entrusted with Mr. Ruskin's especial wheelbarrow - zum ersten und einzigen Mal in seinem Leben dazu, eine Schubkarre zu schieben.
Ruskin hat einen extrem langen englischen (und einen sehr kurzen deutschen) Wikipedia-Artikel. Der deutsche erwähnt mit keinem Wort, dass er schwer manisch-depressiv war. Viele Jahre seines Lebens war er ein klinischer Fall. Aber in der Welt der Viktorianer, wo alle ein wenig spleenig sind, fällt das vielleicht nicht so auf. Doch wenn man sein ➱Brantwood Diary liest, bekommt man Mitleid mit diesem kranken Mann. Oder auch nicht. Krank in der Seele, bigott fromm, extrem moralisch und dann noch von zweifelhaften sexuellen Gelüsten beherrscht, das ist eine gefährliche Kombination. Er ist allerdings nicht der einzige der great Victorians, der ein wenig neben der Spur ist.
Ruskin schreibt nicht nur über Kunst, er ist auch selbst Künstler. Er ist ein begabter Zeichner und Aquarellist. Das alles ist gefällig, aber nicht wirklich aufregend. Er ist gut in seinen Architekturzeichnungen, ungeheuer penibel. Er kehrt einmal in ein Schweizer Bergdorf zurück, um ein angefangenes Bild zu Ende zu zeichnen. Zählt die Dachpfannen auf dem Dach, und zeichnet dann sorgfältig alle Dachpfannen auf das Dach. Turner hätte uns mit drei, vier Pinselstrichen die Impression eines Daches gegeben. Die drei ➱Farbtupfer, mit denen John Constable den kleinen Hund auf den gelben Sandweg zu Willy Lotts Haus setzt, das hätte Ruskin nie im Leben hingekriegt. Aber alle Schattierungsstufen an einem Felsen über einem schottischen Bergbach wiedergeben, das kann er.
Sein Gesamtwerk macht 38 Bände aus, aber ich glaube nicht, dass irgend jemand das freiwillig lesen wird. Um dem bildungsbürgerlichen Publikum wenigstens das Wichtigste von Ruskin schmackhaft zu machen, hatte der englische Phaidon Verlag (der auf Kunstbücher spezialisiert war) 1959 ein Buch mit dem Titel The Lamp of Beauty: Writings on Art by John Ruskin auf den Markt gebracht. Herausgeben von ➱Dame Joan Evans, einer Spezialistin für mittelalterliche Kunst, die eine der erstaunlichsten Karrieren als Kunsthistorikerin hatte. Das war damals state-of-the-art, denn Dame Joan hatte gerade eine Ruskin Biographie geschrieben (1954) und war Mitherausgeberin der Ruskin Korrespondenz. Ihre Tätigkeit als Herausgeberin der Tagebücher wird heute von Kunsthistorikern überwiegend als negativ beurteilt. Aber über die Jahre hat Phaidon diesen Titel immer wieder überarbeiten und verbessern lassen, er ist jetzt auch etwas umfangreicher als vor einem halben Jahrhundert. Das Wichtigste von Ruskin ist zweifellos in diesem Band, und bevor man sich ins Unglück stürzt und alle 38 Bände der Gesamtausgabe kauft und liest, sollte man erst einmal mit diesem Buch anfangen.
Und falls man eine Biographie Ruskins lesen will, kann ich nur Wolfgang Kemps John Ruskin. 1819–1900: Leben und Werk empfehlen. Erschien 1983 bei Hanser und vier Jahre später bei Fischer als Taschenbuch. Natürlich gibt es die zweibändige (insgesamt über tausend Seiten) Biographie von Tim Hilton, aber wenn ich ehrlich sein soll: die 470 Seiten von Kemp reichen aus. Mir auf jeden Fall (obgleich ich den zweiten Band von Tim Hilton besitze).
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