Montag, 31. Dezember 2018

Silvestergedicht


Am 31. Dezember 1860 schreibt Theodor Fontane seiner Mutter Emilie einen Silvesterbrief. Er ist noch nicht der berühmte Autor, seine Mutter wird die großen Romane nicht mehr erleben. Aber er hat erste Erfolge. Er beginnt, seine Balladen zu schreiben; das ist die Zeit, wo er mit Maria Stuart zu Bett gegangen und mit Archibald Douglas wieder aufgestanden ist. Die Jahre in England werden zwei Bücher hervorbringen. Zum einen sind das seine Briefe, die zusammengefasst unter dem Titel Aus England erscheinen; zum anderen ist es die zweiwöchige Schottlandreise, die unter dem Titel Jenseit des Tweed veröffentlicht wird. Am Ende des Briefe an die Mutter findet sich ein kleines Gedicht, das manchmal als Der Schwester zu Silvester zitiert wird. Aber das ist falsch, bei Fontane heißt es schlicht An Lischen. Es ist ein heiteres kleines Gelegenheitsgedicht, und deshalb soll es heute hier stehen:

Habe ein heitres, fröhliches Herz
Januar, Februar und März,
Sei immer mit dabei
In April und Mai,
Kreische vor Lust
In Juni, Juli und August,
Habe Verehrer, Freunde und Lober
In September und Oktober,
Und bleibe meine gute Schwester
Bis zum Dezember und nächsten Silvester.

Ich wünsche all meinen Lesern ein glückliches neues Jahr.

Samstag, 29. Dezember 2018

Lesedefizite


Und wieder Berge von Büchern zu Weihnachten, es hilft nichts, ich muss lesen. Ich lese zu wenig. Als ich in der Uniklinik war, habe ich anderthalbausend Seiten gelesen, das war schön. Doch wenn ich den halben Tag schreibe, komme ich nicht richtig zum Lesen. Natürlich lese ich die Bücher, über die ich schreibe. Als ich den Post Wellen schrieb, habe ich Keyserlings Roman gelesen. Als ich amour fou schrieb, las ich den Roman Brandig noch einmal. Aber das zählen wir nicht, es muss etwas Neues, Unbekanntes sein. Doch gibt es das? Hat nicht Proust recht, wenn er schreibt: In Wirklichkeit ist jeder Leser, wenn er liest, ein Leser nur seiner selbst. Das Werk des Schriftstellers ist dabei lediglich eine Art von optischem Instrument, das der Autor dem Leser reicht, damit er erkennen möge, was er in sich selbst vielleicht sonst nicht hätte erschauen können. Dass der Leser das, was das Buch aussagt, in sich selber erkennt, ist der Beweis für die Wahrheit eben dieses Buches und umgekehrt.

Lesen macht glücklich. Sagte Elke Heidenreich, Ohne Lesen verblöden wir. Lesen macht glücklich, davon gehe ich aus. Oder auch nicht. Ulrich Greiner hielt dagegen: Erinnert sich jemand an Emma Bovary? Das Unglück dieser hübschen und selbstsüchtigen Frau in Flauberts Roman beginnt damit, dass sie andauernd Romane liest, die ihr Bild von der Wirklichkeit nachhaltig beschädigen. Auch der berühmte Ritter von der traurigen Gestalt, der Don Quijote des Cervantes, hat so viele Romane gelesen, dass er sich zum Gespött seiner Mitmenschen macht. Nun ist es sicherlich richtig, dass Frau Bovary und Herr Quijote nicht intelligent genug waren, um aus ihrer Lektüre die richtigen Schlüsse zu ziehen. Angenommen, sie wären dazu imstande gewesen: Es hätte ihnen nicht zum Glück verholfen. Und wir hätten zwei große Romane weniger.

Ich komme mit der Lektüre von der Strudlhofstiege nicht voran. In der Zeit, in der ich hundert Seiten von Heimito von Doderer lese, schaffe ich drei Romane von Joseph Roth. Manche Österreicher sind sperrig. Den Mann ohne Eigenschaften habe ich letztens noch einmal zu lesen versucht, ging nicht. Dagegen war Musils Tod des Vergil ein Klacks. Aber jetzt habe ich etwas Neues entdeckt: Walter Kappacher. Der ist in diesem Jahr achtzig geworden und schreibt seit beinah einem halben Jahrhundert. Ist an mir vorbeigelaufen, ist mir peinlich. Aber im neuen Jahr, da schreibe ich über ihn. Das habe ich mir fest vorgenommen.

 Lesen Sie auch: silvae: Wälder: Lesenperlegi, Buchgespenster

Montag, 24. Dezember 2018

Kinderzeit


Es ist neblig draußen, man hört die Schiffe auf der Weser tuten. Das ist kein schönes Weihnachtswetter. Mein Vater fragt meine Mutter, ob der Nerzmantel wirklich das geeignete Kleidungsstück für den Nieselregen da draußen ist. Aber Mammi will den neuen Mantel zeigen, das geht am Heiligen Abend in der Kirche am besten. Die Kirche ist schon voll, dies ist der letzte Gottesdienst am Heiligen Abend. Mein kleiner Bruder weiß noch nicht, wie man sich in der Kirche benimmt. Als der Chor anfängt zu singen, singt er mit. Wahrscheinlich, weil er die erste Strophe kann. Danach ist er still. Wenn wir wieder zuhause sind, müssen wir Kinder im Flur warten, während drinnen im Wohnzimmer die Kerzen vom Weihnachtsbaum angezündet werden. Dann klingelt ein kleines Glöckchen, und wir dürfen ins Wohnzimmer. Der Tannenbaum steht in der Ecke, wo vor Jahren der Pastor meinen Bruder getauft hat. Die Spitze des Baumes berührt gerade eben die Decke. Sie darf niemals abgesägt werden, weil das ein Jahr lang Unglück bedeutet. Der Weihnachtsmann ist auch schon da. Wir wissen, dass es nicht wirklich der Weihnachtsmann ist, es ist Johnny Otten, der Vorarbeiter von Onkel Gustav. Wie ist er hier hereingekommen, an uns im Flur kam er nicht vorbei? Er muss durch den Garten und die Verandatür gekommen sein. Wir werden gefragt, ob wir auch immer artig waren. Die Antwort kann nur ja sein. Mein Bruder muss ein Gedicht aufsagen, und ich muss drei Weihnachtslieder auf dem Klavier spielen. Dann lässt der Weihnachtsmann die Geschenke da. Sie sind von den Eltern mit Liebe ausgesucht, aber nicht das, was ich oben auf den Wunschzettel geschrieben habe. Aber wir dürfen nicht klagen, vielen anderen Kindern geht es viel schlechter als uns. Nach der Bescherung kommt das Abendessen. Bei uns gibt es immer Kartoffelsalat mit Würstchen, die Weihnachtsgans gibt es erst morgen. Die Würstchen sind von Keunecke in Bremen, nicht von der Wurstbude am Sedanplatz, der Kartoffelsalat ist selbstgemacht. Mein Vater schenkt meiner Mutter ein Glas vom Ratskellerwein ein, er selbst macht sich ein Beck's auf. Wir bekommen eine Sinalco. Nach dem Essen dürfen wir noch eine halbe Stunde im Wohnzimmer spielen, dann müssen wir zu Bett. Auf der Weser tuten immer noch die Schiffe. Im nächsten Jahr wird der Weihnachtsmann nicht kommen. Nicht, weil wir nicht mehr an ihn glauben, sondern weil Johnny Otten gekündigt hat. Weihnachten wird es immer wieder geben. Neue Pelzmäntel auch. Morgen kommen die Verwandten, da gibt es noch mal Geschenke.

Ich wünsche all meinen Lesern ein frohes Weihnachtsfest.


Sonntag, 23. Dezember 2018

Advent


Im Internet gibt es einen Countdown Timer, braucht man solchen Quatsch wirklich? Meine Leser brauchen das nicht, die möchten am vierten Advent lieber ein Gedicht lesen. Das zeigt der Post Drei deutsche Weihnachtsgedichte, der seit vier Wochen auf Platz eins der Statistik ist. Und natürlich habe ich auch heute in schönes Weihnachtsgedicht, das Hermann Hesse geschrieben hat:

Ich sehn´ mich so nach einem Land
der Ruhe und Geborgenheit
Ich glaub´, ich hab´s einmal gekannt,
als ich den Sternenhimmel weit
und klar vor meinen Augen sah,
unendlich großes Weltenall.


Und etwas dann mit mir geschah:
Ich ahnte, spürte auf einmal,
dass alles: Sterne, Berg und Tal,
ob ferne Länder, fremdes Volk,
sei es der Mond, sei´s Sonnnenstrahl,
dass Regen, Schnee und jede Wolk,
dass all das in mir drin ich find,
verkleinert, einmalig und schön.


Ich muss gar nicht zu jedem hin,
ich spür das Schwingen, spür die Tön´
ein´s jeden Dinges, nah und fern,
wenn ich mich öffne und werd´ still
in Ehrfurcht vor dem großen Herrn,
der all dies schuf und halten will.


Ich glaube, dass war der Moment,
den sicher jeder von euch kennt,
in dem der Mensch zur Lieb´ bereit:
Ich glaub, da ist Weihnachten nicht weit!


Samstag, 22. Dezember 2018

Kling, Glöckchen, Klingelingeling


Der ihnen von einer Vielzahl von Cartoons in diesem Blog schon bekannte Cartoonist, der exklusiv für diesen Blog arbeitet, ist zu Weihnachten nicht untätig geblieben. Er schickte mir gestern diese tanzende Figurengruppe, die ich heute gerne abbilde. Es muss mal ein wenig vorweihnachtliche Fröhlichkeit in den Blog, da passen Strapse und Netzstrümpfe doch ganz wunderbar. Und dazu lassen wir dann Mireille Mathieu Weihnachtslieder singen.

Freitag, 21. Dezember 2018

Sir András Schiff


Er hat nichts von den asiatischen Wunderkindern wie Lang Lang, William Youn und Seong-Jin Cho an sich, die immer wieder auftauchen. Er ist niemand für das Showbusiness. Seit über vierzig Jahren ist er im Geschäft und hat beinahe alles eingespielt, was man einspielen kann, von Bartok bis Bach. Der Ungar András Schiff ist auch ein Star, aber eher still und zurückhaltend, vielleicht liegt das am englischen Einfluss. Er hatte englische Verwandte, beim Besuch der Verwandten hat er George Malcolm kennengelernt, der ihn sehr beeinflusst hat. Seit 2001 ist Schiff englischer Staatsbürger, 2014 hat die Königin ihn zum Knight Bachelor gemacht. In Ungarn wird er aus Protest gegen die augenblickliche Regierung nicht mehr auftreten: Ungarn habe ich nicht aufgegeben, aber sehr optimistisch kann man da nicht sein. Die Fidesz-Regierung wird noch lange bleiben. Und das Hauptproblem sind nicht die Politiker, sondern das Volk, die Menschen – und ja, ich weiß, man darf nicht generalisieren. Aber immerhin, durch die Menschen, um nicht zu sagen: den Pöbel wurde Orbán zum zweiten Mal mit einer Zweidrittelmehrheit gewählt. Genau wie die Italiener, die dreimal für Berlusconi gestimmt haben.

Der englische Cembalist George Malcolm hatte Schiffs Interesse auf Johann Sebastian Bach gelenkt, und über Bach und das Cembalo hat Schiff einiges zu sagen. Der Pianist benutzt in seinen Konzerten zwar auch einen Steinway, aber das ist nicht sein Lieblingsinstrument: Das Problem ist, dass die meisten Pianisten überhaupt nicht neugierig sind. Sie nehmen oft lieber einen mittelmäßigen Steinway als einen guten Bösendorfer, weil sie auf dem Letzteren gar nicht spielen können. Privat bevorzugt er einen Bösendorfer, für die Firma macht er auch schon mal Reklame. Schiffs Bach ist nicht jedermanns Bach, schon Joachim Kaiser kritisierte, dass Schiffs Klavierspiel zu prätentiös sei. Hartgesottene Glenn Gould Fans werden Schiffs Bach nicht mögen.

Andras Schiff, der jeden Tag mit einer Stunde Bach (natürlich ohne Pedal) beginnt, wird heute fünfundsechzig. Dazu wollen wir ganz herzlich gratulieren. Wir gratulieren auch Dame Misuko Uchida, die gestern siebzig wurde (und die auch Bach spielen kann). Zur Feier des Tages gibt bei mir heute Bachs Goldberg Variationen, und dann habe ich da noch ein interessantes, beinahe zweistündiges, Interview, das NDR Kultur vor einigen Tagen gesendet hat.

Dienstag, 18. Dezember 2018

Pergamonmuseum


Beginnen wir den Tag mit einem Gedicht von Gerhard Falkner aus seinen Pergamon Gedichten (die es hier auch als Videoclips gibt):

Aphrodite, auf deren Wink hin sich die Tiere paaren
mit Schenkeln wie aus bestem attischen Gestüt
und in Gewändern wie von Botticelli übergossen
(die im Gekräusel ihre Wallung widerspiegeln)
Aphrodite, wie im Tanz, inneren Impulsen
von Kampf und Kühnheit folgend, von Rock´n´Roll
tritt dem Giganten, dessen Schönheit selbst den Marmor
aus der Fassung bringt mit der Sandale in die Kehle
wie einem erschlagenen Hund, um ihm die Lanze
wie im Tanze aus dem Leib zu ziehen, man denkt sich
Perseus hätte diese Schenkel brauchen können
als die Gorgonen ihn verfolgten, wenn man nicht bedenkt
dass Perseus eben diese Schenkel hatte, vom Rock´n´Roll
das ganze Geheimnis liegt immer in den größeren
Zusammenhängen, die Frauen, die als Göttinnen den Fries
durchkämpfen sind den Männern gleichgestellt an Kraft
nicht jedoch an Schönheit überlegen
(ein großer griechischer Gedanke!)


Das erste Pergamonmuseum wurde am 18. Dezember 1901 von Wilhelm II eröffnet. Enthüllt wurde damals auch ein von Adolf Brütt geschaffenen Bildnis von Carl Humann, dem Entdecker des Pergamonaltars. Was den Engländern ihre Elgin Marbles sind, wird den Deutschen ihr Pergamonmuseum. Als ich jung war, fand ich es toll, oben auf den Stufen zu sitzen. Gab dieses Gefühl von edler Einfalt und stiller Größe. Damals war das noch Ost-Berlin. Dann durfte man eines Tages die Stufen nicht mehr betreten, jetzt offensichtlich wieder. Allerdings bleibt der Altar bis 2023 zellophanverpackt, man baut das Museum um.

Die Gebäude auf der Museumsinsel sind seit den Tagen von Wilhelm von Bode immer wieder umgebaut worden. Das erste erste Pergamonmuseum wurde nach acht Jahren abgerissen. Die Gemäldegalerie aus Dahlem wurde zur Museumsinsel umgesiedelt, auch der Pergamonaltar bekam einen neuen Platz. Was in diesen Räumen dem staunenden Beobachter dargeboten, das ist eine solche Fülle von Schönheit, wie man sie sich gar nicht herrlicher vereint vorstellen kann, sagte Wilhelm II bei der Eröffnung.

Wilhelm von Bode war nicht ganz dieser Meinung, er hatte das Unternehmen von Anfang an boykottiert, um sein Museum zu bauen. Das eines Tages seinen Namen tragen wird. Kulturstaatsministerin Monika Grütters (die im Gegensatz zu ihrem Vorgänger Bernd Neumann immerhin etwas von ihrem Job versteht) sagte: Ein architektonisch überzeugendes Entree. Für den Volksmund war das Gebäude von David Chipperfield, das jetzt die James Simon Galerie heißt, die teuerste Garderobe der Welt. Fehlplanungen und Bauskandale, Größenwahn und architektonische Leere. Zum architektonischen Größenwahn neigte man in Berlin ja schon immer, wie die ZDF Serie Böse Bauten beweist.

Damit heute noch ein wenig Kultur in diesen Post kommt, habe ich neben Gerhard Falkner noch ein Pergamon Gedicht von Dirk von Petersdorff mit dem schönen Titel Pergamonaltar:

Aus Winternebel drei hereingeschneit 
die Tempeltreppe Traumgelegenheit –
Ägäisinseln, Haare wehn ums Kinn,
und Umschau hält die Felsenkönigin,
die nackt ins Meer zum Zähneputzen ging,
wenn überm Kopf nah Sternenlaken hing.
Sie mögen sie und laufen ihr davon,
sein Sohn und er erreichen Babylon,
da vor den Mischungen aus Schlangen, Katzen
befühlen kurz den Stein der Löwentatzen, 
dann demolierter Gott aus Urgebieten
mit seinem Schild: ›für nicht bekannte Riten,
besichtigt man so wie ein Zugereister,
treibt sich herum auf dem Gebiet der Geister.

Sonntag, 16. Dezember 2018

Advent


Das ist eine der letzten Arbeiten von Haddon Sundblom aus dem Jahre 1972, da war der Zeichner vier Jahrzehnte für Coca Cola tätig. Seit er 1931 einen weißbärtigen übergewichtigen Rentner für die Firma Coca Cola gezeichnet hat, glauben Millionen von Amerikanern, dass Coca Cola den Weihachtsmann erfunden hat. Wenn Sie vor Jahren den Post Santa Claus gelesen haben, dann wissen Sie, dass dem nicht so ist. Unser rüstiger Rentner brettert mit seinem roten LKW durch die Werbespots, gelb-braune Amazon Pakete lächeln uns mit einem Kußmaul an. Und zu allem erklingt Whams Last Christmas (inzwischen in 200 englischen Pubs verboten), eine Kakophonie der Werbesymphonie.

Wir wenden uns von dem Ganzen lieber ab, da bleibt nur das gute alte Radio mit NDR Kultur. Dort wird Hark! the Herald Angels Sing gesungen, und am Abend wird A Christmas Carol vorgelesen. Und es gibt keine Werbung. Und hier gibt es heute wieder ein Weihnachtsgedicht. Es wurde Weihnachten 1913, dem Jahr, bevor sich die Welt veränderte, von einem gewissen Theobald Tiger (den wir besser als Kurt Tucholsky kennen) veröffentlicht und heißt Groß-Stadt-Weihnachten:

Nun senkt sich wieder auf die heim'schen Fluren
die Weihenacht! die Weihenacht!
Was die Mamas bepackt nach Hause fuhren,
wir kriegens jetzo freundlich dargebracht.

Der Asphalt glitscht. Kann Emil das gebrauchen?
Die Braut kramt schämig in dem Portemonnaie.
Sie schenkt ihm, teils zum Schmuck und teils zum Rauchen,
den Aschenbecher aus Emalch glase.

Das Christkind kommt! Wir jungen Leute lauschen
auf einen stillen heiligen Grammophon.
Das Christkind kommt und ist bereit zu tauschen
den Schlips, die Puppe und das Lexikohn.

Und sitzt der wackre Bürger bei den Seinen,
voll Karpfen, still im Stuhl, um halber zehn,
dann ist er mit sich selbst zufrieden und im reinen:
"Ach ja, son Christfest is doch ooch janz scheen!"

Und frohgelaunt spricht er vom 'Weihnachtswetter',
mag es nun regnen oder mag es schnein.
Jovial und schmauchend liest er seine Morgenblätter,
die trächtig sind von süßen Plauderein.

So trifft denn nur auf eitel Gück hienieden
in dieser Residenz Christkindleins Flug?
Mein Gott, sie mimen eben Weihnachtsfrieden ...
"Wir spielen alle. Wer es weiß, ist klug."

Fünf Jahre später, als der Feldpolizeikommissar Tucholsky aus dem Krieg zurückkommt, sieht sein Weihnachtsgedicht etwas anders aus. Die bürgerliche Welt auch.


Noch mehr Weihnachten in diesem Blog: Drei deutsche WeihnachtsgedichteNikolaustag, AdventSanta Claus, Weihnachtsvorbereitungen, Weihnachtsfeiern, Donder and BlitzenWeihnachtsbäume, Weihnachten, Vierter Advent

Freitag, 14. Dezember 2018

Strände


One day I wrote her name upon the strand,
But came the waves and washed it away:
Again I wrote it with a second hand,
But came the tide, and made my pains his prey.
‘Vain man,’ said she, ‘that dost in vain assay,
A mortal thing so to immortalize;
For I myself shall like to this decay,
And eke my name be wiped out likewise.’
‘Not so,’ (quod I); ‘let baser things devise
To die in dust, but you shall live by fame:
My verse your vertues rare shall eternize,
And in the heavens write your glorious name:
Where whenas death shall all the world subdue,
Our love shall live, and later life renew.’


Lass uns heute zum Strand fahren, sagte sie. Ich sagte, dass ich um fünf noch ein Seminar in der Uni hätte. Um fünf sind wir längst wieder zuhause, da bräunt die Sonne nicht mehr, wir fahren jetzt, sagte sie. Wenn Frauen zum Strand wollen, haben lange Diskussionen keinen Sinn. Wir finden noch leicht einen Parkplatz, weil wir so früh dran sind. Als wir an der Imbißbude vorbeikommen, schreibt eine Frau gerade Suppenteriehne mit Kreide an die Tafel. Meine Begleiterin kommt aus dem Kichern nicht mehr heraus. Wir finden eine halbwegs schöne Stelle am Strand, und schon ist sie aus den Kleidern heraus. Wird Teil einer Armee von Sonnenanbeterinnen, wie sie Hannelies Taschau in dem Gedicht Aus diesem Sommer etwas ironisch beschreibt:

Frauen schattenlos enthaart
Sorglos bis auf die Knochen
Mittelmäßig geschützt mit
Faktor drei
Ungenießbar
Sich stündlich verschönernd
bei so viel eigener Zuwendung
Seide statt Haut
lag überall herum weit entfernt
vom Ursprungsort weit entfernt

Das da unten im Bild, das nennen die Engländer Strand. Wir sind in Brighton in den frühen sechziger Jahren, als sich Mods und Rocker Strandschlachten liefern. Anderthalb Jahrhunderte zuvor sah das hier etwas anders aus, da war Brighton ein fashionables Seebad. Die Seebäder an der englischen Küste sind eine Sache des 18. Jahrhunderts. Lichtenberg, der sie immer wieder preist, wird sagen, dass er in Margate die gesündesten Tage seines Lebens verbrachte. Wenn Engländer einen schönen Strand sehen wollen, dann müssen sie zu einer anderen Insel, die ihnen mal gehörte. Ich habe auf der Helgoländer Düne mal einen Engländer getroffen, der hier wegen seines Heuschnupfens jedes Jahr, wenn es im UK einen hohen pollen count gab, seinen Urlaub verbrachte.

Um 1900 ist man am Strand noch verhüllt, die feine Gesellschaft meidet die Sonnenbräune. Kann man sich Marcel Proust am Strand von Cabourg sonnenverbrannt vorstellen? Den weißglühenden Strand (la plage lumineuse) im gleißenden Sonnenlicht sieht er ja durchaus. Und Albertine bleibt für ihn mit dem Strand verbunden. Die Welt, die der Graf Keyserling in seinem Roman Wellen beschreibt, ist vielleicht typisch für diese Gesellschaft, die dem Untergang geweiht ist. Thomas Mann spricht in Tod in Venedig von einer sorglos sinnlich genießenden Kultur am Rande des Elementes.

Die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg werden die Freikörperkultur bringen und einen Run auf die Strände, die jetzt ein Tummelplatz für Jedermann werden. Überall auf der Welt. Nicht nur von Hendaye bis Hohwacht, vom Schönebecker Sand bis Langeoog. Strände und Wasser werden schmutziger. Benjamin Franklin konnte noch in der Themse schwinnen, das tut heute niemand mehr. Henderson Island, einst ein Symbol für das Paradies, ist zu einem Symbol für die Umweltzerstörung geworden.

Meine Strände sind Strände der Erinnerung, Strände der Literatur, der Malerei und des Kinos. Wie hier in Ma nuit chez Maud. An Henderson Island wollen wir nicht denken. Wenn wir das zu Ende denken, dann kommen wir zu einem Roman wie  On the Beach, in dem es nicht mehr über australische Strände, sondern über das Ende der Zivilisation geht. Aber darüber wollen wir nicht reden. Wir bleiben bei den Stränden der Erinnerung, die so weißen Sand haben, wie der Strand von Dueodde vor einem halben Jahrhundert. Und wir haben natürlich eine schöne Frau neben uns, die einen neuen Bikini trägt, der ihre langen Beine und ihren flachen Bauch betont. Und die weiß, dass wir sie bewundern. Ob wir ihren Namen in den Sand schreiben oder nicht.


Von Strand Bookstore zu einem Post wie Strände zu kommen, war nicht so schwer. Noch mehr Strand in den Posts Cato Bontjes van Beek, Gudrun, Langeoog, Mein Dänemark, Le TréportNiels Bohr, Egmond aan Zee und in dem vielgelesen Post ythhlaf, in dem es um den Strand in der Malerei geht.

Dienstag, 11. Dezember 2018

18 Miles of Books


Diese junge Dame werden sie vielleicht nicht kennen. In New York kennt man sie, Nancy Bass Wyden hat sich gerade mit dem Denkmalschutz angelegt, man möchte die Buchhandlung zu einem kulturellen Denkmal erklären. Was ins Geld gehen wird, und Buchhandlungen geht es in den Tagen der Marktbeherrschung durch Amazon nicht so gut, wo viele kleine Buchhandlungen in New York schließen mussten. Die Buchhandlung, in der Nancy steht, ist nicht irgendeine Buchhandlung, es ist das größte Antiquariat der Welt. 18 miles of books steht am Haus dran. Etliche Meter von den achtzehn Meilen haben auch ihren Weg in meine Bibliothek gefunden, denn ich bin Jahrzehnte Kunde von The Strand Bookstore gewesen. Und ich habe als Leiter der Fachbibliothek natürlich auch Bücher für die Bibliothek gekauft. Also all das, was uns unser Ausnahmebuchhändler Nolan E. Smith nicht so preisgünstig liefern konnte.

Benjamin Bass (auf dem linken Bild zu sehen, auf dem rechten Bild ist sein Sohn Fred) war aus Litauen nach Amerika gekommen, mit 28 Jahren macht er seinen ersten Buchladen auf. Weltwirtschaftskrise und Great Depression sind ein schlechter Zeitpunkt dafür, aber Bass kommt durch. Von den 48 Buchläden im Viertel wird nur der Laden überleben, den Benjamin Bass nach der Londoner Straße The Strand benannt hat. Er hat das Glück, dass sein Vermieter (einer der letzten aus der Stuyvesant Familie) keinem der kleinen Buchhändler die Miete kündigt. Benjamin ist zwei Jahre mit der Miete im Verzug, aber er wird alles zurückzahlen. Er kann gut mit Menschen umgehen, sein Laden zieht Berühmtheiten an. Er ist stolz, Kurt Vonnegut und Saul Bellow zu seinen Kunden zu zählen.

Fünfzig Jahre hatte Benjamin Bass in seinem Laden gestanden, sein Sohn Fred Bass, der Anfang des Jahres im Alter von 89 Jahren starb, wird 77 Jahre im Laden zu finden sein. Der immer größer und größer wird. Als ich Fred Bass schrieb, dass die deutsche Cartoonistin Franziska Becker den Strandbook Store in ihr Reisetagebuch New York, New York hinein gezeichnet hat, hat ihn das sehr interessiert. Er fragte, ob er eine Kopie der Seiten bekommen könnte. Bekam er natürlich, sogar eine Farbkopie.

Antiquariate haben es heute nicht leicht. Herr Eschenburg in Kiel weiß ein Lied davon zu singen (und Wilsberg in Münster geht es auch nicht so gut). Aber Nancy Bass Wyden steht mit dem geerbten Geschäft gut da. Wir wollen mal hoffen, dass das so bleibt.

Sonntag, 9. Dezember 2018

Advent


Hat es jemals vor Weihnachten ein solches Werbebombardement gegeben? Ein Werbespot nach dem anderen im Fernsehen, die Zeitungen vollgeknallt mit bunten Beilagen, für die in Finnland ganze Wälder abgeholzt wurden. Und ja, man braucht unbedingt eine neue Rolex (Would Jesus wear a Rolex?) und ein Porsche Design Handy. Ist der Tannenbaum bei Obi oder bei Toom billiger? Meine Leser sind immun gegen die Weihnachtswerbung, seit vier Wochen ist der Post Drei deutsche Weihnachtsgedichte der meistgelesene Post in diesem Blog. Heute soll es hier auch etwas Weihnachtliches geben, Christina Rossettis Gedicht In the Bleak Midwinter:

In the bleak midwinter
Frosty wind made moan,
Earth stood hard as iron,
Water like a stone;
Snow had fallen,
Snow on snow,

Snow on snow,
In the bleak midwinter,
Long ago.

Our God, heaven cannot hold him,
Nor earth sustain;
Heaven and earth shall flee away
When he comes to reign;
In the bleak midwinter
A stable place sufficed
The Lord God incarnate,
Jesus Christ.

Enough for him, whom Cherubim
Worship night and day
A breast full of milk
And a manger full of hay.
Enough for him, whom angels
Fall down before,
The ox and ass and camel
Which adore.

Angels and archangels
May have gathered there,
Cherubim and seraphim
Thronged the air;
But his mother only,
In her maiden bliss,
Worshipped the Beloved
With a kiss.

What can I give him,
Poor as I am?
If I were a shepherd
I would bring a lamb,
If I were a wise man
I would do my part,
Yet what I can I give Him —
Give my heart.

Das Gedicht ist mehrfach vertont worden. Die bekannteste Version ist sicher die von Gustav Holst, aber ich nehme heute mal die von Harold Darke. Hier gesungen von Dame Kiri Te Kanawa und Robero Alagna. Ich wünsche all meinen Lesern einen schönen zweiten Advent.

Samstag, 8. Dezember 2018

amour fou


Keine Sorge, es wird hier heute um Literatur gehen. Nicht um die hübschen kleinen stupsnäsigen Frauen, mit denen ich meinen Blog manchmal bevölkere. Aber bevor ich zu dem Buch komme, das ich vorstellen möchte, muss ich doch einmal kurz eine Frau aus der Vergangenheit holen. Sie hat hier heute keinen Namen, sie ist nur sehr sexy. Lasziv. Allein, wie sie die Gauloises anleckte, bevor sie sie anzündete. Wir hatten mal was miteinander, aber das war vorbei. Jetzt erzählte sie mir im Kleinen Olymp im Schnoor von ihren letzten Lovern, eine Geschichte, die mit dem Satz endete: Jetzt ficke ich mich durch ganz Bremen. Das sind Sätze, da sagt man am besten gar nichts. Man vergisst sie allerdings auch nicht.

Zwanzig Jahre später begegnete ich der Frau wieder. Da hieß sie allerdings Eliada Jeanne Carla Guinetti und war eine Romanfigur in Gerd-Peter Eigners Roman Brandig, einem Roman, der in Bremen und im Teufelsmoor beginnt (deshalb gibt es auch einen Worpsweder auf dem Cover der Erstausgabe). Der aber wohl kaum ein richtiger Bremen Roman genannt werden kann, wie es die Romane von Friedo Lampe oder Lorenzens Alles andere als ein Held sind. Wend Kässens betitelte seine Rezension in der Zeit mit Grelle Bilder aus Sex, Crime und Kitsch: Exzesse mit Eliada. Besser kann man diesen ärgerlichen wie vergnüglichen Roman nicht beschreiben. Wend Kässens sieht in dem Roman eine Beziehung zu Thomas Manns Doktor Faustus, die ich nicht sehe. Ich sehe da eher eine Beziehung zu der Welt von Louis-Ferdinand Céline.

Die deutschen Rezensenten waren damals von dem Roman, der heute so gut wie vergessen ist, begeistert: Im allgemeinen schließen sich mittlerweile erzählende - Geschichten erzählende - und anspruchsvolle Literatur aus, - eine solche also, die Denken einfordert. Und es darf, nein: muß zu den seltenen Glücksfällen gerechnet werden, wenn es zu einer zumal offenen Vereinigung beider Ansätze kommt. Der Glücksfall besteht vor allem darin, daß Gerd-Peter Eigners 1985 bei Hanser erschienener Roman "Brandig" nicht nur geschrieben, sondern auch verlegt wurde: Denn als der Autor 1984 aus dem Text in Klagenfurt vortrug, fand er wenig Beachtung. Das muß nicht wunder nehmen, da Kritiker alles mögen, nur keine Intensität, die ihnen auf die Fingerknöchel schlägt... (Hessischer Rundfunk). Wer Gerd-Peter Eigners Roman 'Brandig', der in diesem Herbst bei Hanser erschienen ist, nicht lesen will, muß sich von mir auf den Kopf zusagen lassen, daß er eine der wesentlichsten Neuerscheinungen des Jahres 1985 verpaßt und verpassen will, also nichts von Literatur versteht.(Medien Informations Dienst FFM). Wie in seinem Roman 'Golli' (1978), behaupte ich, verfolgt Eigner mit seinen Protagonisten ein Prinzip; eben dem Verfall eines Ichs durch Chaos und Sinnlichkeit durch ein immer wieder das Ich suchendes Bewußtsein standzuhalten. (Die Presse, Wien). Ein literarisch sehr anspruchsvolles Verfahren ist das, mit dem Eigner spannende, gute Beschreibungen seines Reißerthemas 'Geschlecht und Gewalt' gelingen.. (Süddeutsche Zeitung). Mit emphatischen und mäandernden, oft an Thomas Bernhard erinnernden Sätzen, evoziert er grelle Bilder aus Sex, Crime und Kitsch ... So ist 'Brandig' ein so ärgerliches wie vergnügliches, ein so vorder- wie tiefgründiges, auf jeden Fall ein lesenswertes Buch. (Die Zeit)

Ich habe die Rezensionen so ausführlich wiedergegeben, weil die informativen Seiten zu Eigner aus dem Netz leider verschwunden sind. Das ist bedauernswert, hoffentlich verschwindet der Autor nicht auch. Ich habe vor dreißig Jahren, als ich die Rowohlt Paperbackausgabe kaufte, keine Rezensionen gelesen. Ich las den Roman und sagte Wow, genau so, wie ich nach der Lektüre von Harry Crews A Feast of Snakes Wow gesagt hatte. Die Lektüre des Romans hatte einen seltsamen Déjà-vu, Nebeneffekt, weil ich immer, wenn Eliada Jeanne Carla Guinetti auftauchte, an die Frau denken musste, die Jetzt ficke ich mich durch ganz Bremen gesagt hatte. Und diese femme fatale taucht in dem Roman häufig auf: 128 Seiten des 455-seitigen Buches verdienen besondere Erwähnung: eine der dichtesten/verdichtetsten Liebesgeschichten der deutschen Nachkriegsliteratur; und „Liebe" wird hier in radikal romantischem Sinn ernst genommen, schreibt Alban Nikolai Herbst.

Der Rechtsanwalt Brandig, der alle Ängste und Sehnsüchte, alle Wut, allen Widerstand und Widerspruch seiner Generation mit sich herumschleppt, ist auf der Flucht, zugrunde gerichtet von seiner amour fou. In der Zeitschrift Drehpunkt fragte der Rezensent 1985: Wieviel Radikalität oder Anpassung kann einer leben, ohne sich zugrunde zu richten? Keines der Bilder, die sich der Leser von Brandig macht, ist richtig. Doch fortwährend entstehen neue Bilder und zwingen den Leser in ihren Bann und in den Sog dieser Frage. Und in der Frankfurter Rundschau finden wir in dem Jahr Sätze, die geradezu vor dem Roman warnen: Der Leser wird an Grenzerfahrungen teilhaben, die sein Leben verändern können, wenn er die erzählerisch enthaltene Dialektik einer leidenschaftlichen Liebe und den schleichenden Wahnsinn auf sich selber und sein Leben überträgt.

Gerd-Peter Eigners ersten Gedichtband nahm sein Verlag (DVA) 1979 aus dem Programm, weil der Autor der Zensur nicht nachgeben wollte. Die Gedichte erschienen unter dem Titel Mammut kurz vor Eigners Tod in einem kleinen Verlag mit dem Namen Palm Art Press. Aus diesem Band hätte ich zum Schluss noch das Gedicht Geliebte, um zu zeigen, dass die sexbesessenen Frauen auch in Eigners Lyrik auftauchen:

Als sie von ihrer Kindheit sprach
sprach sie von Igeln und Schwänen
vom Eis auf dem See
und vom Berg
in dem ihr Vater verschwand
auch von Himmeln

Als sie von ihrer Jugend sprach
sprach sie vom Tisch
der in ihrem Zimmer stand
und schreckliche Spuren trug
von ihrer Lust
sich an dessen Kante zu reiben

Als sie ihrem ersten Mann folgte
in den afrikanischen Busch
litt sie unter der Hitze
die sie zu bekämpfen wußte
in den Armen
des Hauspersonals

Als sie dann auf mich stieß
sprach sie von Männern
die sie bediente
wenn ich nicht da war
es machte mich rasen
besonders dafür liebte sie mich

Als sie mich verließ
kratzte ich Rinde von den Bäumen
des Parks
fraß Erde
spie Galle und Blut
und verendete nicht

Da die Gerd-Peter Eigner Seiten im Internet leider alle verschwunden sind, möchte ich habe zum Schluss doch eine kleine Stilprobe geben. Und einen Satz aus seinem Roman Brandig zitieren. Es ist ein langer Satz, der so endet wie der erste Absatz dieses Post.:

"Dass eine Frau, der ich gesagt habe, dass ich sie etwas fragen möchte, aufspringt von ihrem Stuhl, mit herzzerreißender Stimme "Nein!" schreit, mich mit weit aufgerissenen Augen anstarrt und unmittelbar darauf wie geistesabwesend hinzufügt: "Was haben Sie gesagt?" um sich mit energischem Schulterschwung abzuwenden, in die Küche zu stürzen, hinter der Küchentür zu verschwinden, mich so sitzen zu lassen, wie ich da sitze, mich warten, das Pfeifen eines Teekessels abwarten zu lassen, um mit dem Teekessel wieder hervorzutreten hinter der Tür, auf einer Küchenanrichte kochendes Wasser in eine Kanne zu schütten, den Teekessel zurückzutragen hinter die Tür, mit der von der Anrichte gehobenen Kanne in der Hand durch den Türrahmen auf mich zuzutreten, Tee durch ein zierliches Schwenksieb, in dem sich die schwarzen Blätter fangen, in eine zweite schon auf dem Tisch stehende Kanne zu schütten, die leere dann aber zurückzutragen in die Küche, wiederzukehren und vor meinen Augen mit einem Streichholz das Wachslicht in einem friesischen Stövchen aus durchbrochenem Messingblech zu entzünden, mich dabei lange eindringlich anzuschauen, das brennende Streichholz aber weiter zwischen Daumen und Zeigefinger zu halten, plötzlich dann die Hand hoch in die Luft zu reißen, das Streichholz also fallen zu lassen, um die herabsinkende Hand so im Herabsinken anzupusten, als pustete sie eine Flamme zwischen Daumen und Zeigefinger aus, und schließlich die volle Teekanne, auf die sie noch einen kleinen Deckel gesetzt hat, gedankenversunken neben das Stövchen auf den Tisch zu stellen, so dass ich, von der unerträglichen Dauer der Wahrnehmung geschwächt und schon im Glauben, alles sei so, wie ich es wahrgenommen habe, ganz außer mir und insofern in der allerbesten Ordnung der Dinge, so dass ich nahe daran bin zu weinen: das - so etwas - vergisst man nicht.

Donnerstag, 6. Dezember 2018

Nikolaustag


Ick bin en lüttjen König,
geevt mi nich to wenig,
Laat mi nich so lange stahn,
ick mutt all weder wiedergahn
.

Noch bevor man in der Schule Gedichte lernte, lernte man in Bremen diese Verse. Ich habe große Teile von Schillers und Goethes Gedichten vergessen, aber das Halli, Halli, Hallo, So geiht nah Bremen to, das vergisst man nicht. Und so durfte in diesem Blog im Dezember 2010 ein Post zum Nikolaus nicht fehlen, es war mein erster Nikolaustag als Blogger. Da wusste ich noch nicht, wohin die Reise ging. Jetzt kennt mich die Welt. Darf man das so sagen? Meine Leser mögen mich, und ich mag meine Leser. Meine Leser mögen mich, weil ich Geschichten erzähle. Und nebenbei auch noch ein klein wenig Bildung vermittle. Und weil ich hemmungslos subjektiv bin. Ein Zettel mit Goethes Satz: Sieh, liebes Kind, das ist ein Vorzug, den die Leute haben, die nicht schreiben: sie kompromittieren sich nicht, klebt an meinem Schreibtisch. Also da, wo Herman Melville seinen Zettel mit dem Keep true to the dreams of thy youth kleben hatte.

Der Nikolaus Post, der zuerst Sünnerklaas hieß, ist in diesem Blog am 6. Dezember immer wieder mal aufgetaucht. Ich stelle ihn heute in der Version von 2010 hier hin. Ohne Bilder. Bilder konnte ich noch nicht. Jetzt kann ich alles. Ich wünsche meinen Lesern eine schöne Adventszeit.



Als die Winter noch kälter waren als in diesen Tagen, als die Straßenbeleuchtung noch spärlich war und der Schutzmann noch einen Tschako trug, da waren am Abend des Nikolaustages in Bremen lauter kleine Nikoläuse unterwegs. Der Heilige Nikolaus hieß in dieser Gegend auch Sünnerklaas, was plattdeutsch für Sankt Klaus ist. Je weiter man nach Holland kam, desto mehr verwandelte sich dieses Sünnerklaas (oder Sünnerklaus) zu Sinnerklaas. Es blieb aber immer der gleiche Heilige Nikolaus von Myra, der der Schutzheilige der Kinder und der Seefahrer ist. Weshalb auch jede Hafenstadt eine Nikolaikirche hat. Obgleich Bremen von den Amerikanern besetzt war, hatte Halloween mit trick-or-treat auf uns noch nicht abgefärbt. Bei uns gab es das Nikolauslaufen. Dazu musste man sich verkleiden, eine rote Mütze, ein falscher Bart und ein Stock (die symbolischen Reste des Bischofstabs) gehörten zu dem Outfit. Opas Spazierstock eignete sich hervorragend dafür. Und natürlich ein Sack, in den man die empfangenen Süßigkeiten wie Moppen und Spekulatius tat. Und man musste sein Sprüchlein an jeder Tür in der Nachbarschaft aufsagen:

Nikolaus de gode Mann,
kloppt an alle Dören an.
Lüttje Kinner gifft he wat,
grode steckt he in'n Sack.
Halli, Halli, Hallo,
So geiht nah Bremen to.


Und wenn da nicht schnell genug die Süßigkeiten rausgerückt wurden, dann kam da noch, unter Aufstampfen des Stockes, eine zweite Strophe:

Ick bin en lüttjen König,
geevt mi nich to wenig,
Laat mi nich so lange stahn,
ick mutt all weder wiedergahn.
Halli, Halli, Hallo,
So geiht nah Bremen to.


Es ging immer nah Bremen to, da wollten die Bremer Stadtmusikanten auch hin (Ei, was, du Rotzkopf, sagte der Esel, zieh lieber mit uns fort, wir gehen nach Bremen, etwas Besseres als den Tod findest du überall). Nun macht es ja keinen großen Sinn, halli, halli, hallo, so geiht nah Bremen to zu singen, wenn man sowieso in Bremen ist. Obgleich die Stadt Bremen für uns in Nordbremen weit, weit weg war. Irgendwie scheint diese Sache mit Bremen (wie vielleicht auch das ganze Nikolauslaufen) aus den Liedern zu kommen, die am Martinstag in Ostfriesland gesungen wurden, wo es Sünnematten, Mattenherrn oder Matten Matten Mähren hieß. Da sang man dann:

Matten-, Mattenmähren,
die Äpfel und die Beeren,
gute[r] Frau [Mann], gib uns was.
Lass uns nicht so lange steh'n!
Wir wollen noch nach Bremen geh'n.
Bremen is ne große Stadt,
da kriegen alle Kinder wat,
die Großen und die Kleinen,
sonst fang se an zu weinen.


Im 19. Jahrhundert hat es in Bremen - der Stadt von der man in Liedern und im Märchen träumt, dass dort alles besser ist - noch andere Strophen zu dem Nikolauslied gegeben, wie zum Beispiel:

Miin Vadder is Zigarrenmaaker,
miin Mudder ruppt Toback.
Un wenn ji dat nich glöben wüllt,
denn steck ick jo inn'n Sack.
Halli, halli, hallo
So geiht na Bremen to.


Das wurde nun wohl in den Stadtteilen gesungen (es ist auf jeden Fall aus Hastedt überliefert), wo die weniger Begüterten wohnten. Und man muss wahrscheinlich auch betonen, dass das Nikolauslaufen zuerst eine Sache der ärmeren Schichten gewesen ist, bevor es im 19. Jahrhundert von allen Bremer Kindern adaptiert wurde. Die Zigarrenmaaker kommen in unzähligen Bremer Döntjes aus dem 19. Jahrhundert vor. Man kann der Strophe auch entnehmen, dass Frauenarbeit in den Bremer Fabriken selbstverständlich ist - miin Mudder ruppt Toback - und auch die Kinderarbeit, selbst wenn sie hier im Nikolauslied nicht vorkommt. Die Zigarrenmaakers sind die erste gewerkschaftlich organisierte Gruppe in Bremen, wo es in der Mitte des 19. Jahrhunderts 78 Tabakfabriken gab. Sie bildeten auch ein Element gesellschaftlicher Unruhe in der sonst festgefügten konservativen bürgerlichen Struktur des 19. Jahrhunderts. Ihr Zusammenschluss verfolgte neben der Wahrung sozialer Interessen auch Ziele in der Allgemeinbildung. Und sie hatten Vorleser in der Fabrik.

Vielleicht kann man das mit den Zigarrenmachern in Kuba vergleichen, die in ihren Fabriken einen Vorleser hatten, der ihnen während der Arbeit Romane vorlas. So hörten die Arbeiter Victor Hugo, Alexandre Dumas, Jules Verne, Shakespeare und Emile Zola. Angeblich sollen so die Zigarrenmarken Montechristo und Romeo y Julieta nach dem Grafen von Montechristo und Shakespeares Theaterstück benannt worden sein. Manchmal lasen die Vorleser auch Politisches aus Zeitungen vor, was bei den Fabrikbesitzern nicht so gut ankam (und manchmal verboten wurde). Ob der leidenschaftliche Zigarrenraucher Karl Marx das gewusst hat? Auch in den Bremer Tabakfabriken hat es solche Vorleser gegeben, die von den Arbeitern bezahlt wurden. Manchmal waren das auch Kinder und Handlanger, die kosteten nicht so viel. Der Beginn der Arbeiterbildung liegt, auf jeden Fall in Bremen, im Tabakrauch.

Vorleser gibt es in Kuba heute immer noch, auch wenn sie - wie Guillermo Cabrera Infante in seiner wunderbaren Kulturgeschichte des Rauchens Holy Smoke etwas gehässig sagt - heute die Gesammelten Werke von Fidel Castro vorlesen müssen. Die erste Zigarrenfabrik in Kuba, die einen bezahlten Vorleser gehabt haben soll, hieß El Figaro. Wenig später folgte Don Jaime Partagas (die Firma und die Zigarre heißt immer noch so), der dem Vorleser sogar ein Lesepult spendierte. Als der amerikanische Innenminister W.H. Seward kurz nach dem Bürgerkrieg die Fabrik von Partagas besuchte, war er von diesem System begeistert. Da hatten schon alle Tabakfabriken in Cuba einen Vorleser. Was sie nicht hatten, waren (im Gegensatz zu Bremen) weibliche Arbeitskräfte. Diese Geschichte, dass eine gute Zigarre auf den Schenkeln einer Kubanerin gerollt sein muss, entstammt männlichen Phantasievorstellungen. Erst Ende der 1870er Jahre fängt die erste Frau in einer Zigarrenfabrik auf Cuba an. Da ist die Oper Carmen schon aufgeführt worden.

Ich erwähne die nur, weil da eine Zigarettenfabrik drin vorkommt, die der berühmte Wilfried Minks (von Bremen nach Hannover ausgeliehen) Anfang der sechziger Jahre in Hannover so schön auf die Bühne gezaubert hatte. Und der Regisseur hatte den Einfall, Carmen auf der Bühne rauchen zu lassen. Und sie dann so wahnsinnig cool die Ziggi wegschnippen zu lassen, bevor sie L'amour est un oiseau rebelle singt. Der Effekt wurde aber bei der Premiere noch übertroffen. Ein junger, schlaksiger Verehrer der Sängerin der Carmen wanderte den linken Gang entlang bis zur Bühne und warf der Sängerin eine langstielige rote Rose vor die Füße, als sie mit der Habanera fertig war. Danach verließ er den Zuschauerraum. Die Krönung des Ganzen war, dass er eine rote Lederjacke trug. Wo um alles in der Welt kriegt man Anfang der sechziger Jahre eine quietscherote Lederjacke her? Roter als jeder Nikolausmantel. Ich war die ganze Aufführung lang neidisch. Auf die rote Lederjacke und auf diesen Kerl, der die Sängerin kannte.

Wenn die Strophe mit dem lüttjen König allen geläufig ist, so scheint es in Bremen im 19. Jahrhundert dabei auch noch eine Variation gegeben zu haben, die weniger auf kleine Könige und auf Kinder von Zigarrenmaakers als auf soziales Elend hinweist:

Ick bün so’n lütten Schipperjung,
Mutt all miin Broot verdeen’n,
Den ganzen Dag in’t water stan
Mit mine korten Been’n
Halli, halli, hallo,
Nu geiht’t na Bremen to

Über das allmähliche Verfertigen der Gedanken beim Schreiben: da fange ich mit einer Kindheitserinnerung an, mit Versen, die ich immer noch aufsagen kann, und dann muss ich erkennen, dass wir Bremer mit diesem schönen Brauch nicht allein gewesen sind. Nikolauslaufen hat es überall gegeben. Inzwischen ist es beinahe ausgestorben, jetzt importieren wir kommerzialisierte amerikanische Bräuche wie Halloween. Im Norddeutschen Rundfunk wird darüber abgestimmt, ob die Hörer Last Christmas von Wham hören sollen. 54 Prozent der Anrufer sind dafür. Ich könnte wetten, dass keiner von denen, die den zum Dudelfunk heruntergekommenen NDR hören, ein halbes Dutzend deutscher Weihnachtslieder mit allen Strophen beherrscht.

Und die Zigarrenfabriken in Bremen gibt es auch nicht mehr, wenn man von Resten wie Martin Brinkmann (Lux, Peer Export, Lord Extra) mal absieht. Das ist aber nichts mehr vom Glanz der großen Zeit, als der Zigarrenkönig Friedrich Biermann von der Firma Leopold Engelhardt & Biermann sechstausend Arbeiter beschäftigte. Durch die für Bremen ungünstige Zollordnung, hat sich die Zigarrenfabrikation in der zweiten Häfte des 19. Jahrhunderts nach Bünde in Westfalen verlagert. Mein Opa hätte die Villa von Biermann in St. Magnus in den zwanziger Jahren billig kaufen können. Aber dann hätte er jeden Morgen zu seiner Schule durch den Arbeiterstadtteil Grohn (der für ihn den bösen Beinamen Kamerun bei Pumpe hatte) marschieren müssen, und das war dem kaisertreuen Ex-Hauptmann nun wirklich nicht zuzumuten.

Je mehr ich begann, den Anfängen des Nikolauslaufens nachzugehen, musste ich feststellen, dass natürlich die Volkskundler und die Lokalhistoriker sich schon mit dem Thema beschäftigt haben. War ja auch anzunehmen, dass hinter all dem, was wir tun, etwas Mythisches steckt. So wie es uns James George Frazer und Jessie L. Weston (ohne die wäre Eliots The Waste Land nichts geworden) gezeigt haben. Das interessiert einen aber nicht, wenn man mit kalten Füßen, laufender Nase und schidderigem roten Bademantel im Dunkeln an einer fremden Tür klingelt und die magischen Worte sagt: Nikolaus de gode Mann, kloppt an alle Dören an.

Mittwoch, 5. Dezember 2018

Aufstand


Es seien die schlimmsten Zerstörungen in Paris seit fünfzig Jahren, sagte ein französischer Minister. Fünfzig Jahre? Da war doch etwas? Niemand nimmt das Wort der Maiunruhen von 1968 in den Mund. Der Mensch hat, fürchte ich, von der Natur selbst etwas wie einen Instinkt zur Unmenschlichkeit mitbekommen, sagt Montaigne. Hier versuchen Reinigungskräfte den Satz Les Gilets Jaunes Triompheront vom Arc de Triomphe zu entfernen. Aufstände und Revolutionen verlangen in Frankreich nach symbolischen Bildern.

Also Bildern wie diesem, La liberté guidant le peuple von Delacroix. Es ist ein Gemälde, das Geschichte macht. Es ist oft persifliert worden, aber alle Varianten haben dem Bild der Marianne mit den nackten Brüsten nichts anhaben können. Man konnte das Bild nicht immer sehen. Als es zum Sturz der Bourbonen aufrief, hatte es seine Bestimmung erfüllt. Danach wurde es aus dem Verkehr gezogen, man fürchtete, dass es zum Symbol neuer Aufstände werden könne. Erst 1863 kehrte es in die Dauerausstellung des Palais du Luxembourg zurück, seit 1874 hängt es im Louvre.

Die Marianne des Jahres ist nicht barbusig, sie schwenkt die Flagge Vietnams, nicht die Frankreichs. Und sie ist auch keine Französin, sie kommt aus der englischen High Society. Als ihr Großvater das Bild sieht, enterbt er sie. Sie verliert den Anspruch auf einige Millionen Pfund Sterling. Die Analogie des gestellten Photos zu Delacroix' Bild hat jeder gesehen, auch Caroline de Bendern, die über Mademoiselle Liberté gesagt hat: I should have bared my breast. She had such awesome breasts. Caroline (zu der ich hier einen interessanten Artikel habe) lebt heute in Frankreich. Und sie ist gegen den Brexit.

Die Bilder, die häufig nichts mit der Realität zu tun haben, machen Aufstand und Revolution zu einer Bühne, die Maler und Photographen beliebig ausstaffieren können. An jenem berühmten 14. Juli 1789 wurde die Bastille gestürmt, eigentlich war das Ganze ein non event, das Gefängnis war nicht voller Gefangener.  Die schönen Worte von Liberté, Égalité, Fraternité waren noch nicht gefunden. Was bedeuten sie heute?

Die Damen und Herren in diesem Video sind gut gekleidet. Ein junger Mann knöpft noch sein Jackett zu, als man zu singen beginnt, er weiß, was sich gehört. Dass er wenig später da stehen wird, wo jetzt François Hollande steht, das weiß er noch nicht. Die Damen und Herren singen gemeinsam die Marseillaise. François Hollande hatte 2015 die beinahe 1.000 Vertreter der Nationalversammlung und des Senats nach Versailles eingeladen.

Nach den Terroranschlägen, bei denen 129 Menschen starben und mehrere Hundert zum Teil schwer verletzt wurden, wollte der Präsident ein Zeichen setzen: Notre démocratie a triomphé d'adversaires bien plus redoutables, en vérité, que ces lâches assassins. Notre République n'est pas à la portée de méprisables tueurs. Ma volonté est de mettre toute la puissance de l'Etat au service de la protection de nos concitoyens. Je sais pouvoir compter sur le dévouement des policiers, des gendarmes, des militaires, de vous-mêmes représentants de la nation. Vous connaissez le sens du devoir et, lorsque les circonstances l'exigent, l'esprit de sacrifice.

Drei Jahre später wird die Marseillaise unter dem Arc de Triomphe gesungen, aber es sind ganz andere Menschen, die da singen. Was zuerst nur ein Protest gegen Steuern und Preise war, ist längst zu einem Kampf von unten gegen oben geworden. Wohin sind Égalité und Fraternité gekommen? Ich habe zum Schluss noch ein kleines, rätselhaftes Video, das Szenen aus einem alten Spielfilm zeigt, wo eine vornehme Dame mit einer Louis Vuitton Tasche mit unsicherem Schritt ein schloßartiges Haus verlässt. Sie beachtet die im Hof liegenden Toten nicht, als sie ihren Mantel auszieht, setzt die Nationalhymne ein. Nicht strahlend von einem Heldentenor gesungen, sondern eher von einem Chansonnier mit Trauer in der Stimme. Und dazwischen immer wieder Szenen von Straßenkämpfen und Polizeigewalt, die uns beweisen, dass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist. Diese Szenen sind zeitlos, Straßenkämpfe und Polizeigewalt gibt es in Frankreich immer wieder. Das hört nie auf.

Sonntag, 2. Dezember 2018

Träumerei


Vielleicht ist der Titel falsch, wir müssen uns von Chopin und Schumann lösen, die Titel wie Träumerei im Programm hatten. Und auch eine TV Serie namens Reverie lassen wir aus. Und vielleicht passt dieses Bild von Paul Helleu, dem Maler der Belle Époque, nicht so ganz ins Bild. Es heißt zwar Rêverie, aber die rêverie, auf die ich hinaus will, ist etwas anderes als der träumerische Zustand der eleganten Dame. Wir kennen zwar nicht ihren Tagtraum, aber wir kennen ihren Namen. Es ist Alice Guérin, Helleus Modell (auch andere Maler wie John Singer Sargent haben sie gemalt), seine Muse und Ehefrau.

Du träumst ja schon wieder, Junge, sagte meine Mutter. Sie sagte es häufig, ich neigte zum Träumen. Tue ich immer noch. Gedankenverloren für kurze Zeit. Das, was die Franzosen rêverie nennen, ist längst zu einem philosophischen Begriff geworden. Der fest in französischer Hand ist. Namen wie Montaigne, Rousseau, Proust, François Ponge und Gaston Bachelard sind hier zu nennen. Letzteren habe ich schon in dem langen Post Roland Barthes gewürdigt, habe damals sein Werk La Poétique de la rêverie aber nicht erwähnt. Es ist ein Spätwerk des Philosophen, der einmal als Briefträger angefangen hat, fügt sich aber in vorangegangene Werke wie La Poétique de l’éspace ein. Wenn man sich einmal auf seine Sprache und seinen Stil eingelassen hat, ist er einer der interessantesten  Franzosen des 20. Jahrhunderts.

Ich hatte in dem Post Montaigne en allemand die Engländerin Sarah Bakewell vorgestellt. Und von der habe ich hier einen sehr klugen Aufsatz mit dem Titel Reverie and Ambush: On the Influence of Montaigne. Michel de Montaigne muss genannt werden, weil er am Anfang der Begriffsgeschichte der rêverie steht. Das können wir auch dem Wikipedia Artikel Tagtraum entnehmen. Das Wort rêverie hat damals (und noch bis in die Romantik) einen negativen Beiklang, Montaigne spricht von verworrenem Geschwätz und Phantastereien. Aber er schreibt alles auf, es ist der Beginn seiner Essais. Die ja auch häufig ungeordnet sind und glücklicherweise nicht den Maximen eines pedantischen Deutschlehrers für das Schreiben eines Besinnungsaufsatzes folgen.

Für Bachelard ist die rêverie der Beginn der Literatur: In contrast to a dream a reverie cannot be recounted. To be communicated, it must be written, written with emotion and taste, being relived all the more strongly because it is being written down. Vielleicht sind Marcel Prousts mémoires involontaires in ihrer exakten Dosierung zwischen Erinnerung und Vergessen auch aus der révererie des Autors entstanden.

Der Augenblick zwischen Traum und Erwachen rettet Reste des Traums in den Tag. John Fowles hat in Notes on an Unfinished Novel gesagt, dass er eines Morgens, noch halb im Schlaf ein Bild vor Augen hatte: It started four or five months ago as a visual image. A woman stands at the end of an ancient quay and stares out to sea. Er wurde das Bild nicht mehr los, die Szene mysterious und vaguely romantic kam immer wieder zurück. Er versuchte to analyze and hypothesize why it held some sort of immanent power. Die einsame Figur auf der Mole von Lyme Regis ist offensichtlich eine Ausgestoßene der viktoktorianischen Gesellschaft: I didn’t know her crime, but I wished to protect her. That is I began to fall in love with her. Or with her stance. I didn’t know which. Fowles verwirft den Roman, an dem er gerade schreibt und schreibt stattdessen The French Lieutenant’s Woman.

Wenn in dem Traum, aus dem man erwacht, Frauen vorkommen, hält sich dieser Traumfetzen offenbar lange. Ich zitiere einmal eben Marcel Proust, dessen mémoires involontaires vielleicht auch aus den reveries entstanden sind. Wir finden in Combray folgende Stelle: Zuweilen wurde während meines Schlafes aus einer falschen Lage meines Schenkels heraus ein Weib geboren, so wie Eva einer Rippe Adams entsprang. Obwohl ich sie der Lust verdankte, die zu genießen ich im Begriff war, stellte ich mir doch vor, dass vielmehr sie es war, die mir diese Lust verschaffte. Mein Körper, der in dem ihren seine eigene Brunst verspürte, wollte sich darin mit ihr vereinigen, und ich erwachte. Der Rest der Menschheit erschien mir wie in weite Ferne entrückt im Vergleich zu dieser Frau, die ich vor wenigen Augenblicken erst verlassen hatte; meine Wange war noch heiß von ihrem Kuss, mein Körper noch lahm von der Last ihrer Lenden. 

Wenn sie, wie es auch hin und wieder vorkam, die Züge einer Frau trug, die ich im wirklichen Leben gekannt hatte, so setzte ich anschließend alles an das eine Ziel: sie wiederzufinden, so wie es jenen ergeht, die eine Reise unternehmen, um mit ihren eigenen Augen eine ersehnte Stadt anzusehen, und dabei glauben, man könne auch in der Wirklichkeit den Zauber einer Träumerei genießen. Nach und nach verlor sich die Erinnerung an sie, ich hatte das Mädchen meines Traumes vergessen.

Aber nein, Marcel, die Mädchen der Träume vergisst man nicht. Ich habe da einen kleinen immer wiederkehrenden Tagtraum, bei dem ich zu einer Party auf der Dachterasse eines Hochhauses eingeladen bin. Das Hochhaus gibt es nur in diesem Traum, aber die Straße da unten mit ihren Häusern, die gibt es auch außerhalb von Träumen. Ich kenne die Häuser, ich weiß, wer da wohnt. Alles ist wie vor fünfzig Jahren, in meinen Träumen ist immer alles wie vor fünfzig Jahren. Wir bleiben ewig jung. Die Party ist langweilig, ich bin gerade dabei, die Dachterasse zu verlassen, da kommt sie. Diese Frau, die immer wieder in diesem Blog auftaucht. Sie trägt einen weißen Burberry Trenchcoat, obgleich es ein warmer Sommertag ist. Sie umarmt mich. Und flüstert mir zu, dass sie unter dem Trenchcoat nackt sei. Und an dieser Stelle ist der kleine Tagtraum immer zu Ende. Reicht das für einen Roman?