Mittwoch, 30. August 2017

Grundstückspreise


In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstehen überall in Europa Künstlerkolonien. Von Barbizon bis Skagen und ▹Worpswede. Aber nicht nur in Europa, auch in Amerika, wie man an dem Buchtitel American Art Colonies 1850-1930 entnehmen kann. Eine dieser Kolonien ist die Farm von Julian Alden Weir, der am 30. August 1852 geboren wurde. Er hatte seine Farm billig gekriegt, der Verkäufer nahm 10 Dollar dafür. Und ein Gemälde, das Weir besaß. Ein Gemälde und zehn Dollar sind kein schlechter Preis für 619.169 Quadratmeter. Die Farm, auf der berühmte amerikanische Maler gearbeitet haben, ist heute ein National Historic Site.

Der Mann, der Weir die Farm verkauft, heißt Erwin Davis. Im Gegensatz zu Johann August Sutter, dem ▹Kaiser von Kalifornien, ist Davis jemand, der am kalifornischen Goldrausch wirklich etwas verdient. Er besitzt Silberminen und spekuliert in Minengeschäften. Als er sich aus dem Geschäft zurückzieht, geht er nach New York und kauft europäische Kunst. Er hat zwar davon keine Ahnung, wie die meisten Millionäre des Gilded Age, aber er hat seine Leute. Einer davon ist der junge Maler Julian Weir. Der kauft 1881 in Europa  eine ganze Sammlung von Rembrandt Radierungen und dreißig Gemälde für Davis. Zwei der Gemälde sind von Manet, die Dame mit dem Papagei und den Knaben mit dem Schwert. Es sind die ersten Bilder von Manet in Amerika.

Weir kauft auf seiner Europareise auch noch für andere Sammler. Zum Beispiel mein Lieblingsbild ▹The Battle of the Kearsarge and the Alabama von Manet (heute in Philadelphia). Die amerikanischen Millionäre vertrauen ihm, sie geben ihm viel Geld in die Hand. Für den Bankier ▹Henry Gurdon Marquand wird er 1883 in London für 25.000 Dollar einen ▹Rembrandt kaufen. Damals war es ein Rembrandt, heute heißt es nur noch attributed to Rembrandt. Das ist so ähnlich wie bei dem ▹Bremer Rembrandt.

Den Tip mit Manet hatte ihm der Maler William Merritt Chase gegeben. Chase hat ▹hier schon einen ausführlichen Post, deshalb kann ich diesen hervorragenden Maler mal eben weglassen. Und ▹Manet kann ich auch weglassen, weil der immer wieder in diesem Blog erwähnt wurde. Was wir hier sehen, ist ein Bild, das Weir auf seiner Farm gemalt hat. Frisch, und gekonnt gemalt, aber der Impressionismus, zu dem er in den 1890er Jahren finden wird, ist noch weit weg.

Auch wenn er im Schatten von amerikanischen Malern wie John Singer Sargent und William Merritt Chase steht, Weir ist nicht ohne Erfolge. Dieses französische Bauernmädchen hat er 1875 gemalt, der Pariser Salon zeichnet es im nächsten Jahr mit einem Preis aus. Mit dem Impressionismus hat Weir damals noch nichts im Sinn, den fand er fürchterlich: I never in my life saw more horrible things ... They do not observe drawing nor form but give you an impression of what they call nature. It was worse than the Chamber of Horrors.

Julian Alden Weir, ist auf diesem Photo im Vordergrund, der Herr im Hintergrund wirkt sehr klein, aber er ist ein größerer Maler als Weir. Es ist sein Freund John Singer Sargent. Weir hatte ihn 1874 in Paris kennengelernt und sich notiert: Such men wake one up, and his principles are equal to his talents, I hope to have his friendship. Die Freundschaft mit Singer wird er bekommen, zuerst teilen sich beide in Paris ein Atelier und später wird Sargent seinen Freund immer wieder auf der Farm in Connecticut besuchen.

Drei Jahrzehnte vor dem Photo oben, das einen Monat vor dem Tod von Weir im Jahre 1919 gemacht wurde, hat Weir seinen Freund John Singer Sargent gemalt: I met this last week a young Mr. Sargent about eighteen years old and one of the most talented fellows I have ever come across. Ein anderer Zeitgenosse bekommt nicht so nette Worte von ihm. In einem Brief an seine Eltern redet er von a snob of the first water, a first class specimen of an eccentric man. Sein Vater wird da gelächelt haben, als er das las, denn ▹James Abbott McNeill Whistler war einmal sein Schüler an der Militärakademie West Point, wo Weir Senior Zeichenlehrer war.

Welches Bild Weir gegen die Farm eintauschte, wird ein Geheimnis bleiben, in keiner der Quellen, die ich eingesehen habe, wird es erwähnt. Vielleicht ist es auch nur eine gut erfundene Geschichte, und Weir hatte die Farm, auf der eines Tages ▹Childe Hassam, ▹Albert Pinkham Ryder, John Singer Sargent und John Twachtman malen werden, von Davis geschenkt bekommen. Als Dank dafür, dass Weir ihm diese schöne Kunstsammlung zusammengekauft hat.

Das Kornfeld da oben gefällt mit besser als die rote Brücke hier, aber die gilt als ein Hauptwerk von Weir. Der Mann, der 1877 an seine Eltern schrieb: I never in my life saw more horrible things, ist inzwischen zum Impressionismus übergegangen. Sag niemals nie. Really, I know not what I am best at. I believe I am a fisherman, dreamer and lover of nature . . . if I lived to 102 I might become an artist, hat er im Alter gesagt. 102 Jahre ist er zwar nicht alt geworden, aber ein guter Maler war er vorher doch schon.


Auf dieser ▹Seite können Sie viele Bilder von Weir sehen. Und noch mehr amerikanische Kunst aus dieser Zeit in den Posts: John French Sloan, William Merritt Chase, Thomas Eakins, Winslow Homer Frank Duveneck, Lilla Cabot Perry, Armory Show, Malerinnen

Sonntag, 27. August 2017

Jake, aka Bierwisch


Linguisten an der Uni sind nicht so mein Ding. Also, diese Sorte Wissenschaftler, über die Hans Wollschläger einmal sagte: Den Linguisten wird es eines Tages gelingen, den gesamten Weltlauf auf die einfache Formel 'Karlchen fährt Roller' zu reduzieren. In dem Post Hugo von Montfort erwähne ich eine pädagogisch und didaktisch völlig unfähige Flachpfeife, die jeden Sonnabendvormittag (!) an der Uni Hamburg dreihundert Leute in Gotisch unterrichtete. Und der Spagatprofessor, der seine Studenten per E-Mail betreut, ist natürlich auch Linguist. Geht nicht anders. Die Linguistin Gesine Lötzsch hat in diesem Blog schon einige gehässige Zeilen bekommen. Ich höre gleich mit dem Beschimpfen der Linguisten auf, muss aber noch eine kleine Geschichte einfügen.

Ich hatte etwas mit einer frischgebackenen Linguistikprofessorin zu besprechen, als die von einer Sekretärin aus dem Zimmer geholt wurde. Ich betrachtete die Schrankwand mit den Büchern. Die Schrankwand war nagelneu. Die da vorher stand, war anderthalb Jahre alt gewesen, so etwas war einer neuen Professorin natürlich nicht zuzumuten. Was da für Steuergelder für unsinniges Zeug bei Berufungsverhandlungen aus dem Fenster geworfen werden, das geht auf keine Kuhhaut. Ich betrachtete also die Schrankwand. Alle Bücher sahen nagelneu aus und waren offensichtlich mit dem Lineal ausgerichtet worden, bei mir sehen die Bücherregale ganz anders aus. Ich entdeckte in einem der aseptischen Regale Steven Pinker (den ich in dem Post awesome erwähnt habe) und zupfte sein Buch The Language Instinct vorsichtig aus dem Regal. Und sagte dann zu der zurückkehrenden Kollegin: Das ist doch mal ein nettes Buch. Sie blickte mich voller Verachtung an und sagte: Das ist nicht meine Art der Linguistik. Und da dachte ich mir: Guck mal, Baby, deshalb ist Steven Pinker auch in Harvard, und Du bist hier in der Provinz.

Soviel zu den Linguisten. Es gibt natürlich auch welche, die ich mit Respekt betrachte: Noam Chomsky zum Beispiel, obgleich der an der modernen Linguistik schuld ist. Aber seine politische Haltung ist zu bewundern. Oder ▹Jack Chambers, der neben der Linguistik noch ▹Jazzkritiker ist. Ich sage auch kein böses Wort über Henning Wode, das können Sie dem Post ▹Fußballmannschaft entnehmen. Bevor es Linguisten gab, gab es Sprachwissenschaftler. Das waren nicht die modischen Hallodris der deskriptiven Linguistik, die kein ▹Altenglisch oder Mittelenglisch mehr konnten, das waren seriöse Wissenschaftler. Und über einen von denen möchte ich heute ein paar Zeilen schreiben. Er heißt ▹Manfred Bierwisch (Bild), und er bekam in der vorletzten Woche einige kleinere Schlagzeilen in den Feuilletons der Zeitungen.

Weil er der Universität Rostock einen Berg von Briefen, beinahe anderthalb Tausend, geschenkt hat. Nun nimmt natürlich nicht jede Universität Briefe von jedermann an, aber Manfred Bierwisch ist nicht jedermann. Er war wahrscheinlich der berühmteste Sprachwissenschaftler der DDR. Claudia Schmölders hat ihn als einen Meister der deutschen Linguistik bezeichnet, sie hätte besser Sprachwissenschaft statt Linguistik gesagt. Hier ist Manfred Bierwisch (links) zusammen mit dem Professor Holger Helbig zu sehen, der in Rostock eine Professur hat, die den Namen von Uwe Johnson trägt. Und es ist die Korrespondenz mit seinem Freund Uwe Johnson, die Bierwisch der Universität übergeben hat. Johnson kannte seinen Freund, wie er in einem Interview sagte, nur als Jake: Gelegentlich hören wir, wie seine Eltern ihn mit Manfred anreden, aber wenn sie mit uns über ihn reden, benutzen sie seinen wirklichen Namen: Jake. Das ist der einzige Name, den ich für ihn von Anfang an und seitdem für immer hatte.

Ich kenne den Namen Manfred Bierwisch seit einem halben Jahrhundert. Damals machte sein Aufsatz Strukturalismus, Geschichte, Probleme und Methoden im Kursbuch 5 Furore. Jeder Anglistikstudent kaufte sich das Kursbuch 5, nur wegen des Aufsatzes eines ostdeutschen Sprachwissenschaftlers. In einem Workshop anläßlich der ▹Ehrenpromotion von Bierwisch sagte sein Kollege Günther Öhlschläger: Der 1966 erschienene Aufsatz „Strukturalismus. Geschichte, Probleme und Methoden“ ist sicherlich einer der am meisten gelesenen, am häufigsten wieder abgedruckten und einflussreichsten Arbeiten Manfred Bierwischs – vielleicht, ja wahrscheinlich sogar die einflussreichste überhaupt. Dieser Aufsatz hatte in der Tat eine solche Wirkung, dass es gerechtfertigt ist, ihn als markanten Einschnitt in der Geschichte der Sprachwissenschaft in Deutschland zu sehen – deshalb habe ich auch den Titel meines Vortrags so gewählt, wie ich ihn gewählt habe.

Im Hintergrund schrieb damals noch jemand an dem Artikel im Kursbuch mit, sozusagen eine Art Ghostwriter (deshalb habe ich dieses von Lutz Friedler verfremdete Johnson Portrait genommen), nämlich Bierwischs Freund Uwe Johnson: 1965 schrieb ich einen Essay für das Strukturalismus-Heft des Kursbuchs 5, das Enzensberger damals herausgab. Johnson hatte Enzensberger bei einem seiner Besuche zu mir nach Berlin-Lichtenberg mitgebracht, und wir haben uns mit unglaublicher Leichtigkeit verstanden: Ich ahnte, was er suchte für das Heft, und er verstand, was ich dazu zu sagen hatte, kaum daß ich es angedeutet hatte. Ich schrieb also diesen Artikel, und weil dies kein Fachjournal war, habe ich den Text Abschnitt für Abschnitt mit Johnson durchgesprochen. Die Geduld, die er mir wegen der nötigen Erläuterungen nachgesagt hat, gilt umgekehrt nicht weniger. Es war eine faszinierend-anstrengende Übung, der Artikel hat sehr davon profitiert. Daß er vielleicht nicht zuletzt darum dann ein Lehrtext für eine ganze Generation westdeutscher Linguistikstudenten geworden ist, ist eine andere, merkwürdige Geschichte. Kursbuch 5 war über mehrere Jahre der obligate Grundkurstext, nicht nur für Linguisten.

Dieses Hin- und Herverstehen zwischen Ost und West war schon eine kleine kulturelle Sensation. Kulturell ging ja nicht so viel zwischen den beiden Deutschlands, obgleich Wollschlägers Ulysses Übersetzung auch in der DDR erschien. Mein Onkel Karl war seinem Lehrer Gustav Seitz in die DDR gefolgt. Seitz konnte nach Hamburg zurück, als er keine Lust mehr auf die DDR hatte. Karl kriegte eine Professur, kam aber nicht mehr aus der DDR heraus. Der Anglist Robert Weimann war im Westen hoch angesehen, der durfte sogar eine Gastprofessur in den USA annehmen. Manche Musiker, Sänger und Dirigenten konnten hin- und herpendeln. Man konnte Peter Schreier auch im Westen hören, Walter Felsenstein konnte nach West-Berlin fahren, wann immer er wollte. Wo ich den gerade erwähne, muss ich mal eben sagen, dass ich die viel gerühmte Inszenierung von Das schlaue Füchslein damals gesehen habe. Ich hatte mein DDR Geld natürlich nicht 1:1 getauscht und saß deshalb ganz vorne. Um mich herum nur Parteibonzen mit Orden am schwarzen Anzug. Und englische Leutnants in Paradeuniform, die ihren Mädels mal ein bisschen DDR Kultur gönnen wollten. Ich fand die Tiere auf der Bühne in ihren billigen DDR Trikotagen total bescheuert, da gefielen mir die Bonzen und die Leutnants besser.

Vielleicht stellt man Manfred Bierwisch am besten durch ein kleines Gedicht vor, das der Amerikaner John Robert Ross geschrieben hat. Es hat den Titel Besuch und den Untertitel für Manfred Bierwisch:

Über Kopfsteinpflaster
drei Treppen rauf
angeklopft, Tür aufgerissen
Mensch! Kommt rein!

Mantel ab
Wein in den Kühlschrank
Beim Ofen sitzen 

Bach, Vivaldi,
Zeitungen, zig Aufsätze, lockende Bücher offen –
kein Tisch leer
Tannenbaumgerade
waschecht
grüne Augen, die beim Nachdenken
zur Seite gleiten 

Logik klar wie ein Bergbach
weiß, wo der Teufel steckt,
Der M. C. Escher der Linguistik. 

Geplauder beginnt
Wie geht’s der, und dem?
Sag bloß – schon wieder?

Kaffee und Schnecken
Witze und Lullen
Herz unendlich.

Zum Sachverhalt!
Sätze, Sätze,
ambig, monog

Theorien stark
Empirik schwach.
Erste Klaxidee
Gelächter höhnisch
schneller Rücktritt.

DANN: Beispielblitzen. 
Donnerwetter! Scheen!!
Das hieße denn,
man müßte gucken ob . . . 

Nee. Klappt nich.
Scheitert im russischen. Mist!
Schade drum. 
Moment! Warte man!
Wie wär’s denn,
wenn zweimal eingebettet? 

Käsebrot und Schinken.
Gespräch biegt ab
Tschechischer Rotwein
Brecht – im Kino? 
Hast schon gesehen?

Zusammen“arbeit”
nennt sich das. Quatsch.
Pures Freunde sein.
Reinste Fühlenschaft. 

Zaghaft kommt die Zeit zurück,
draußen lauert Abend.
Machema Schluß. 

Bis zum nächsten! Alles Gute!
Grüß die Familie! 

Es ist ein schönes, warmes Gedicht. Da merkt man gleich, dass der Bedichtete ein ganz anderer ist als die Luschen von Linguisten, die ich am Anfang zitierte. Die mit 'Karlchen fährt Roller'. Die Freundschaft von Manfred Bierwisch und Uwe Johnson ist in einem Interview dokumentiert, das unter dem Titel FünfundzwanzigJahre mit Ossian ins Johnson Jahrbuch gewandert ist. Es lohnt sich unbedingt, das zu lesen. Es lohnt sich auch immer Manfred Bierwisch zu lesen, ich könnte da Bedeuten die Grenzen meiner Sprache die Grenzen meiner Welt? empfehlen. Was nicht auf diesem Buch aus Reclams Universal Bibliothek steht, sind die Namen von Uwe Johnson und Manfred Bierwisch, die den mittelhochdeutschen Text in modernes Deutsch gebracht haben. Peter Wapnewski, der grand old man der deutschen Mediävistik, fand das damals in seiner ▹Rezension sensationell.

Da ich dabei bin, Dinge zu empfehlen, deren Lektüre sich unbedingt lohnt, muss ich Manfred Bierwischs Gattin erwähnen, die unter dem Namen Judith Macheiner so schöne Dinge wie Das grammatische Varieté oder Die Kunst und das Vergnügen, deutsche Sätze zu bilden oder Übersetzen - Ein Vademecum geschrieben hat. Englische Grüße oder Über die Leichtigkeit, mit der man eine fremde Sprache erlernen kann nicht zu vergessen. Früher habe ich diese Bücher meinen Studenten empfohlen, heute kann ich sie meinen Lesern empfehlen. Judith Macheiner, die eigentlich Monika Doherty-Bierwisch heißt, war Professorin für Übersetzungswissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Ich glaube, ▹Fritz Güttinger hätte sich mit ihr sehr gut verstanden.

Uwe Johnson hat seinen Freund in Twenty five years with Jake, a.k.a. Bierwisch hineingeschrieben, ist in deutscher Übersetzung als Fünfundzwanzig Jahre mit Jake, auch unter dem Namen Bierwisch bekannt in dem Band ▹'Wo ich her bin...' Uwe Johnson in der D.D.R. erschienen:

Dieses rundum geglückte Buch, überquellend von neuen Nachrichten zu Leben und Werk des in seiner Bedeutung für die Literatur des Jahrhunderts noch kaum erkannten, von der lesenden Öffentlichkeit noch gar nicht gewürdigten Erzählers, enthält einen in seiner Kuriosität schon ungeheuerlichen Beitrag: einen deutschen Text von Uwe Johnson, den Johnson so gar nicht geschrieben hat. Die siebzehn Seiten, erweitert um die doppelte Zahl dreier Beiträge mit Erklärungen und Erinnerungen, sind, auf traurige Art, bewegendes Herzstück des Bandes. Der gerade in Augenblicken gerührter Erregung eher wortkarg-spröde, norddeutsche Johnson schreibt einen vor Zuneigung vibrierenden Geburtstagsgruß - in feinstem Englisch - für einen Freund aus gemeinsamen Studentenzeiten in Leipzig (Manfred Bierwisch) - und darüber geht die Freundschaft zu Bruch. Jetzt können wir diesen Glückwunsch zum ersten Mal in deutscher Sprache lesen.

Die Hommage an Jake ist der Beginn einer Tragödie, das Ende einer Freundschaft. Bierwisch, der schon zehn Monate in einem Zuchthaus der DDR verbracht hatte, bittet darum, den Beitrag von Johnson für eine Festschrift nicht abzudrucken. Ist es in der Tat der Maßen unbequem für einen Bürger der DDR, seinen Namen im Druck in der Nähe des meinen zu wissen, oder ist dies Geburtstagskind ängstlicher als vernünftig? fragt Johnson. Er ist tödlich beleidigt, ein Sensibelchen wie die Prinzessin auf der Erbse. Bierwisch wird Johnson noch einmal 1982 bei der Beerdigung seiner Mutter sehen, unversöhnlich sei er gewesen.

Johnson hätte mal Philip Larkin lesen sollen, der in seinem Gedicht The Mower schrieb:

The first day after a death, the new absence
Is always the same; we should be careful
Of each other, we should be kind
While there is still time.


Aber das we should be careful Of each other, we should be kind While there is still time, das geht nicht in den sturen MeckPomm Schädel von Johnson hinein.

Uwe Johnson ist in diesem Blog schon mehrfach genannt worden, unter anderem in dem Post Lederjacken. Als ich jung war, habe ich den von mir bewunderten Autor in Bremen in der Glocke gehört, als er aus Das dritte Buch über Achim vorlas. Wenn ich ehrlich bin, war ich da nur wegen der Frau, die ich erst überreden musste mitzukommen. Ich hatte für sie extra eine zweite Karte gekauft. So wie in Berlin für die Liaisons dangereuses. Ich weiß noch, dass Johnson eine schwarze Lederjacke trug, die wie ein Jackett geschnitten war. Ein weißes Nyltestthemd, Kassenbrille, ein schmaler Schlips. Und dieser grauenhafte Haarschnitt. Eigentlich las er gut, sehr norddeutsch. Aber er ist kein Showman, er wird mit seinem Publikum nicht warm. Den findste gut? sagte meine Freundin hinterher spöttisch zu mir. Was soll man sagen? Wenn sie spöttisch war, schob sie dies Unterlippe ein wenig vor. Der Lippenstift bröckelte ein wenig ab. Ich merkte mir dieses Detail. Für wenn ich meinen Roman schreibe, dann kommt das da rein.

Autoren brauchen ihre Werke ja nicht unbedingt vorzulesen, aber immer wieder sind Autoren auf Lesereisen. Ich gehe heute zu solchen Veranstaltungen nicht mehr hin, da kann kommen, wer will. Außer wenn Uli Becker käme, den würde ich mir anhören. Doch Uwe Johnson ist Schuld daran, dass ich Anglist geworden bin. Ich hatte meine schwere Uwe Johnson Phase, seine Sprache färbte auf meine Sprache ab. Heute nicht mehr, heute schreibe ich eher wie ▹Fontane. Aber Johnsons Sprache hat immer noch ihre Anziehungskraft (oder auch ▹nicht - nicht ▹jeder mag ihn). In seinem Roman Mutmassungen über Jakob kommt ein Anglist vor (und Gesine Cresspahl hat Anglistik studiert), damals las ich das Wort Anglist zum ersten Mal. Und dann hörte ich einen Vortrag von ▹Arno Esch über Shakespeares Hamlet bei der Wittheit zu Bremen. Da war das mit der Anglistik beschlossene Sache. Sonst wäre ich wahrscheinlich Romanist geworden. Wegen ▹Proust, ▹Juliette Gréco, ▹Camus und dem ▹französischen Film.

Dass wir die Mutmassungen über Jakob damals bei meinem furchtbaren Deutschlehrer lasen, geschah nicht wegen der Sprache von Johnson. Das Buch war nicht wegen seiner literarischen Qualitäten auf den Stundenplan gekommen. Wenn man Qualität hätte haben wollen, hätte man damals ja auch Arno Schmidt lesen können. Über den Johnson wunderbar bösartige Dinge gesagt hat. Johnson wurde an der Schule behandelt, weil er ein Feind des Unrechtsregimes in der SBZ war (so die Sprache von 1960, eine andere Sprache als die von Johnson). Dass das Werk eines Schriftstellers zeitgleich in den Unterricht wandert, geschieht ja nicht so häufig. Normalerweise hat der Deutschunterricht seine Autoren lieber lange tot. Und auch nicht so gerne aus dem anderen Deutschland. Dass in der DDR jemand namens ▹Werner Bräunig schreibt, erfahren wir damals nicht.

Als Edgar Wibeau seinen Jeans Monolog zum ersten Mal auf der Bühne in Halle an der Saale hält, ist Uwe Johnson in England dabei, die Jahrestage zu schreiben und sich zu Tode zu trinken. Von der DDR nicht angenommen, in Westdeutschland fremd geblieben, hat er anfangs von Westberlin, dann von New York, schließlich von der Themsemündung aus Mecklenburg gesucht, hat Günter Grass geschrieben. Johnson selbst weiß, dass You can't go home again nicht nur ein Romantitel ist. Wo ich her bin, das gibt es nicht mehr, läßt er Gesine Cressphal sagen.

Michael Hamburger (der hier einen langen Post hat) hat mir einmal erzählt, wie er und Johnson sich getroffen haben. Johnson hat ihn und seine Familie auch in die Jahrestage hineingeschrieben. Aber die beiden sind nie wirklich miteinander warm geworden. Nachdem ich mehrere Biographien über Uwe Johnson und seine Briefe gelesen habe, weiß ich, dass das nicht an Michael Hamburger gelegen haben kann. Vielleicht sagt das folgende Zitat alles: Schon ziemlich zu Anfang unserer Freundschaft hatte Uwe Johnson mir in vollem Ernst gesagt, daß es, selbst wenn wir beide bis ins hohe Alter leben würden, nie in Frage kommen werde, uns mit dem vertraulichen Du anzureden.

Wir können in Deutschland Literatur nicht als Literatur behandeln, bei uns muss alles immer einen tieferen Sinn haben. Sehr tief. Kafka hat irgendeine tiefere Bedeutung, der ist gut für die Oberstufe. Auf den bin ich nie reingefallen, im Gegensatz zu Martin Walser, der in Des Lesers Selbstverständnis darüber ironisch berichtet: Als ich, um meine Mutter nicht zu enttäuschen, eine Dissertation schreiben sollte, blieb mir nichts anderes übrig, als über den Autor zu schreiben, der mich während meiner Studentenjahre gehindert hatte, andere Autoren wirklich zu lesen: Franz Kafka. Aber als ich über ihn schreiben wollte, stellte sich heraus, daß ich ihn nicht verstanden hatte. 

Ich habe gegenüber Uwe Johnson immer ein schlechtes Gewissen, weil ich zwar beinahe alles gelesen und vieles verstanden habe, aber nicht über den zweiten Band der Jahrestage hinausgekommen bin. Vielleicht wird das ja noch mal was. Ein Kleines Adreßbuch für Jerichow und New York besitze ich auf jeden Fall schon. Dann schreibe ich einen ganz langen Post über Uwe Johnson. Heute nicht. Mein Deutschlehrer in der Oberstufe kam aus der DDR. In Bremen stellte man zur Behebung des Lehrermangels Ende der fünfziger Jahre jeden geflohenen ostdeutschen Volksschullehrer ein. Mein Lehrer hatte eigentlich keine Ahnung von den Fächern, die er unterrichtete, aber er unterrichtete mit großer Emphase. Und er hatte einen autobiographischen Roman (unvollendet) geschrieben, aus dem er bei Kerzenlicht vorlas, als er die Klasse zu sich nach Hause eingeladen hatte, und wir alle auf dem Teppichboden lagen.

Zu der Lesung wurde billiger Rotwein serviert, das Zeuch, das die Nolibrüder tranken. Die Hausfrau fürchtete um ihren Teppichboden. Das Romanfragment handelte wohl von armen, idealistischen Lehrern in der DDR, ich weiß es nicht mehr genau. Ich hielt mich aus Verzweiflung an den Rotwein. Mein Lehrer wollte gerne wie Uwe Johnson sein - jeder wollte damals wie Uwe Johnson schreiben. Aber der Text des Lehrers, der stolz darauf ist, auf einer Napola gewesen zu sein, ist nur auf dem Niveau eines melodramatischen Hör Zu Romans. Beim Lesen bekommt sein Gesicht im Flackern der Kerzen wieder dieses Faustische, Fanatische. Oder ist das einfach nur ein bescheuerter Gesichtsausdruck? Peter und ich werfen uns im Halbdunkel des Zimmers verzweifelte Blicke zu. Mein kleiner Roman in der siebten Klasse bei Hermann Bollenhagen war besser als dies hier. Uwe Johnsons Erstling Ingrid Babendererde: Reifeprüfung 1953 hat Schwächen, aber nicht die Schwächen von dem, was wir uns hier anhören müssen.

Wenn der Abend endlich zu Ende ist, nehme ich nicht mit den anderen den Bus. Ich gehe die Straße namens Weizenfurt hinunter bis zu Knoops Park. Dies ist nicht die feine Gegend von St. Magnus, der Ort von Sommer in Lesmona, dies ist eine Neubausiedlung. Aber ich gehe an dem Haus vorbei, wo die mir vor Wochen noch völlig unbekannte blonde Frau wohnt, die mich nach der Party bei Sigrid vor zwei Wochen auf dem Nachhauseweg überfallartig geküsst hat. Ihr Nachhauseweg wäre damals nur wenige hundert Meter lang gewesen. Wegen des Küssens dauert er Stunden. Ich weiß nicht mal, wo sie in diesem Wohnblock wohnt, aber irgendwie ist das Erinnern an diesen Augenblick besser als die Erinnerung an das Fragment des Romans eben.

Mit der blonden Frau werde ich mich noch ein- oder zweimal treffen. Sie küsst da immer noch so gut, aber irgendwie wird nichts draus. Den Inhalt des Romanfragments unseres Lehrers habe ich vollständig vergessen, den Namen der blonden Küsserin nie. Ich gehe durch Knoops Park zur Lesum hinunter und dann an der Lesum entlang in der dunklen Sommernacht nach Hause. Irgendwie bin ich stillvergnügt, dass ich das schreckliche Erlebnis der Dichterlesung eine Uwe Johnson Imitators durch das schöne Erlebnis des Erinnerns des Knutschens ersetzt habe. Es schallte zwar nicht von fern immerfort die Musik herüber, und es fliegen auch keine Leuchtkugeln vom Schloss durch die stille Nacht über die Gärten, und die Donau rauscht nicht dazwischen herauf. Aber es war alles, alles gut!

Ich muss von Zeit zu Zeit ein wenig Eichendorff in meine Texte schmuggeln, sonst bin ich nicht glücklich. Der katholische schlesische Edelmann war natürlich für die DDR kein Thema - wie der Aufsatz von Bernd Springer, Eichendorff und der Dornröschenschlaf der Romantik in der DDR, zeigt. Wir sind 1962 in den beiden Deutschlands kulturell weit auseinander. Aber sie haben das in der DDR später wiedergutgemacht und 1988 eine Eichendorf Briefmarke herausgebracht.

Der Roman meines Deutschlehrers, der dank der Unterstützung eines alten Nazis wegen seiner Napola Vergangenheit eines Tages eine Direktorenstellung an einer Privatschule bekommen wird, ist glücklicherweise nie veröffentlicht worden. Er wird als 80-jähriger noch beginnen, wirres Zeug über Fontane zu schreiben (alles im Selbstverlag). Die Romane von Uwe Johnson sind heute noch alle erhältlich und die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften bereitet zusammen mit der Universität Rostock eine Gesamtausgabe vor. Manfred Bierwisch ist erst in einem Alter Professor geworden, als andere Professoren in den Ruhestand gingen. Aber dann hat die Akademia doch noch alles wieder gutgemacht und bewarf ihn mit Ehrendoktortiteln und solchen Dingen. Hier wird ihm gerade 2012 der erste Wilhelm von Humboldt Preis der Deutschen Gesellschaft für Sprachwissenschaft für das Lebenswerk verliehen. Hat er verdient.

Freitag, 25. August 2017

Geburtstagskinder


Der ▹Herr, der hier auf die Bremer Stadtmusikanten hinweist, hat heute Geburtstag. Deshalb kriegt er einen kleinen Post mit meinen Glückwünschen. Er erfreute die Leser dieses Blogs mit seinen Karikaturen ja schon häufig. Wie zum Beispiel dem wunderbaren Hahn in ▹Politisch Lied, den schlittschuhlaufenden ▹Stadtmusikanten oder dem ▹badenden Bischof.

Das Äußere täuscht, man sieht es diesem soignierten Herren nicht an, dass er, wenn man ihm einen Stift oder einen alten Füllfederhalter in die linke Hand drückt, ganz fies und böse sein kann. Man würde eher vermuten, dass er in seinem Leben etwas ganz anderes gemacht hat, als Cartoons zu zeichnen. Hat er auch: Jurastudium, Polizeirat bei der Kripo, Staatsanwalt, Professor für Strafrecht. Und das ganze Leben lang gezeichnet, in der Schule schon. Unter der Bank. Damals hat niemand von uns gedacht (er wohl auch nicht), dass seine Cartoons eines Tages in ▹Ausstellungen zu sehen sein würden.

Er hat auch immer photographiert, wie wir alle. Hatte ein Photolabor auf dem Boden, meins war im Keller. Er durfte auch manchmal eine der ▹Leicas seines Vaters benutzen. Ich war damals schon über meine ▹Werra glücklich. Ich verdanke ihm den Abzug von einer Glasplatte mit der kaiserlichen Yacht Iduna (die Geschichte steht schon in dem Post ▹Max Oertz). Und ich verdanke ihm auch die Platten, die er mir aus Amerika schickte, ▹Harry Belafonte und ▹Jazz. Dafür haben wir ihn auch nett begrüßt, als er aus Amerika kommend wieder in Rotterdam ankam. Er ist der zweite von links, der ohne Schlips. Ich trage so etwas natürlich, tat man damals, wenn man neunzehn war. Aber immerhin trägt er stilvoll einen Anzug. Das gehört sich auch für den Sohn des besten ▹Herrenausstatters im Ort.

Noch ein anderer Cartoonist hat heute Geburtstag, der etwas berühmter ist als mein Freund Ekke. Hier wird er gerade von Donald Duck gemalt. Das ist die Ente mit dem ▹Kieler Knabenanzug, die Carl Barks erfunden hat. Ich hätte heute aber noch mehr Geburtstagskinder anzubieten, die mit Feder und Pinsel umgehen konnten.

Carl Barks zählt nicht unbedingt zu den Vorbildern von Ekke Dahle. Von Journalisten nach seinen Vorbildern gefragt, hat er ▹Wilhelm Busch und Olaf Gulbransson genannt. Und Tomi Ungerer, Robert Gernhardt und Til Mette. Aber auch ▹Ronald Searle und Sempé. An ▹Sempé kommt niemand vorbei. Alle Namen sagen mir etwas, weil ich vor einem halben Jahrhundert begonnen haben, die Bücher von Cartoonisten zu sammeln. Ich habe schon zweieinhalb Regalmeter. Ekke bestimmt auch.

Als ich für die Bibliothek des Englischen Seminars Bücher von ▹Ronald Searle anschaffte, wurde ich von Kollgen gefragt, was das solle. Ich fragte die Banausen, was denn die englische Kultur ohne Hogarth ohne ▹Thomas Rowlandson, ohne ▹James Gillray etc wäre? Wir können das noch weiter denken. Was ist mit einer Kultur, in der es keine Karikatur und eine Cartoons gibt? Glücklicherweise haben die Engländer seit dem 18. Jahrhundert einen Reichtum von Karikaturisten. Haben zum Beispiel diesen wunderbaren Searle Cartoon (Sorry Madam, no smoking in the museum), übrigens eine Variante eines älteren ▹Cartoons. Searle hat die nackte Raucherin für den französischen Figaro gezeichnet, eine englische Zeitung hätte das wahrscheinlich 1955 nicht gedruckt. Die Engländer entdecken erst mit ▹Christine Keeler, dass es so etwas wie Sex gibt. Wir können an diesem Cartoon das Selbstverständnis zweier Kulturen festmachen. ▹Roland Barthes und ▹Leo Spitzer haben uns gezeigt, wie man das macht.

Das berühmteste Geburtstagskind der malenden Zunft des heutigen Tages ist natürlich George Stubbs, aber über den gibt es heute hier nichts. Der hat mit ▹George Stubbs und ▹Bildbschreibung schon zwei Posts. Ich möchte lieber zum Schluss auf eine vielleicht wenig bekannte Malerin hinweisen, die Stimmungsimpressionistin Marie Egner hinweisen, weil die nicht so bekannt ist. Dieses um 1890 gemalte Bild zeigt einen Blick aus ihrem Atelier in der Klagbaumgasse im 4. Bezirk. Viele Maler haben einen Blick aus dem Fenster geworfen und gemalt, was sie da draußen sahen.

In dem Post zu ▹Friedrich Wasmann findet sich zum Beispiel der schöne Blick in die Campagna. Und zu dem Blick von ▹Blechen aus dem Fenster des Hauses Kochstraße 9 in Berlin hat Theodor Fontane gesagt, dass er das Bild gern in seinem privatesten Raum gehabt hätte. Vielleicht schreibe ich einmal einen Post über Fenster in der Malerei. Da darf das Bild von ▹Sir John Lavery nicht fehlen, und ▹Thomas Jones, dessen Bilder man mit Marie Egners Bild vergleichen kann, kommt da auch vor. Natürlich kann man beim Blick aus dem Fenster auch diese pastorale Idylle unseres Geburtstagskinds, dem ich hiermit herzlich gratuliere, sehen.

Mittwoch, 23. August 2017

Störungen


Der Post Dunkelheit, den ich am 21. August um 00.04 ins Netz stellte, war erst einmal das Letzte, was mich mit dem Netz verband. Weil die Firma Vodafone beschlossen hatte, dass zu viel Bloggerei nicht gut für mich sei und mich wegen einer Störung von Telephon und Internet abschnitt. Das sind die Augenblicke, in denen man merkt, wie abhängig man von dem ganzen elektronischen Kram geworden ist. Insofern war es von einiger Symbolik, dass nach dem Post Dunkelheit erst einmal Schluss war. Als ich im letzten Jahr eine Woche auf meinen neuen Computer warten musste, hatte ich schon leichte Entzugserscheinungen. Meine erste Störung habe ich noch mit einem Lächeln abgetan, als ich den Post Easybox schrieb, war ich nicht mehr so nett zu Vodafone.

Wenn man bei Google die Wörter Vodafone und unfähig eingibt, bekommt man ganz viele Ergebnisse. Wenn man die Wörter Telekom und Störungen eingibt, kommt man zu ähnlichen Resultaten. Die beiden Firmen streiten darum, wer der Deutsche Meister der Störungen ist. Im Versagen liegt die deutsche Stärke, vom Flughafen BER bis zu den kriminellen Machenschaften der deutschen Autoindustrie. Was die Schnelligkeit des Internets betrifft, liegt Deutschland übrigens international auf Platz 25. Auf den Seiten der Vodafone Störungen findet man verzweifelte Nachrichten: bei mir geht nix kein Telefonieren kein Internet mein Handy ist tot...was ist da los.. ich erwarte dringende Anrufe ;-( weis man wie lange das so geht? Philosophisch gesehen kann man dem den Satz von Ruth C. Cohn entgegenhalten: Störungen und Betroffenheiten haben Vorrang, ob wir es wollen oder nicht! Es kommt nur darauf an, wie wir mit ihnen umgehen – darin liegt ein Teil unserer Freiheit.

Der Romanautor Friedrich Theodor Vischer (der hier natürlich schon einen Post hat und auch in dem Post Kuhreigen vorkommt) hat den Begriff von der Tücke des Objekts geprägt. Wozu der Philosoph Wittgenstein sagte: Die ,Tücke‘ des Objekts ist ein dummer Anthropomorphismus. Denn die Wahrheit ist viel ernster als diese Fiktion. Aber was versteht Wittgenstein vom Alltag? Seine Doktorprüfung bei den Professoren Bertrand Russell und George Edward Moore hatte noch nicht angefangen, als Wittgenstein sagte: Das ist das Albernste, was mir je in meinem Leben vorgekommen ist. Am Ende der Prüfung klopft er seinen Prüfern auf die Schulter und sagt: Ich weiß, ihr werdet es nie verstehen. Wenn er heute lebte, wäre er bestimmt Chef von Vodafone, mit dem Satz Ich weiß, ihr werdet es nie verstehen, kann man durch jede Krise kommen.

Auf den Seiten von Vodafone ist die Welt in Ordnung, da ist die Firma ganz großartig. Was wir da lesen können, entspricht Kants Definition des Wahnwitzes: Wahnwitz ( insania ) ist eine gestörte Urtheilskraft: wodurch das Gemüth durch Analogien hingehalten wird, die mit Begriffen einander ähnlicher Dinge verwechselt werden, und so die Einbildungskraft ein dem Verstande ähnliches Spiel der Verknüpfung disparater Dinge als das Allgemeine vorgaukelt, worunter die letzteren Vorstellungen enthalten waren. Die Seelenkranken dieser Art sind mehrentheils sehr vergnügt, dichten abgeschmackt und gefallen sich in dem Reichthum einer so ausgebreiteten Verwandtschaft sich ihrer Meinung nach zusammenreimender Begriffe. - Der Wahnsinnige dieser Art ist nicht zu heilen: weil er wie die Poesie überhaupt schöpferisch und durch Mannigfaltigkeit unterhaltend ist. - Diese dritte Verrückung ist zwar methodisch, aber nur fragmentarisch.

Montag, 21. August 2017

Dunkelheit


Heute wird es dunkel in Amerika. Ganz dunkel. Es ist schon dunkel in Amerika geworden, seit Trump Präsident ist, aber jetzt wird es richtig dunkel. Zum ersten Mal seit 1918 gibt es eine totale Sonnenfinsternis. Donald Trump (der während einer Mondfinsternis geboren wurde) könnte seinen Science Advisor fragen, was eine Sonnenfinsternis ist, aber er hat keinen wissenschaftlichen Berater. Er ist der erste Präsident seit Franklin Delano Roosevelt, der keinen Science Advisor hat. Braucht er nicht, er hat ja genügend Berater mit Kurzzeitvertrag. Einer, der gerade gefeuert wurde, sagte in seinem ersten Interview, als er ins Weiße Haus berufen wurde: Darkness is good. Finden manche in Amerika nicht. Die Washington Post hat jetzt den Slogan Democracy Dies in Darkness auf der Titelseite. Seit einigen Tagen kursiert der Spruch Dear God, if you want us to impeach Trump, give us a sign. Like blot out the sun … Anytime in the next week. Thanks, Americans im Internet. Vielleicht ist da ja was dran. Vielleicht sollte man dem hier ausgesprochenen Wunsch noch den Wunsch aus der Apostelgeschichte an die Amerikaner hinzusetzen: To open their eyes, and to turn them from darkness to light, and from the power of Satan unto God, that they may receive forgiveness of sins, and inheritance among them which are sanctified by faith that is in me.

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Sonntag, 20. August 2017

Attolini


Ich guckte das Photo dieses Jacketts bei ebay scharf an und fragte mich, wer wohl der Hersteller sei. Es stand da, dass das Jackett von Patrick Hellmann sei, aber Hellmann macht natürlich keine Jacketts. Am Anfang hatte er in seiner Patrick Hellmann Collection viel von ▹Kiton und Attolini, danach gab es vieles, was in Polen genäht wurde. Das muss nichts Schlechtes sein, auch ▹Regent ließ da mal jahrelang fertigen. Heute kommt beinahe alles, was den Namen Patrick Hellmann trägt, aus Portugal von der Firma ▹Diniz + Cruz. Das habe ich schon in dem Post ▹Berliner Mode gesagt, mehrere Leser haben mir das nach einem Blick auf das Etikett in der Innentasche bestätigt.

Das Jackett hatte bei ebay nur zwei Photos, von vorn und von hinten. Ich kopierte mir die auf den Schreibtisch und vergrößerte sie. Brachte bei der Qualität des Originals wenig. Doch es war mir ziemlich klar, dass das Jackett von Attolini stammte, die barchetta Brusttasche, das opulente Revers und die Schultern wiesen alle auf Attolini hin. Aber man guckt da doch noch mal genau hin, bevor man bei einem Preis von 49 € (portofrei) für ein Kaschmirjackett dieses magische sofort kaufen anklickt. Ich hatte natürlich mit meiner Annahme recht, auch mein Jackett hat dieses Etikett. Aber wo hier der Name des Hamburger ▹Herrenausstatters Braun steht, steht auf meinem Etikett Sartoria Attolini cuce a mano per Patrick Hellmann.

Es gibt in Neapel noch einen anderen Attolini, der auch Anzüge näht. Lange nicht so teuer wie Caesare Attolini, aber gar nicht schlecht. Der Firmengründer heißt Luciano Attolini, und die Firma ist älter als die von Caesare Attolini. Die beiden Familien sollen sogar entfernt miteinander verwandt sein, haben geschäftlich nichts miteinander zu tun. Ich habe seit vielen Jahren einen Anzug von Luciano Attolini, erstklassiger Schnitt, erstklassiger Stoff (Loro Piana), und das Ganze für einen Hunni. Noch D-Mark. Ich kann nichts Böses über Luciano Attolini sagen.

Über Caesare Attolini (hier ein Bild des Firmengründers Vincenzo) natürlich auch nicht. Er ist dafür berühmt geworden, dass er das neapolitanische Jackett erfunden hat. Fließende Linien, kaum Schulterpolster und kaum Einlagen. Das macht man in Neapel noch heute. Attolini arbeitete damals für ▹Gennaro Rubinacci, und diesen Schneider gibt es heute immer noch. Wenn wir ganz genau sind, dann hat wohl Caesare Attolini nicht das neapolitanische Jackett erfunden, sondern ▹Domenico Caraceni. Bei dem der Herzog von Windsor sich auch mal Anzüge machen ließ.

Der ansonsten auf den Holländer ▹Frederick Scholte vertraute, der etwas kreierte, was man den ▹drape look nannte. Natürliche Schultern, viel Platz in der Brust und eine schmale Taille. Das ähnelte dem Schnitt der Uniform der Gardeoffiziere. Auch Anthony Sinclair, der aus Sean Connery James Bond machte, orientierte sich an diesem Stil (lesen Sie mehr dazu in ▹Agentenmode und ▹Scotland Forever), schließlich war der Regisseur Terence Young Offizier in einem Garderegiment gewesen. Da lag es nahe, dass er Connery zu seinem Schneider schleppte.

Der Herzog von Windsor sagte über seinen ▹SchneiderFrom 1919 until 1959 –- a space of forty years -– my principal tailor in London was Scholte. It is a firm which, alas, no longer exists… [Scholte] once told me that as a young man he had had to serve ten years of arduous apprenticeship before he was allowed to cut a suit for a client. He had the strictest ideas as to how a gentleman should and should not be dressed…he disapproved strongly of any form of exaggeration in the style of the coat …As befitted an artist and craftsman, Scholte had rigid standards concerning the perfect balance of proportions between shoulders and waist in the cut of a coat to clothe the masculine torso. Fruity [Metcalfe] who, for all his discretion of costume was always ready for some experiment, had sinned by demanding wider shoulders and a narrower waist. Thus, for some time, he was excluded from Scholte’s sacred precints. These peculiar proportions were Scholte’s secret formula.

Der Unterschied zu Attolini und Caraceni war allerdings, dass die Savile Row in den dreißiger Jahren bei ihrem ▹natural look Stoffe verwendete, die zwischen 13 und 20 Unzen wogen. Die kann man auch zur Moorhuhnjagd anziehen, garantiert thornproof. Die einmal geschneiderte Form blieb immer erhalten, der Anzug veränderte sich nicht; formtreu, wie es bei C&A in den fünfziger Jahren hieß. Noel Coward pflegte seine Anzüge gegen die Wand zu werfen, damit sie weicher wurden. Ich glaube, das war vergebene Liebesmühe. Fred Astaire bat das Personal bei Anderson & Sheppard, wenn er seinen neuesten Anzug anprobierte, die Teppiche wegzuräumen. Und tanzte dann durch den Laden. Er brauchte Bewegungsfreiheit in seinen Anzügen.

Frederick Scholte hielt nicht viel von den Größen des Showgeschäfts, sie mochten Millionäre sein und durch den Laden tanzen, aber sie waren keine Gentlemen. Scholte hatte den jungen Schweden Per Anderson ausgebildet, der später Sidney Sheppard als Kompagnon in seine Firma aufnahm. ▹Anderson & Sheppard ist heute immer noch der berühmteste Name der Savile Row. Genau genommen sitzen sie in der Old Burlington Street, aber das zählt zur Savile Row sozusagen dazu. Das ▹neapolitanische Jackett von Caesare Attolini wird nicht auf der Stelle ein Renner sein, die italienische Oberschicht bevorzugt noch lange den englischen Stil und englische Kleidung. Deshalb werden Firmen wie Chester Barrie und ▹Simon Ackerman in Italien auch noch lange Erfolg haben. Richard Froomberg, der die Boutique Grey Flannel in London besitzt, hat dazu gesagt: The English wear Italian because they think it's chic. And the Italians wear English because they think it's chic.

Wenn man die fließenden Linien des natural style der Engländer mit Stoffen erreichen will, die weniger als 13 Unzen wiegen, dann ist das nicht so einfach. Mein Versuch, meine Oma Ende der fünfziger Jahre zu überreden, die Schulterpolster und den ▹Brustplack aus meinem Tweedjackett zu nehmen, scheiterte. Das geht nicht, Dschunge, sagte sie und erklärte mir, warum das an meinem Jackett nicht ging. Aber ein Oberhemd mit blau-weißen Streifen hat sie mir genäht, ich war der einzige im Ort, der so etwas besaß. Die Modezeichnungen wie diese hier verhießen dem Konsumenten etwas, was an den neapolitanischen Stil und den drape look heranreichte, die Wirklichkeit des Alltags der fifties sah anders aus. Ganz anders.

Der englische Schneider ▹Steven Hitchcock hat zu dem Thema der natürlichen Linie gesagt: You’ve got to have the techniques and the cutting skills and the tailors. The craftsmen have got to be even better than they were thirty or forty years ago. When you look at [one of our suits], hopefully it will look the same as Cary Grant, Fred Astaire and the Duke of Windsor, but the tailoring is actually much better. With more lightweight cloths, the tailoring is much more luxurious now, but it’s very difficult to achieve – we can only make 150 suits a year. You have to be a much better craftsman today. Das Bild hier zeigt ein Sakko von Attolini mit der neapolitanischen Schulter, die das Gegenteil einer Cifonelli Schulter ist, bei der Giacca a Mappina ist sie locker eingesetzt wie ein Hemdärmel.

Als Vincenzo Attolini den berühmten Gennaro Rubinacci verlässt, macht er sich kurz vor dem Zweiten Weltkrieg in der Via Vetriera in Neapel mit einem Atelier selbstständig. Das hat noch nichts von der Fabrik seines Sohnes Caesare in Casalnuovo di Napoli (die liegt zwischen IKEA Napoli und dem Fiat Werk) an sich. Hier arbeiten heute 130 Schneider und Schneiderinnen, ich nehme mal an, dass die Mädels hier die Knopflöcher nähen. Attolini macht gute Knopflöcher, aber die von Kiton sind viel eindrucksvoller.

Und ich möchte an dieser Stelle einmal anfügen, dass ich letztens ein zwei Jahre altes, aber nie getragenes Regent Jackett gekauft habe (5 € bei ebay), das so erstklassige Knopflöcher hat, wie ich sie in den letzten Jahrzehnten noch nie an einem Regent Jackett gesehen habe. Knopflochfetischischten lesen an dieser Stelle bitte einmal die Posts ▹Ärmelknöpfe und ▹Ärmelfutter. In letzterem findet sich das schöne Zitat von Tom Wolfe über die Cypriot seamstresses who made buttonholes and can't speak any English findet. Wer wunderbare Knopflöcher kann, verdient nie so viel wie ein Schneider, das wird bei Attolini nicht anders sein.

Das Atelier von Vincenzo ist etwas mehr als fünfzig Quadratmeter groß. Eine Art Wohnzimmer für die Bourgeoisie von Neapel. Die Wände sind voller Gemälde, viele Kunden von Attolini bezahlen ihren Anzug mit Kunstwerken, weil sie wissen, dass der Meister das mag. Attolini liebte auch die Oper, über die er mit Kunden und Freunden gerne diskutierte. Zu seinen Freunden zählte auch der Schauspieler Totò (der Mann mit den längsten Adelstiteln Italiens). Attolini hatte im Gegensatz zu Frederick Scholte nichts gegen Schauspieler. Diese beiden Herren tragen Attolini, ob der Bikini von der jungen Dame auch von Attolini ist, das weiß ich nicht.

Der Film ▹It Started in Naples, in dem Clark Gable und Vittoria de Sica in Anzügen von Attolini zu sehen sind, war eine gute Reklame für Attolini. Heute ist es ein Film wie La Grande Bellezza (Filmbild), aber heute braucht die Firma Werbung wahrscheinlich nicht mehr. Der Schnitt der Jacketts ist dergleiche geblieben, aber das Bild der Frau hat sich in einem halben Jahrhundert doch verändert. War es 1960 noch ein halbwegs züchtiger blauer Bikini, räkeln sich jetzt nackte Schlampen auf dem Fauteuil.

Film und Mode gehen in Italien nach dem Zweiten Weltkrieg Hand in Hand, Sie könnten jetzt mal eben den Post ▹Cinecittà und die Mode lesen, dann wissen Sie mehr. Und ich brauche das nicht zu wiederholen, dieser Post hier wird eh zu lang. Vittoria de Sica war Kunde bei Rubinacci gewesen, aber als Attolini Rubinacci verließ, folgte de Sica dem Meisterschneider in die Via Vetriera. Er wusste, dass er bei ihm richtig war, um das oberste Ziel des italienischen Mannes zu erreichen: fare una bella figura

Das wusste auch Marcello Mastroianni, der auch Kunde bei Attolini war, obgleich es ihm nicht klar war, dass er plötzlich ein Star war, den jeder imitieren wollte: Jemand sagte zu mir viele Jahre später: 'Als wir dich in 'Das süße Leben' in so bestimmten gestreiften Hemden, in diesem weißen Anzug und mit dieser Sonnenbrille gesehen haben, wollten wir wissen, wo wir diese Sache kaufen könnten'. 

Oder das Auto, das ich fuhr, diesen Triumph Spider, der wieder Mode wurde. Denn es stimmt,dass jener Marcello aus 'Das süße Leben', der den Antihelden darstellte, fast schon die Rolle des Helden übernommen hatte. Damals habe ich das nicht begriffen, weil noch nie ein Fan-girl auf mich am Hoteleingang oder vor einem Filmsaal gewartet hatte. Meine Oma hat nie einen Film mit Mastroianni gesehen, deshalb wusste sie auch nicht, weshalb ihr Enkel ein Hemd mit Streifen brauchte, kaum dass er ▹Das süße Leben gesehen hatte.

Neapel ist ein Paradies, jedermann lebt in einer Art von trunkner Selbstvergessenheit. Mit geht es ebenso, ich erkenne mich kaum, ich scheine mir ein ganz anderer Mensch. Gestern dacht' ich: 'Entweder du warst sonst toll, oder du bist es jetzt', schreibt Goethe in seiner Italienischen Reise. Man glaubt in Neapel, nicht erst seit den Tagen von Goethe oder des Schneiders Vincenzo Attolini, dass dies die eleganteste Stadt Italiens ist. Dass hier die besten Schneider sitzen und hier die bestangezogenen Herren auf den Straßen flanieren. Nicht in Rom oder Mailand. Nein, in Neapel, wo der Müll und die Mafia zu Hause sind. Es wird die Neapolitaner geschmerzt haben, dass ihre Stadt in Alan Flussers Style and the Man überhaupt nicht erwähnt wird. Rom und Mailand schon.

In den neunziger Jahren kam Kiton nach Deutschland, niemand redete damals on Attolini. ▹Hans Carl Capelle nahm in seinem Laden ▹Kelly's einige Stücke ins Angebot und sicherte sich selbst einen grauen Zweireiher. Den er immer trug, wenn er zur Industrie- und Handelkammer musste. Aber er konnte sich nicht wirklich entschließen und vertraute lieber auf ▹Zegna, die damals noch Qualität lieferten, und ▹Caruso.

Es waren eher die Händler in Süddeutschland, die die Marke Kiton propagierten. W.J. Stamm in Nürnberg (der sich 2002 zum vierzigjährigen Jubiläum sogar eine Festschrift gönnte), Rudolf Böll (der ▹hier schon einen Post hat) oder Max Dietl. Für Fritz Unützer gab es neben Kiton nur noch ▹Caruso, er sagte in einem Interview, Caruso sei das einzige Produkt in dieser Preislage, das in der Anmutung in die Nähe eines Kiton-Sakkos kommt. Warum redet niemand von Attolini? Die Antwort ist ganz simpel: die sind noch gar nicht im Geschäft.

In der Selbstdarstellung der Firma Attolini wird uns vorgegaukelt, dass es eine direkte Linie von Vincenzos neapolitanischem Jackett zur heutigen Firma gibt. Hier ist eins, das Attolini in den dreißiger Jahre in seiner Zeit bei Rubinacci gemacht hat, man kann sehr schön die barchetta Form der Brusttasche sehen. Aber es gibt diese ungebrochene Tradition nicht. Vincenzo Attolinis Sohn Cesare arbeitet in den fünfziger und sechziger Jahren für alle möglichen Firmen. In den neunziger Jahren gründet er eine eigene Firma, die er Sartorio nennt, er verkauft sie 2002 an ▹Kiton. Kiton bringt dann die Marke Sartorio 2009 auf den amerikanischen Markt, preislich etwas günstiger als ihr Kiton Label.

Zu Kiton hat Cesare Attolini, der immer noch in der Firma ist, ein besonderes Verhältnis. Denn als Ciro Paone und Antonio Carola die Firma gründen, sind zwei Spezialisten für die Kollektion verantwortlich. Der eine heißt Enrico Isaia, er ist für das Design von Kiton zuständig. Ganz nebenbei hat er mit seinen Brüdern schon seit 1957 eine eigene ▹Firma. Die noch ein etwas preiswerteren Zweitlabel namens Michelangelo hat (für den amerikanischen Markt hat Isaia noch eine Zweitmarke namens Eidos). Der zweite Spezialist, dem die ganze Schneiderei untersteht, ist niemand anderer als Cesare Attolini. Wenn man so will, könnte man sagen, dass aus Kiton nichts geworden wäre, wenn sie nicht Cesare Attolini gehabt hätten. Das wird allerdings auf den Seiten von Attolini niemals erwähnt.

Heute sitzen keine Schneider mehr im Schneidersitz auf dem Tisch, die Fabrik von Attolini sieht aus wie jede andere Fabrik, die ▹Maßkonfektion herstellt. Es gibt 130 Schneider, und man produziert ungefähr 35 Anzüge am Tag. Für einen Anzug braucht man 25 bis 30 Stunden. Was Attolini am Tag herstellt, wird in einer der vielen Fabriken von Boss wahrscheinlich in der Stunde fertiggestellt werden. Trotz einer großen Nachfrage werden die Produktionszahlen nicht erhöht. Der jüngste Sohn von Cesare Attolini hat auch noch eine eigene kleine Fabrik, in der dreißig Schneider arbeiten.

Seine Marke heißt ▹Stile Latino und die Klamotten sehen ziemlich wild aus. Das ist nicht jedermanns Geschmack. In einem Blog namens Seestrasse7 kann man diesen wunderbaren Schmäh lesen: das Preis-Leistungsverhältnis einen Anzuges aus dem Hause Partenopea sucht in der sartorialen Welt ihresgleichen. Kiton ist, abgesehen von absurder Preisgestaltung, heute nur noch in Gebrauchtwagenhändler-Kreisen ein Muß. Attolini hat auch ordentlich Glanz verloren, die neue Linie „Stile Latino“ überzeugt uns nicht und Brioni ist der textile Seniorenteller. 

Seniorenteller? Das hier ist ein neues ▹Brioni Modell. Bestimmt nicht vom Seniorenteller, aber ein Ausdruck der reinen Verzweiflung. Als die Marke von dem französischen Pinault Konzern übernommen wurde, feuerte man den Chef ▹Umberto Angeloni, den man einmal Mr Brioni nannte. Und das war saudumm. Angeloni kaufte sich bei Caruso ein, und Brioni ist ▹finanziell im freien Fall nach unten. Und versucht sich mit solchen Scheußlichkeiten an ein jugendliches Publikum ranzuschmeißen. Italiens Problem ist, dass sie zuviele Sartoria Firmen besitzen, die sich gegenseitig Konkurrenz machen. Das Problem haben wir in Deutschland nicht. Da haben wir niemanden, der in der Liga von Kiton, Attolini, Partenopea, Brioni, d'Avenza, Isaia, Belvest, Caruso, Luciano Barbera, Cantarelli, Santandrea, Antonio Fusco, Canali und Pal Zileri (um nur mal einige Namen zu nennen) mitspielen kann. Auch Regent nicht. Ein Schneider wie Heinz-Josef Radermacher in Düsseldorf schon, aber der produziert keine Massenware.

Mein erstes Attolini Jackett hat mich 19 Euro gekostet, es hatte dieses Label. Denn Attolini hat mal eine Zeit lang für ▹Luciano Barbera die collezione sartoriale hand made in Italy gemacht. Luciano Barbera hatte für seine Luxuslinie auch andere Lieferanten als Attolini, aber mein Jackett ist einwandfrei von Cesare Attolini. Vielleicht hätte ▹Luciano Barbera lieber die Finger von der ▹Konfektion lassen und sich auf die von seinem Vater Carlo geerbte Weberei konzentrieren sollen. Denn die ist vor Jahren in finanzielle Schwierigkeiten geraten, 2010 hat sich Kiton die Aktienmehrheit gesichert. Was natürlich irgendwie passend ist, denn bei der Geburtsstunde der Firma Kiton war Luciano Barbera im Hintergrund auch dabei. Die neue Luxusfirma brauchte ja gute Stoffe, und die kommen immer noch von ▹Carlo Barbera. Heute kann man Luciano Barbera (aber nicht die Luxuslinie) bei ▹Amazon kaufen, da möchte Attolini nie hin.

Attolini-Menschen lieben Qualität, aber sie haben nicht nötig, das zu zeigen. Unser Stil ist es, natürlich zu sein, einfach natürlich, hat Massimiliano Attolini (im Bild rechts neben seinem Bruder Giuseppe) gesagt. Wunderbare Sprüche können sie, die Italiener. Wunderbare Jacketts auch. Konfektionsgrößen können sie überhaupt nicht, das ist bei Kiton, Brioni und Isaia nicht anders. Da hilft nur anprobieren, anprobieren.

Und wenn Sie ein Attolini Jackett bei ebay ersteigern wollen, lassen Sie sich vom Händler die genauen Maße für Schulter, Brust, Bauch und Ärmel geben. Alle Größen, die die Italiener auf die in den Taschen verborgenen Etiketten schreiben, sind erlogen. Mein Attolini Jackett war mir eine Spur zu lang, ich brachte es zum Schneidermeister ▹Yesilyurt, damit er es zwei Finger kürzer machte. Was er wirklich perfekt gemacht hat, man kann nicht sehen, wo Attolini aufhört und wo Yesilyurt anfängt. Er könnte bestimmt bei Attolini einen Job kriegen, aber ich bin froh, dass er hier bei mir um die Ecke ist.