Sonntag, 26. Februar 2023

Falkland


Sie werden Anthony Cary nicht kennen. Aber der schottische Adelige hat noch einen anderen Namen, und den kennen wir alle. Er ist nämlich der vierte Viscount Falkland. Ein Titel, der für seinen Vorfahren Sir Henry Cary (hier auf dem Bild eines unbekannten Malers) im Jahre 1620 geschaffen wurde. Das schöne Bild hängt in Hardwick Hall, ein Schloss, das, wie alle Touristen wissen, immer den Zusatz more glass than wall bekommt. Die Viscounts Falkland haben ihren Namen nach dem Falkland Palace, der einmal der Sitz des schottischen Königs James II war. Unser Anthony Cary hat reich geheiratet und kauft sich den Posten eines Treasurer of the Navy für fünfzehntausend Pfund Sterling. Er wird dann noch Commissioner of the Admiralty und First Lord of the Admiralty werden. Der Sekretär der Admiralität Samuel Pepys hat keine gute Meinung von ihm. 1793 wandert unser Viscount für drei Tage in den Tower, man wirft im Unterschlagung vor. Kurz danach stirbt er mit achtunddreißig Jahren an den Pocken.

Ich brauche aus der Vergangenheit noch einen weithin unbekannten Namen, und das ist der Kapitän John Strong. Der ist im Januar 1690 der erste Engländer auf einer unbekannten Insel, deren Anwohner er so beschreibt: The inhabitants were exceedingly numerous. The pengwins gave us the first reception ... mustered in infinit numbers they seemed to salute us with graceful bows ... expressing their curiosity and good breeding. Nichts als Penguine auf der Insel. Unser Kapitän gibt der Meeresenge zwischen den beiden Inseln zur Ehre seines Vorgesetzten, des First Lord of the Admiralty, (dem auch ein Anteil an Strongs Kaperschiff gehört) den Namen Falklandsund. Und irgendwann nennt man deshalb die Inseln Falklandinseln: Their present English name was, probably, given them (1689) by Strong, whose journal, yet unprinted, may be found in the Museum. This name was adopted by Halley, and has, from that time, I believe, been received into our maps, sagt Dr Samuel Johnson 1770 in seinen Thoughts on the late Transactions Respecting the Falkland Islands.

Die Argentinier haben andere Namen für die Inseln. Französische Robbenjäger benannten die Inseln im 18. Jahrhundert nach der Hafenstadt St Malo Les Isles Malouines, woraus die Spanier die Malvinas machten. Über die Jahrhunderte haben Spanien, Frankreich, Argentinien und England immer wieder Ansprüche auf die Inseln gestellt; aber 1833, als Kapitän John James Onslow die Ansprüche des Empire geltend gemacht hat, war das Siedlungsprojekt von Luis Elias Vernet aus Hamburg gescheitert. Danach ist die Insel kontinuierlich von Briten besiedelt worden. Heute sind die Bewohner zu 94 Prozent britisch oder haben britische Vorfahren. 

1982 beschloss Maggie Thatcher, dass man mit einem Krieg klären müsste, wem die Pinguine und die Schafe auf den Falklandinseln gehörten. Sie schickte eine Task Force, zu der auch dieser junge Marineleutnant gehörte. Er wurde ein Kriegsheld, hat aber heute einen schlechten Ruf. Die Engländer haben in dem Krieg, der nie offiziell erklärt wurde, auch eine kleine Flotte verloren. Wie so etwas aussieht, wussten die Deutschen, die 1914 hier eine ganze Flotte unter Admiral Graf Spee verloren. Die Engländer verloren auch vierundzwanzig Hubschrauber, aber unser Hubschrauberpilot Prince Andrew blieb unverletzt. 

Die Engländer waren froh, dass sie die Portugiesen auf ihrer Seite hatten hatten. Seit Portugal und England 1386 im Schloss Windsor den Vertrag von Windsor schlossen, gibt es eine Allianz (Aliança Luso-Britânica) zwischen den Ländern. Es ist die älteste politische Allianz der Welt, eine Allianz, die nie gebrochen wurde. Und auf diese Allianz konnte sich Portugal (das auch mal eine Engländerin als Königin hatte) verlassen, als Napoleon vor der Tür stand und das Königshaus nach Brasilien floh. Und jetzt im Falkland Krieg hatte Portugal natürlich die Azoren als Basis zur Verfügung gestellt, damit die Limeys ihre Flugzeuge auftanken konnten. Sonst wären die nicht bis zu den Schafsinseln gekommen.

Der Dichter Jorge Luis Borges hat über den Krieg gesagt: The Falklands thing was a fight between two bald men over a comb. Und er hat die kleine Geschichte Juan Lopez and John Ward geschrieben, die manche Litraturwissenschaftler als ein Gedicht bezeichnen:

They lived in a strange age.
The planet had been partitioned into different countries, each armed with loyalties, cherished memories, and an unquestionably heroic past; with laws, grievances, and their own peculiar mythologies; with bronze busts of great men, anniversaries, demagogues, and symbols. This division, the labor of cartographers, was good for starting wars.
Lopez was born in the city by the motionless river; Ward, in the outskirts of the city once walked by Father Brown. He had studied Spanish in order to read Don Quixote.
The other professed a love of Conrad, who had been revealed to him in a classroom on Viamonte Avenue.
They might have been friends, but they only saw each other once, face-to-face, somewhere down in those too-famous islands, and each of them was Cain, each Abel.
They were buried together, decayed in the snow. These events took place in an age we cannot understand.

In dem Post Thatcher, den ich schrieb, als die whiskysaufende Eiserne Lady beerdigt wurde, habe ich ein Gedicht von P.J. Kavanagh zitiert, das Falklands, 1982 heißt. Es scheint nichts mit dem Krieg zu tun zu haben, es ist ein sehr stilles Gedicht. Kavanagh weiß, wie ein Krieg aussieht, der junge Leutnant Kavanagh war im Koreakrieg und wurde damals verwundet. Ich war 1982 in Tirol, wo der Falkland Krieg, der jenseits der schneebedeckten Berge, weit am anderen Ende der Welt, gerade begonnen hatte, niemanden interessierte. Dass der Harti Weirather aus Reutte Skiweltmeister geworden war, das interessierte hier jeden. Wenn der Krieg weit genug weg ist, berührt er uns nicht, wie Goethe im Faust schreibt: 

Nichts Bessers weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen 
Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei, 
Wenn hinten, weit, in der Türkei, 
Die Völker aufeinander schlagen. 
Man steht am Fenster, trinkt sein Gläschen aus 
Und sieht den Fluß hinab die bunten Schiffe gleiten; 
Dann kehrt man abends froh nach Haus. 

Während die englische Sensationspresse sich mit Schlagzeilen überschlug, wurden auch andere Stimmen zitiert, die von coolness und indifference sprachen: It is wonderful with what coolness and indifference the greater part of mankind see war commenced. Those that hear of it at a distance, or read of it in books, but have never presented its evils to their minds, consider it as little more than a splendid game. Allerdings war dieses Zitat schon über zweihundert Jahre alt. Dr Johnson hatte 1770 diese Formulierung gebraucht, als er über den Falklandkonflikt ziwschen Spanien und England schrieb. Das, was 1982 geschah, war kein splendid game. Der blutige Krieg sicherte Thatcher die Macht. Und die Dire Straits sangen: We're fools to make war On our brothers in arms. Der Krieg hat die Engländer Milliarden gekostet, es kostet sie heute noch Millionen, um ihre Militärmacht auf den Inseln aufrechtzuhalten. Die Namensgeber der Inseln, die Viscounts Falkland, gibt es heute immer noch, sie waren allerdings nie auf den Inseln, die ihren Namen tragen.

Dienstag, 21. Februar 2023

Vermeers 'Malkunst'

Es war das Schöne an den holländischen Museen in den fünfziger und frühen sechziger Jahren, dass sie noch nicht so voll waren (der Massentourismus hatte noch nicht eingesetzt). Und die Bilder waren noch nicht so exzessiv gereinigt, mit fiesem fetten Firnis überzogen oder hinter Glas. Als ich Rembrandts Nachtwache zum ersten Mal sah, konnte man noch ganz nah an die Leinwand heran. Vor wenigen Jahren lag die noch eingebuddelt in den Dünen von Heemskerk, erzählte der Museumsführer. Ich hörte in den fünfziger Jahren vor der Nachtwache einmal einen elegant gekleideten Herrn zu seinem Begleiter sagen: Das ist mir hier zu voll, lass uns nach Den Haag fahren und ins Mauritshuis gehen. Dabei waren da nur ein Dutzend Leute in dem Saal. Ich fand die Bemerkung damals sehr cool. Heute ist die Massenbetrachtung angesagt, die junge Frau auf dem Gemälde wirkt hilflos und verloren in der Menschenmenge. Die Vermeer Ausstellung im Rijksmuseum ist ausverkauft. 450 000 datierte Tickets wurden in den ersten drei Tagen verkauft, 200.000 davon waren lange vorbestellt.

Jan Vermeer wurde in Delft geboren, er ist auch in Delft gestorben. Seine berühmte Ansicht von Delft kennt jeder, man kann sie als Postkarte und als Plakat kaufen. Dies hier ist nicht Vermeers Bild, das Proust so begeisterte. Dies ist das Bild seines Kollegen Egbert van der Poel, der Delft nach dem Delfter Donnerschlag, der Explsion der Pulvermühle, malte. Damals war die halbe Stadt zerstört. Aber sechs Jahre später ist beinahe alles wieder aufgebaut, das können wir auf Vermeers Bild sehen. Das Mauritshuis kam vor drei Jahren auf die Idee, dass man jetzt ganz allein zehn Minuten lang das Bild betrachten kann. Das kann man in Amsterdam nicht, wohin man das Bild gerade ausgeliehen hat. Das von Jacob van Campen gebaute Mauritshuis besitzt die Ansicht von Delft und Das Mädchen mit dem Perlenohrring. Und sie haben diesen wunderbaren Distelfink von Carel Fabritius.

Carel Fabritius, einer der bedeutendsten Maler, den Holland je gehabt hat, starb bei der Explosion der Pulvermühle. Kurz vor seinem Tod hat er auch eine Ansicht von Delft gemalt, die ganz erstaunlich ist. Die Perspektive des Bildes mit dem Instrumentenhändler links im Vordergrund erinnert an Aufnahmen mit einem Weitwinkelobjektiv oder einem fisheye Objektiv. Man weiß, dass die Holländer damals Meister im Linsenschleifen gewesen sind. Manche, wie Spinoza, sind nebenbei noch Philosoph. Kunsthistoriker vermuten, dass viele holländische Veduten- und Landschaftsmaler im 17. Jahrhundert die camera obscura verwendet haben. Jan Vermeer wohl auch.

Jan Vermeer ist einer der bekanntesten und beliebtesten holländischen Maler, und dennoch wissen wir ziemlich wenig über ihn. Man ist sich nicht einmal sicher, wie viele Bilder er gemalt hat. Er hat sie selten signiert und nur einmal mit einem Datum versehen. Sind es zweiunddreißig?, Fünfunddreißig?, Siebenunddreißig? Achtundzwanzig Bilder werden jetzt in Amsterdam gezeigt, die größte Vermeer Show aller Zeiten. Vor einigen Jahren hat ein Amerikaner namens Benjamin Binstock in seinem Buch Vermeer's Family Secrets die These aufgestellt, dass ein großer Teil seines Werkes von seiner Tochter gemalt sei. Wenn dem so ist, dann konnte sie besser malen als der Vermeer Fälscher Han van Meegeren, der sogar Hermann Göring einen gefälschten Vermeer andrehte. Immer wieder hat die stille Kunst Vermeers Dichter und Schriftsteller herausgefordert: Proust, der ihn in Die Suche nach der verlorenen Zeit hineinschrieb, ist vielleicht der berühmteste. John Updike hat in einem Gedicht Vermeer mit Edward Hopper verglichen. Zu diesem Bild eines unbekannten Mädchens mit einem Perlenohrring, das 1881 in einer Auktion für zwei Gulden verkauft wurde, gibt es inzwischen sogar einen Film, dessen Handlung aber nicht mit dem wirklichen Leben Vermeers verwechselt werden sollte.

Der Glatzkopf rechts scheint das Mädchen mit dem Perlenohring küssen zu wollen. In Wirklichkeit klebt er am Glas des Bildes fest, er ist ein sogenannter Klimaaktivist. Sein Kollege hatte ihm eine Dose mit einer roten Flüssigkeit über den Kopf geschüttet. Sie werden festgenommen und zu einer Haftstrafe von zwei Monaten verurteilt. Warum nicht zu zwei Jahren? Das Gemälde wurde bei dieser Aktion glücklicherweise nicht beschädigt.

'Der Maler in seinem Atelier' in Wien. Wie gern hätte ich dieses Bild gesehen! Das ist wie Athen: Mein ganzes Leben habe ich davon geträumt, dorthin zu gehen, schwärmte Auguste Renoir über dieses allegorische Bild Vermeers. Das Bild ist etwas komplexer als Eduard Daeges Bild von der Entstehung der Malerei. Wenn Sie alles darüber wissen wollen, kann ich nur den kleinen Band Jan Vermeer Die Malkunst: Aspekte eines Berufsbilds von Hermann Ulrich Asemissen empfehlen. Erschienen in der Fischer Reihe Kunststück, die ganz vorzüglich ist. 1961 erschien bei DuMont Kurt Badts 'Modell und Maler' von Jan Vermeer: Probleme der Interpretation; eine Streitschrift gegen Hans Sedlmayr. Es ist vielleicht weniger ein Buch über die kunsthistorische Interpretation von Vermeer als eine Auseinandersetzung eines jüdischen Migranten mit einem NSDAP Mitglied. Badts Buch über John Constables Wolken verkaufte sich kaum. Das Geschwafel in Hans Sedlmayrs Verlust der Mitte war in der Adenauer-Republik ein Bestseller.

Das Bild hatte sich bis zum Tode Vermeers in seinem Besitz befunden. Wie viele Bilder anderer Maler, mit denen Vermeer ziemlich erfolglos zu handeln versuchte. Man weiß nicht, ob er es als Schaustück behalten hat, oder ob er es nicht verkaufen konnte. Das Bild wird in einer Auflistung seiner Frau Catharina Bolnes als een stuck schilderie ... waerin wert uytgeheelt de Schilderkonst bezeichnet. Die behauptet zwar, dass ihr das Bild nicht gehöre, weil sie es an die Schwiegermutter des Malers Maria Thins verkauft habe, aber auf solche Schutzbehauptungen lässt sich der Nachlassverwalter und Freund Vermeers, der berühmte Antoni van Leuwenhoeck, nicht ein. Der Vermeer wird verkauft. Er ist auch bald kein Vermeer mehr, weil den niemand mehr kennt - und weil niemand Geld für einen Vermeer bezahlt. Das Bild wird zu einem Pieter de Hooch umfrisiert. Bekommt auch eine schöne neue Signatur. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird es als Vermeer erkannt und anerkannt. Zwanzig Jahre nachdem der Direktor der Berliner Galerie Gustav Friedrich von Waagen das Bild als echten Vermeer identifiziert hatte, wird übrigens das Bild von dem Mädchen mit dem Perlenohrring bei einer Auktion in Holland für zwei Gulden verkauft. Vermeer hat noch keine Konjunktur.
Der Maler (vielleicht ist es sogar Vermeer selbst, die Forschung ist sich da nicht einig) malt ein Modell, das eine Muse darstellen soll. Es soll Klio sein, die Muse der Heldendichtung und der Geschichtsschreibung, wir können das aus den Attributen folgern, mit denen das Modell kostümiert wurde: eine Trompete, ein Buch (ein konventionelles Symbol der Weisheit, auf dem in manchen Abbildungen noch Thukydides steht) und ein Lorbeerkranz. Mit dem Lorbeerkranz fängt der Maler an, wenn wir ihm über die Schulter schauen. Das Immergrün symbolisiert das Fortbestehen der Kunst. Was bleibet aber, stiften die Dichter, heißt es bei Hölderlin. Und natürlich ist Klio auch für die Dichtung verantwortlich, aber die Maler (meistens Männer, selten Frauen) stiften auch Bleibendes, vita brevis, ars longa.

Als Waagen - gleichzeitig mit Théophile Thoré - 1860 das Bild identifiziert, ist es das Prunkstück der Sammlung des böhmischen Grafen Johann Rudolf Chernin von und zu Chudenitz (1757-1845), der kurz vor seinem Tod in seinem Wiener Palast eine eindrucksvolle Gemäldegalerie eingerichtet hatte. Die sogar, wenn auch in begrenztem Maße, der Öffentlichkeit zugänglich war. Czernin hatte den angeblichen de Hooch 1813 aus der Sammlung des Baron Gottfried van Swieten (ja, das ist der Förderer von Mozart, Haydn und Beethoven) gekauft, es kann sein, dass das Bild schon zuvor dessen Vater Gerard gehört hatte. Bezahlt hatte Czernin damals fünfzig Gulden. Nach dem Tod des ehemaligen Außenministers Ottokar Graf Czernin (1857–1932) gehen die Erben an das Zerstückeln der Sammlung.

Die beiden Haupterben Eugen Czernin (1892–1955) und sein Neffe Jaromir Czernin (1908–1966) einigen sich 1933 bei der Verteilung der Latifundien in der Tschechoslowakei und in Österreich und bei der Aufteilung des Kunstbesitzes. Der Vermeer wird mittlerweile auf eine Million Schilling geschätzt, der gesamte Rest der Sammlung (hervorragende Bilder von Tizian und Dürer eingeschlossen) auf nicht einmal ein Viertel dieser Summe. Jaromir Czernin erbt vier Fünftel des Vermeers, er möchte ihn sofort verkaufen. Angeblich hat er ein Angebot von einer Million Golddollar von Andrew W. Mellon. Wenn da nur dieses Ausfuhrverbot für Kunstwerke nicht wäre, dass es seit 1923 gibt! Aber als Kurt Schuschnigg durch seine zweite Ehe sein Schwager wird, hat Czernin die Hoffnung, dass der das Ausfuhrverbot kippen könnte. Doch kurze Zeit später marschieren die Nazis ein, und Schusschnigg ist Gefangener der Gestapo. 

Nun kommt Hermann Göring, ein bekannter Kunstfreund ins Spiel, auf diesem Bild sichert gerade ein amerikanischer Soldat Görings Sammlung. Der Reichsjägermeister hatte 1939 dem Hamburger Unternehmer Philipp Reemtsma die Genehmigung erteilt, das Bild von dem österreichischen Grafen Jaromir Czernin zu kaufen und hatte telegraphisch das Ausfuhrverbot für das Kunstwerk aufgehoben. Göring und Reemtsma kannten sich gut, sie waren ständig geschäftlich miteinander verbandelt. Nach dem Krieg wurde  Reemtsma wegen Bestechung und Anstiftung zur Rechtsbeugung der Prozess gemacht, mehr als sieben Millionen Reichsmark soll er an seinen Fliegerkameraden Göring gezahlt haben. Aus dem Verkauf des Bildes an Reemtsma ist nichts geworden, Hitlers Reichskanzlei meldete Vorbehalte an. Glücklicherweise meldet sich just in diesem Moment, in dem die Verkaufsverhandlungen mit Philipp Reemtsma gescheitert sind, ein uneigennütziger österreichischer Landsmann, der bereit ist, mehr als anderthalb Millionen Reichsmark für das Bild zu bezahlen. Und auch noch die Steuern in Höhe von 500.000 Mark zu tragen.

Sie ahnen schon, wer dieser österreichische Kunstfreund ist. Ich bitte, meinen aufrichtigsten Dank entgegennehmen zu wollen. Mit dem Wunsche, das Bild möge Ihnen, mein Führer, stets Freude bereiten, schrieb Graf Czernin 1940 an den neuen Besitzer. Na ja, so lange währt die Freude von dem gescheiterten Kunstmaler an dem Bild von der Malkunst nicht, das die Nummer 1096 in der Führersammlung hatte. Im Herbst 1945 stellt Graf Czernin seinen ersten Antrag auf Restitution, er sei zu dem Verkauf zu einem viel zu niedrigen Preis gezwungen worden. Im Januar 1946 wird dieser Antrag zurückgewiesen, auch zwei weitere Versuche von Czernin, das Bild zurückzubekommen (oder mehr Geld zu bekommen), scheitern. 2009 werden seine Erben noch einmal einen Versuch machen, sich als Opfer des Nationalsozialismus darzustellen, aber es wird - trotz eines international großen Echos - nichts bringen. Das Bild bleibt im Besitz Österreichs. Seit 1952 ist es im Kunsthistorischen Museum in Wien ausgestellt. Eugen Czernin hat wahrscheinlich völlig unspektakulär das bessere Geschäft gemacht, er hat Anfang der fünfziger Jahre den geerbten Dürer, den Tizian und einen anonymen holländischen Meister an die Sammlung Samuel H. Kress verkauft.

Die junge Dame im Hintergrund von Vermeers Bild lächelt seit Jahrhunderten stillvergnügt vor sich hin (nun gut: auf diesen beiden postmodernen Werken von Sophie Matisse und Gerhard Gutruf lächelt sie nicht, weil sie gar nicht im Bild ist). Der Trubel, der durch die Betrachter vor dem Bild ist, stört sie nicht. Was würde Vermeer zu diesen Bildern einer Wiener Ausstellung sagen? Wahrscheinlich ist es in Amsterdam noch voller. Die Landkarte von Holland hinten an der Wand ist inzwischen veraltet. Für die Invasion Hollands konnte Hitler sie nicht gebrauchen. Beeinflusst es unsere Sicht des Bildes, wenn wir daran denken, dass es einmal Adolf Hitler gehört hat? Warum wollte er unbedingt dies Bild haben? Für kein Kunstwerk hat der verhinderte Kunstmaler Hitler mehr gezahlt, als für diesen Vermeer. Wo immer das Geld herkam. Den nächsten Vermeer in seiner Sammlung, De astronoom, hat er nicht bezahlt, den hat er in Paris einfach klauen lassen. Aber der Baron de Rothschild, dem er gehörte, hat ihn nach dem Krieg zurückerhalten. Viele enteignete Besitzer von Kunstwerken haben nicht dieses Glück.

Wahrscheinlich spielen künstlerische Erwägungen bei dem Banausen Hitler keine Rolle; es ging ihm nur den finanziellen Wert des Bildes von der Malkunst, denn wie schon Martin Borman wusste: An sich hat dieses beste Bild des Vermeer einen internationalen Wert, der weit über den bewilligten Preis hinausgeht. Es geht wie bei vielen Kunstverkäufen um Geld, nicht um den Kunstgenuss.. Kriege kommen und vergehen, was bleibt, sind einzig die Werke der Kultur. Daher meine Liebe zur Kunst, Musik und Architektur! dieser Satz ist von Hitler, der davon träumte, als großer Kunstsammler in die Geschichte einzugehen. Hier sichern amerikanische Soldaten der MFAA 1945 Hitlers Bild in einem Bergwerksstollen im österreichischen Altaussee. 

Im Rijksmuseum von Amsterdam ist keine Maskenpflicht, wir denken nicht mehr an Corona. Aber die Epidemie wurde der Dresdner Vermeer Ausstellung vor zwei Jahren zum Verhängnis. Hier eröffnet Angela Merkel mit dem holländischen Ministerpräsidenten mit monatelanger Verschiebung noch die Ausstellung, wenig später war das Museum zu. Den Katalog Johannes Vermeer: Vom Innehalten, den mir die Astrid geschenkt hat, kann man antiquarisch noch preiswert finden. Aber die Gemäldegalerie Alte Meister der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden hat das Beste aus der Situation gemacht und digitale Angebote und einen ganz großartigen Webleporello ins Netz gestellt. In Dresden ging es nicht um alle Bilder Vermeers, es ging nur um ein Bild: Das frischrestaurierte Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster wurde hier in Beziehung zu neun anderen Werken Vermeers (und fünfzig Werken der holländischen Genremalerei des Goldenen Zeitalters) gesetzt. Es war die bisher größte Vermeer Ausstellung in Deutschland. Aber leider lange ohne Zuschauer. 

Sie, lieber Leser, fahren nicht nach Amsterdam, weil Sie keine Karte bekommen haben. Sie arbeiten sich jetzt durch den Dresdner Webleporello. Und wenn der ganze Rummel im Amsterdam vorbei ist, dann fragen Sie mal im Mauritshuis an, ob es noch die zehn Minuten Einsamkeit für die Ansicht von Delft gibt.

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Sonntag, 19. Februar 2023

Das Marcel Proust Alphabet


Mein Freund Götz hat mir letztens einen französischen Zeitungsartikel über Proust vorbeigeschickt, von der rothaarigen Ute habe ich die Kopie eines langen Artikels aus einer deutschen Sonntagszeitung bekommen. Der Friedhard hat mir zu Weihnachten ein Buch über Proust geschickt, das ich noch nicht besaß. Und die witzige Proust Karte von Heidi steckt immer auffindbar im Proust Regal. Meine Freunde denken immer alle an mich, wenn ihnen Proust irgendwie begegnet, das ist schön. Obgleich ich sagen muss, dass ich nicht wirklich ein richtiger Proust Fan bin und niemals den Wunsch hatte, in die Proust Gesellschaft einzutreten. Ich habe nichts von dem Fanatismus des Dr Reiner Speck an mir, der die größte private Proust Sammlung besitzt. Weshalb die Bücher in seiner Bibliotheca Proustiana vergittert sind, weiß ich nicht. 

Ich hatte begonnen, Proust zu lesen, als mir mein Freund Peter sagte: Wir müssen jetzt Proust lesen. Damals waren wir achtzehn. 1962 war ich beim dritten Band. Als ich das Abitur in der Tasche hatte, war ich mit der Recherche durch. Aber natürlich ist man nie mit dem Roman fertig, man fängt immer wieder an einzelnen Stellen zu lesen an. Marcel Proust war von Anfang an in diesem Blog. Das begann am 13. Februar 2010 in dem Post Leser mit dem Zitat: In Wirklichkeit ist jeder Leser, wenn er liest, ein Leser nur seiner selbst. Das Werk des Schriftstellers ist dabei lediglich eine Art von optischem Instrument, das der Autor dem Leser reicht, damit er erkennen möge, was er in sich selbst vielleicht sonst hätte nicht erschauen können. Am 22. Februar 2010 gab es hier den Post Bilder, das war der erste einer Vielzahl von Posts. Den haben damals anderthalb tausend Leser angeklickt, aber das wusste ich nicht, weil ich meine Statistikseite noch nicht entdeckt hatte. Ich war noch ziemlich hilflos in der digitalen Welt. Als ich Proust vor sechzig Jahren las, gab es kein Internet. Es gab noch keine Chat Groups und Jochen Schmidt las noch nicht Proust. Es gab auch keine Wikipedia, die man hätte fragen können. Und es gab in Deutschland auch nicht diese Masse von Büchern über Proust. Ich war damals schon froh, dass ich Claude Mauriacs Marcel Proust mit Selbstzeuugnissen und Bilddokumenten besaß. Das Taschenbuch war als Marcel Proust par lui-même 1953 in Paris erschienen und dann von der Proust Übersetzerin Eva Rechel-Mertens für Rowohlt übersetzt worden. Jean-Yves Tadié, dem wir die wohl beste Proust Biographie verdanken, findet in seinem Werk lobende Worte für Mauriacs Buch.

Als ich mit der Lektüre der Recherche so ziemlich ans Ende gekommen war, erschien bei Suhrkamp in zwei Bänden (1962 und 1965) die Proust Biographie von George Duncan Painter. Der arbeitete am British Museum und war weltweit bekannt als Kapazität für mittelalterliche Inkunabeln. In der Welt der Proust Forscher war er ziemlich unbekannt. Im Vorwort zum ersten Band seiner Biographie sagt Painter 1959: I have endeavoured to write a definitive biography of Proust: a complete, exact and detailed narrative of his life, that is, based on every known or discoverable primary source and on primary sources only. Hier liegen Stärken und Schwächen von Painter. Als er seine Biographie schrieb, lebten noch Zeitgenossen, die Proust gekannt hatten. Er hat niemanden interviewt. Hat sogar behauptet, dass ein Treffen mit Proust für ihn von keinem Nutzen gewesen wäre. 

1989 erschien bei Chatto und Windus eine revised and enlarged edition von Painters Biographie, aber nichts von dem revised and enlarged war wahr. Der Verlag druckte lediglich den originalen Text nach, und Painter schrieb ein neues vierseitiges Vorwort und füllte die Bibliographie auf. Die Ergebnisse von dreißig Jahren Proust Forschung wanderten nicht in das Buch. Und dennoch bleibt es eine großartge Biographie, auch wenn wir heute die Biographie von Jean-Yves Tadié haben (zu den Biographien gibt es hier den ausführlichen Post Temps Retrouvé). In England  lobte man die Biographie. One of the great English biographies of all time, urteilte Philip Toynbee. Und mit der ihm eigenen Zurückhaltung sagte Anthony Powell: Mr Painter has done his work so well that it is hard to speak in moderate terms of his skill and unobtrusive wit. Aus dem Munde des Mannes, der mit seinem zwölfbändigen Werk A Dance to the Music of Time ein Äquivalent zu der Suche nach der Verlorenen Zeit geschrieben hat, wiegt dieser Satz schwerer als er aussieht. Painter ist einundneunzig Jahre alt geworden, er ist leider nicht mehr dazu gekommen, seine zweibändige Stendhal Biographie zu beenden. Einen Titel hatte er schon: The Hunt for Happiness.

Ich habe im November 2022 in dem Post Marcel Proust geschrieben: Rechtzeitig hat der nimmermüde Luzius Keller ein Marcel Proust Alphabet fertig, das in manchem wie ein recycling seiner Proust Enzyklopädie aussieht. Leider ist seine vegriffene Proust Enzyklopädie antiquarisch niemals im Preis gesunken, Antiquare wollen dreihundert Euro für das Buch haben, werden es aber nicht los. Erfreulicherweise hat Reclam die durchgesehene Neuauflage von Bernd-Jürgen Fischers Handbuch zu Marcel Prousts 'Auf der Suche nach der verlorenen Zeit' als preisgünstiges Taschenbuch herausgebracht. Das passt zu der überarbeiteten und erweiterten Neuauflage von Ulrike Sprengers Das Proust-ABC. Mit den beiden Büchern ist sicher vielen Proust Lesern geholfen, die sich zum erstenmal in die riesige Kathedrale des Textes der Recherche begeben. Für Preise, die zwischen zehn und achtzig Euro liegen, kann man das hervorragende Marcel Proust Lexikon von Philippe Michel-Thiriet noch antiquarisch bekommen. Das hätte Suhrkamp ja mal als Neuauflage herausbringen können, aber ich habe das Gefühl, die verschlafen alles. 

Das alles würde ich heute genauso schreiben, aber ich möchte noch einmal auf Luzius Kellers Marcel Proust Alphabet zurückkommen. Ich habe lange gezögert, es mir zu kaufen, aber dann fand ich letztens einen Händler, der das Buch zum halben Preis anbot. Seitdem lese ich in dem Buch, aber ich weiß immer noch nicht, ob die sechsunddreißig Euro gut angelegt sind. Vielleicht hätte ich ein Exemplar für 19,95 € kaufen sollen, so etwas gibt es inzwischen auch. Die Preise für das Buch, das 68 Euro kosten soll, sind in einem halben Jahr stark gesunken. Die Basis des Marcel Proust Alphabet ist die Proust Encyklopädie aus dem Jahre 2009, deren Entstehungsgeschichte interessant ist. Weil das Buch eigentlich nichts als eine Übersetzung des Dictionnaire Marcel Proust von Annick Bouillaget und Brian G. Rogers ist. Bouillaget hatte mit La pratique intertextuelle de Marcel Proust dans 'A la recherche du temps perdu': les domaines de l'emprunt ihren Doktortitel erhalten. Brian G. Rogers hatte seinen Doktor vom Trinity College und schrieb 1965 sein erstes Buch über Proust. Das alles hat Melanie Walz übersetzt, und Luzius Keller hat noch ein paar hundert Artikel dazu geschrieben.

Und jetzt wird das Ganze noch einmal recycelt, 1.336 Seiten, mit Mitteln der Dr Reiner Speck Stiftung gedruckt, wahrscheinlich tausend Stichwörter. Ich habe keine Lust, die zu zählen. Manche Lexikonartikel sind sehr kurz, manche lang. Viele zu lang. Einige Stichworte sind neu, auf andere habe ich verzichtet, schreibt Keller im Vorwort. Sagt aber nicht, was neu und was weggefallen ist. Die Familie Guermantes bekommt bei Ulrike Sprenger fünf Seiten, bei Luzius Keller fünfzehn Seiten. Muss die berühmte Madeleine sechs Seiten haben? Ulrike Sprenger hat in ihrem Proust ABC zwei Seiten und ein Photo von sich beim Verzehr einer Madeleine. Ihr Lexikon besticht immer wieder durch Humor und Esprit, zwei Kategorien die dem Proust Alphabet vollständig fehlen. Und wenn man dem kulinarischen Erlebnis der Madeleine (die zuerst ein Zwieback war) nachgehen will, dann sollte man einen Artikel wie diesen im Internet lesen.

Das Handbuch zu Leben, Werk, Wirkung und Deutung enthält Namen von Romanfiguren, Namen von Personen, die etwas für Proust bedeuteten, Ortsnamen und allgemeine Übersichtsartikel. Es enthält keinerlei Abbildungen. Es gibt keinen Artikel zu James Joyce, obgleich sich Proust und Joyce einmal getroffen haben. Es gibt auch keinen Arikel zu Rolls Royce, obgleich ein Rolls Royce im Werk vorkommt. Es gibt erstaunlicherweise einen Artikel zu Fortuny, der auch in der Recherche erwähnt wird: Das Kleid von Fortuny, das Albertine an diesem Abend angelegt hatte, kam mir wie ein lockender Schatten jenes unsichtbaren Venedig vor. Morgenländische Ornamente überzogen es überall, die unzählige Male auf dem schillernden Gewebe von tiefem Blau wiederkehrten, das unter meinem vorwärtstastenden Blick sich in schmiegsames Gold verwandelte durch eine ähnliche Metamorphose, wie sie vor der vorwärtsgleitenden Gondel flammendes Metall aus der Azurtönung des Canale Grande macht. Wir finden bei Keller auch einen Artikel über Mode, aber der ist sehr, sehr schwach, da findet sich hier im Blog (zum Beispiel in den Posts Damenmode und Une fillette d’un blond roux) mehr als bei Luzius Keller.

Lothar Müller hat in der Süddeutschen in seiner Rezension moniert (die eine der ganz wenigen Rezensionen ist), dass das Buch keinen Artikel zum Ersten Weltkrieg enthält. Das ist nun wirklich erstaunlich, denn der Krieg interessierte Proust, der täglich ein halbes Dutzend Zeitungen las, schon sehr. Und der Krieg wandert auch in die Recherche, nicht nur weil Robert de Saint-Loup sein Croix de Guerre im Bordell verliert. Der deutschen Proust Gesellschaft war das Thema so wichtig, dass sie den Band Marcel Proust und der Erste Weltkrieg herausbrachte, und dann gibt es auch noch das Buch Marcel Proust und der Krieg von Alexis Eideneier und Reiner Speck, aber in diesem Handbuch findet der Krieg nicht statt. Das Handbuch zu Leben, Werk, Wirkung und Deutung enthält viele Artikel zur Rezeption Prousts und zu den Proust Übersetzungen. Diese Artikel muss das Buch haben, das steht im Titel. Der englische Biograph  George D. Painter ist Luzius Keller der Erwähnung nicht wert. Der deutsche Übersetzer Rudolf Schottländer bekommt sechzehn Zeilen, die der Leistung dieses Mannes nicht annähernd gerecht werden. Das ist ziemlich armselig. Hermann Hesse, der Schottländers Übersetzung gelobt hatte und sich bei Peter Suhrkamp für die deutsche Gesamtübersetzung stark gemacht hatte, hat auch keinen Eintrag.

Nicht alle Artikel in dem Marcel Proust Alphabet sind von Luzius Keller oder den Autoren des Dictionnaire Marcel Proust. Manche Artikel sind von anderen, die aber namentlich genannt werden und mit einer Quellenangabe versehen sind. So ist zum Beispiel der Artikel Judentum von Melanie Walz, der Übersetzerin des Dictionnaire Marcel Proust. Ich weiß nach wochenlanger Lektüre immer noch nicht, für wen dieses Lexikon ist. Nicht für den normalen Leser, der wird mit Ulrike Sprengers Proust-ABC, mit  Bernd-Jürgen Fischers Handbuch oder dem Lexikon von Philippe Michel-Thiriet auskommen. Bücher wie das Proust-ABC oder Michel-Thiriets Lexikon sind mit Vergnügen zu lesen. Weil sie nicht diese blutleeren Artikel wie Kellers Handbuch enthalten. Universitäts- und Seminarbibliotheken werden das Buch kaufen, aber Sie wahrscheinlich nicht, wenn Sie diesen Post gelesen haben. 



Und wenn Sie alles über Proust auf einer Seite haben wollen, dann kann ich Ihnen diese Seite von ⥤Lars Hartmann empfehlen.

Mittwoch, 15. Februar 2023

Elke Heidenreich


Elke Heidenreich wird heute achtzig, dazu möchte ich ihr herzlich gratulieren. Das erste, das ich von ihr las, waren die Geschichten von der Metzgersfrau Else Stratmann, die sie berühmt machten. Später ist sie Literaturkritikerin geworden und hat sich viele Feinde gemacht. Zum Beispiel Denis Scheck, der sie eine alte Schachtel nannte und über sie sagte: Ich sehe sie auch nicht als Kollegin, weil sie eben keine Literaturkritikerin ist. Bei ihr ist Literatur ein Mittel gegen seelische Blessuren. Für mich ist Literatur nicht dazu da, um uns über unsere Seelenwehwehchen hinwegzutrösten. Ich glaube, dass Literatur uns Menschen sehr viel geben kann, aber sie darf nicht reduziert werden auf dieses therapeutische Faktum, da verlieren wir die ästhetische Dimension aus den Augen. Aber es ist Platz für beide Sendungen. Wir gehen in die Welt und Frau Heidenreich eben in ihr Herz – und von dort aus gibt sie Lesetipps. 

Den Denis Scheck mag Elke Heidenreich nicht so sehr. Als er den Roman Ein alter Traum von Liebe von Nuala O'Faolain, den sie gerade in der Sendung Lesen! gelobt hatte, wenige Tage später verriss, hat sie ihn in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung als hysterisches Rolltreppendickerchen und Tchibo-Literatur-Vertreter bezeichnet. Mein Freund Hannes Hansen hat Scheck in seinem Blog als beckmessernden Besserwisser, der die Rollen von Scharfrichter, Scherzkeks und Literaturkritiker auf Hartz IV-Niveau mühelos in sich vereint bezeichnet. Ist auch nicht schlecht. Ich muss dazu sagen, dass Denis Scheck bei mir einen Post hat, in dem man lesen kann: Ich kannte Denis Scheck schon lange, bevor dieser putzige kleine Kerl im Fernsehen berühmt wurde. Immer korrekt im Anzug, in dem Punkt ist er so ähnlich wie Götz Alsmann. Ich kannte Denis Scheck, weil ich das Buch King Kong, Spock & Drella besaß und es allen Studenten zum Kauf empfahl. Das Buch hatte den Untertitel Ein amerikanisches TriviaLexikon und war in den Tagen vor Computer & Google das beste Nachschlagewerk für die amerikanische Alltagskultur. Ich mochte ihn auch, weil er sich für Padgett Powells Roman Edisto eingesetzt hat, das taten außer Harry Rowohlt, der den Roman übersetzte, nur wenige.

Als Elke Heidenreich noch über Else Stratmann schrieb (oder Else Stratmann war) und die Leserinnen der Brigitte mit ihren Kolumnen erfreute, legt sie auch manchmal im NDR morgens Platten auf. Sie mag Musik, das kann man ihrem Buch Ein Traum von Musik. 46 Liebeserklärungen entnehmen. Und sie wusste früher als jeder andere, dass Hannes Wader im privaten Kreis manchmal Schubert sang. Das hat damals keiner geglaubt. Aber dann kam An Dich hab ich gedacht 1997 auf den Markt, Lieder aus der Schönen Müllerin und aus der Winterreise. Kein Klavier, aber dass das zur Gitarre geht, hatten ja schon Peter Schreier und Konrad Ragossnig vorgemacht. Ich wollte, er hätte Die schöne Müllerin ganz gesungen. Man merkt zwar leichte stimmliche Defizite, aber es hat große Momente. Vielleicht ist es so, wie Schubert seine Lieder gesungen haben wollte, als er seinen Freunden sagte: Kommt heute Abend zum Schober, ich will euch einen Kranz schauriger Lieder vorsingen. Wir hören mal eben hier in Des Baches Wiegenlied hinein.

Elke Heidenreich war im Radio, sie war im Fernsehen, sie war Kolumnistin und ist Schriftstellerin. Vielleicht ist sie auch eine Literaturkritikerin, auch wenn Denis Scheck nicht dieser Meinung ist. Ich finde nicht alles gut, was sie über Literatur und den Literaturbetrieb sagt, aber sie ist mir lieber als Thea Dorn. Es ist viel Kohlenpott Comedy in ihr, das macht ihre Omnipräsenz erträglich. Irgendwie ist sie ja überall, auch wenn sie beim ZDF rausgeflogen ist. Ich habe sie letztens in der NDR Talkshow gesehen, und da gab es dann noch den fünf Jahre alten Film Elke Helene Heidenreich geborene Riegert: Fast ein Selbstportrait dazu. Ist beides noch in der Mediathek. Eine ihrer letzten Publikationen war Männer in Kamelhaarmänteln: Kurze Geschichten über Kleider und Leute, das Buch habe ich mir gekauft, weil ich mal einen Kamelhaarmantel besaß. Genaugenommen war es ein Lamamantel, der natürlich längst in diesen Blog gewandert ist. Es ist ein witziges autobiographisches Buch, nicht ganz auf dem Niveau von Meine Kleider von Alfred Kantorowicz, aber doch witzig. Es sagt uns über die Autorin mehr als der Fragebogen der FAZ. Obwohl es sehr lesenswert ist, wird es offenbar schon verramscht, meine Hardcover Ausgabe hat mich keine vier Euro gekostet. Aber das macht nichts, weil Elke Heidenreich gesagt hat, dass ihr Geld nichts bedeutet. Wenn man so etwas sagen kann, dann ist man glücklich.

Montag, 13. Februar 2023

Volker Behrens ✝


Mein Freund Volker Behrens rief mich an und erzählte mir, dass er am nächsten Tag Paul Auster interwiewen würde. Der hätte gerade ein Buch über Stephen Crane geschrieben. Ich bin gut vorbereitet, sagte er, 'The Red Badge of Courage' musste ich ja damals in Deinem Seminar über den amerikanischen Bürgerkrieg lesen. Mein Seminar über den Bürgerkrieg, mein Gott, wie lange war das her. Volker hatte bei uns studiert, war schnell wissenschaftliche Hilfskraft geworden, die behandelten wir schon wie Kollegen. Ich habe 1988 zusammen mit ihm ein Buch gemacht, da hatte er noch kein Examen, er schrieb noch an seiner Dissertation über die Verfilmung von The French Lieutenant's Woman

Das war keine Arbeit, die am Schreibtsch entstand, er besuchte in England den Autor (John Fowles lud ihn sogar ein, einige Tage sein Gast zu sein), und er hat alle Drehorte des Films gesehen. In der Villa Broad Leys am Lake Windermere, die Charles Voysey gebaut hat, ist er auch gewesen. Dissertationen haben heute einen leicht negativen Beigeschmack, dafür haben Leute wie Giffey, Schavan und Guttenberg gesorgt. Mit all dem hatte Volkers Dissertation nichts zu tun, sie war aufregend neu und originell, und sie hat die Erforschung der Literaturverfilmung ein Stück weitergebracht.

Ich besitze natürlich ein Exemplar des Buches. Der Autor bedankt sich darin in seiner handschriftlichen Widmung für mein Adlerauge. Was mich daran erinnert, dass ich damals die Korrekturen gelesen habe, das hatte ich schon vergessen. Aber ich habe das gerne getan. Wenn ich ihn irgendwie fördern konnte, dann tat ich das. Ich sorgte dafür, dass er mit einem Aufsatz in dem Suhrkamp Band Literaturverfilmungen von Franz-Josef Albersmeier vertreten war. Ich habe auch die Korrekturen für seinen Aufsatz Rebellen, Jeans und Rock 'n' Roll. Neue Formen von Jugendprotest und Sozialkritik: Denn sie wissen nicht, was sie tun (1955) gelesen, das weiß ich, weil ich es in den Post Jugendkultur hinein geschrieben habe. Das ist nicht der einzige Post, in dem er hier erwähnt wird. 

Als Volker mich fragte, ob ich an seinem Band Wim Wenders: Man of Plenty mitarbeiten wollte, habe ich abgewinkt. Wim Wenders ist nicht so mein Ding. Aber als er mich fragte, ob ich ihm die persönliche E-Mail Adresse eines blonden Hollywood Stars geben würde, habe ich sie ihm sofort gegeben. Denn Kirsten Dunst, deren Oma Volker mal in Hamburg interviewt hat, liest manchmal diesen Blog und hatte mir ihre Adresse gegeben. Die wollte Volker für seinen Freund, den Filmemacher Fatih Akin, gerne haben, über den er gerade ein Buch geschrieben hatte. Und der hätte so gerne Kirsten Dunst in einem Film gehabt. Leider ist nichts daraus geworden.

Volker wäre ein guter Hochschullehrer geworden, aber er ist Journalist geworden. Der Zufall wollte es so, aber dann ist daraus eine Leidenschaft geworden, hat er gesagt. Er war zuerst bei den Kieler Nachrichten, dann die letzten zweiundzwanzig Jahre beim Hamburger Abendblatt. Seine Artikel zum Film gaben der Zeitung Niveau. Er kam weit herum in der Welt und lernte viele berühmte Leute kennen. Er kam mit allen zurecht, weil er diesen wunderbaren hintergründigen Humor besaß. Er sollte einmal Bruno Ganz interviewen, aber dessen Agent, der dabei sein sollte, war nicht da. Da sagte Volker: Herr Ganz, ich glaube, wir könnten anfangen, wir sind ja schon groß. Nach dem Interview fragte Volker den Schauspieler, ob er noch eine Printversion des Interviews lesen und abzeichnen wollte. Da sagte Bruno Ganz lächelnd: Ich glaube, das können wir uns sparen. Wir sind ja schon groß. Volker hatte ein schönes Leben, aber jetzt ist es leider aus heiterem Himmel plötzlich zuende gegangen.

Die Kulturredaktion des Abendblatts hat einen schönen Nachruf für ihn verfasst. Und eine Anzeige in die eigene Zeitung gesetzt. Da haben sie seinen Doktortitel nicht vergessen, alle anderen Anzeigen in den Zeitungen lassen den weg. Weil er eben Volker Behrens war und nicht der Dr Behrens. Die Hamburger Filmwelt hat ihm auch eine Anzeige gewidmet, und da sind wahrlich große Namen dabei, die seinen Tod beklagen. Was können wir jetzt tun als klagen?

Ich bekam mein Leben lang Geschenke von ihm. Als ich mir meinen ersten CD Player kaufte, drückte er mir eine CD in die Hand und sagte Kannste zu Testzwecken gebrauchen. Es war Henryk Góreckis Dritte Symphonie. Ich hatte noch nie etwas davon gehört, aber Volker war gerade in England gewesen, wo die Sinfonie der Klagelieder es in die Popcharts geschafft hatte. Ich nahm die CD mit in das HiFi Studio, und wenn ich heute T&A Lautsprecher habe, dann liegt das daran, dass Dawn Upshaw in denen am besten klang. Volker hat mir auch Peter Turners Filmstars don't die in Liverpool geschenkt, ein Buch, das ich nicht kannte. Es ist die traurige Geschichte des Sterbens von Gloria Grahame, das hat mich sehr beeindruckt. Ich bekam von ihm immer wieder Geschenke, die mich verblüfften. Wie diesen Band Luftfracht: Internationale Poesie 1940 bis 1990, herausgegeben von  Harald Hartung für die Andere Bibliothek. Das war für mich eine Überraschung, weil es ein unverhofftes Geschenk war, und weil ich vieles aus dem Buch zum erstenmal las. Der englische Dichter Philip Larkin, dessen Humor Volker gefallen hätte, war auch da drin. Den kannte ich. Aus einem seiner Gedichte möchte ich zum Schluss einige Zeilen zitieren:

The first day after a death, the new absence  
Is always the same; we should be careful
Of each other, we should be kind  
While there is still time.

Sonntag, 12. Februar 2023

Marianne von Eybenberg

Der Herr auf diesem schönen Bild von Anton Graff aus dem Jahre 1789 ist der Prinz Heinrich XIV. Reuß zu Greiz, der am 12. Februar 1799 in Berlin starb. Er hat den Titel eines Feldmarschallleutnants und ist Österreichs Botschafter in Preußen. Mit dem Prinzen Reuß, der zur Zeit in Untersuchungshaft sitzt, ist er nur sehr, sehr entfernt verwandt. Graff hatte sich bei dem lebensgroßen Kniestück ein wenig von der englischen Malerei des 18. Jahrhunderts beeinflussen lassen. Unser Prinz könnte auch für einen englischen Landedelmann durchgehen. Dies ist ein eher bürgerliches Portrait, die Uniform eines Feldmarschallleutnants würde ihm wohl nicht stehen. Der Prinz war ein kunstsinniger Mann, der Goethes Gedichte Kennst du das Land und Nur wer die Sehnsucht kennt vertont hatte und mit Goethe in Verbindung stand. 

Er war ständiger Gast in dem Salon von Sara Meyer, der Tochter des jüdischen Berliner Bankiers Aaron Moses Meyer. Ihr Großvater mütterlicherseits war Veitel Heine Ephraim, der Münzjude von Friedrich dem Großen, der ihm seine Kriege finanzierte. Wir kennen Sara Meyer besser unter dem Namen Sophie Von Grotthuss, weil sie in zweiter Ehe einen livländischen Baron geheiratet hat. Und wir kennen sie, weil sie beinahe dreißig Jahre lang Briefe mit Goethe wechselt. Da ist unser Goethe (der hier selten im Blog ist) schon wieder, wir brauchen ihn gleich noch einmal. Sara Meyers Salon ist nicht so berühmt wie der von Rahel Varnhagen (die hier schon einen Post hat), aber sie kennt bedeutende Leute. Aber so bedeutend wie der Salon der Récamier oder die Salons der englischen Blaustrümpfe sind die Berliner Salons der Frühromantik nicht. 

Jean Paul schreibt 1801 in einem Brief aus Berlin: Der Ton hier übertrifft an Unbefangenheit weit den Weimarschen. Der Adel vermengt sich hier mit dem Bürger, nicht wie Fett mit Wasser, auf welchem dieses immer oben schwimmt und äugelt, sondern sie sind innig vereinigt, wie diese durch Laugensalz, woraus Seife entsteht. Gelehrte, Juden, Offi­ciere, Geheimeräthe, Edelleute, kurz alles was sich an anderen Orten (Weimar ausgenommen) die Hälse bricht, fället einander um diese und lebt wenigstens freundlich an Thee- und Eßtischen beisammen. Ob das Henriette Herz, eine der führenden Berliner Salonnièren der Frühromantik, Rahel Varnhagen oder Sara Meyer sind, die zum Teekränzchen bitten, dies sind jüdische Salons. Henriette Herz schreibt: Die christlichen Häuser Berlins boten nichts, welches dem, was jene jüdischen an geistiger Geselligkeit boten, gleichgekommen oder nur ähnlich gewesen wäre. Wenn Sie mehr dazu wissen wollen: ich habe hier für Sie die Doktorarbeit von Hannah Lotte Lund Der Berliner 'jüdische Salon' um 1800 im Volltext.

Unser österreichischer Prinz lernt bei Sara ihre Schwester Marianne Meyer kennen, die er sofort heimlich heiratet. Eine Mesalliance. In Adelskreisen nennt man das eine morganatische Ehe. Marianne wird natürlich keine Prinzessin Reuß, sie bleibt Marianne Meyer. Aber nach dem Tod ihres Gatten macht der österreichische Kaiser Franz sie zu einer Freifrau von Eybenberg, das ist er seinem Feldmarschallleutnant schuldig. Die schöne junge Frau, von der wir leider kein Portrait besitzen, hatte viele Verehrer, einer war Christian Günther von Bernstorff. Ein anderer hieß Johann Wolfgang von Goethe. Den hatten sie und ihre Schwester, die mit ihrer Cousine Rahel Levin in Karlsbad weilten, durch die Vermittlung von Friederike Brun (die man auch die Madame de Staël des Nordens nannte) kennengelernt. Goethe war von der schönen jungen Frau, die auch noch gebildet und intelligent war, begeistert. Nach überstandenem Schwindel der Verliebheit habe Goethes lebhafte Neigung als aufmerksame Beachtung fortgedauert, versichert uns Rahel.

Leider gibt es kein schönes Buch über die schöne Frau. Silke Schlichtmann ist mit der Professorin Barbara Hahn dabei, alle Briefe und Schriften von Marianne von Eybenberg herauszugeben, aber es gibt eine interessante Biographie an einer erstaunlichen Stelle. Und das ist Jakob Seifensieders Aufsatz Marianne von Eybenberg: zum 125. Todestag am 26. Juni 1937. Erschienen in Der Morgen: Monatsschrift der Juden in Deutschland, man ist erstaunt, dass es so etwas 1937 in Deutschland geben konnte. Sie können hier eine PDF Version des Artikels herunterladen, den auch Karl Kraus kommentiert hat.

Wir können in Winfried Wolfs Goethe und Grimm hätten sich in Karlsbad und Teplitz treffen können einiges darüber lesen, dass Goethe sich mit einigen hübschen Judenmädchen, und einer Actrice von hier amüsirt (das steht so in der Biographie von Nicholas Boyle), aber leider ist das Buch von Wolf ein Roman, keine Literaturgeschichte. In seinem Buch über die Briefe von Goethes Freunden schreibt Richard M. Meyer im Jahre 1911 (als er noch nicht annähernd die vielen Briefe von Marianne kennt): Die beiden Damen waren weder geistreich wie Bettine, noch voll poetischer Tiefe wie Marianne Willemer; trotz ihrer aristokratischen Beziehungen besitzen sie weder die Vornehmheit Charlottens v. Schiller, noch den großen Stil der Caroline v. Humboldt. Sie sprechen zuviel von sich - zumal die schöne Marianne; sie kommen leicht aus dem Plaudern ins Schwatzen. Und doch hat Goethe diese endlosen Erzählbriefe augenscheinlich mit Vergnügen gelesen, zwar kurz, aber höchst liebenswürdig beantwortet, nach Fortsetzung verlangt. Uns scheint es fast, als tue er den Schwestern zuviel Ehre an. Daß sie ihm die Erinnerung an den Verkehr mit der österreichischen Aristokratie, in deren Mitte er sie 1795 in Karlsbad kennen gelernt hatte, vergegenwärtigten, kann nicht allein die Ursache sein: wieviel kühler schreibt er an die Gräfin O'Donell, wieviel unbeteiligter an die Prinzessin von Ligne! Aber er sah wohl in den beiden tapfern Damen seine Vorkämpferinnen in Berlin und Wien; denn Rahel oder Bettine waren ihm menschlich nicht oder nicht dauernd nahegekommen

Ähnlich äußerte sich Rahels Ehemann Karl August Varnhagen über die Briefe von Marianne: In diesen Briefen an ihre Schwester Baronin von Grotthuß ist wenig Geist und Frische, aber manche Erwähnung von Personen und Lebensverhältnissen, die künftig einem Forscher angenehm und werthvoll sein kann.Wir lassen das mal so stehen. Henriette Herz schreibt in ihrer Autobiographie: Ein anderes war es jedenfalls mit ihrer Schwester, Frau vou Eybenberg, ungeachtet sie zu denjenigen gehörte, deren völlige Bedeutung Frauen nur durch einen Rückschluß zu erkennen vermögen, durch den Eindruck nämlich, welchen sie auf Männer, und auf tüchtige Männer machen. Freilich konnten auch Frauen körperliche und geistige Vorzüge an ihr nicht verkennen. Sie war hübsch, von elegantem Wuchse, in ihren Bewegungen durchaus anmuthig. Ihr Temperament war lebhaft, wenngleich unstät. Ihr Geist war mehr anregend als schöpferisch; konnte man sie auch nicht gerade geistreich nennen, doch eben so wenig geistlos. Sie hielt darin eine Mitte, wie sie den meisten Männern an Frauen sehr wohlgefällig ist. Mit ihren Kenntnissen stand es so, daß man sie, den damaligen Ansprüchen an weibliches Wissen nach, ein unterrichtetes Frauenzimmer nennen durfte. Irgendwie klingt das ein bisschen neidisch.

Wir können uns unsere eigenen Gedanken über die Karlsbader Sommerliebe machen. Bey Meyers war er gar hold Marianne, die holde Seele, geht ihm ans Herz, schrieb Friederike Brun in ihr Tagebuch. Die holde Seele Marianne ist halb so alt wie der Dichter, das gefällt ihm sicher. Jahrzehnte später wird sich der Dichter hier in Karlsbad in die fünfzig Jahre jüngere Ulrike von Levetzow verlieben. Der Sommer von 1795 in Karlsbad (hier von Goethe gezeichnet) mit Marianne Meyer wird sich wiederholen. 

Am 2. Juli 1808 schreibt Goethe seiner Frau: Zum Schluß muß ich noch melden, daß auch Mariannchen angekommen ist, artig und gescheidt wie immer. Wenn Goethe jetzt in Karlsbad an seinen Wahlverwandtschaften schreibt, weicht ihm Marianne nicht von der Seite. Oder er nicht von ihrer Seite. In seinen Tagebüchern vom Juni und Juli 1808 wird sie fünfundzwanzig Mal erwähnt. Sie sehen sich täglich, reden über den Roman (der noch Ottilie heißt), machen Spaziergänge und Spazierfahrten, kaufen Krebse und gehen ins Theater. Unsere Marianne wandert in den Roman. Goethes Sekretär Friedrich Wilhelm Riemer wird schreiben: Für Charlotten fand ich bald unter den Badgästinnen eine Goethen nicht unwillkommene Repräsentantin. Am 1. Oktober schreibt Goethe an Marianne: Der Roman, den Sie durch Ihre Teilnahme so sehr gefördert haben, ist nun völlig abgedruckt und wird nun seinen Weg auf die Leipziger Messe nehmen ... Gedenken Sie mein unter dem Lesen, gedenken Sie der guten Tage, in welchen dieses Werkchen größtenteils in ihrer Nähe entstand. Er könnte ja sagen: Ohne Sie wäre der Roman nix geworden, aber das kriegt ein Goethe nicht hin.