Dienstag, 8. Februar 2022

in Flammen


Ich hätte nicht gewusst, dass Paul Auster ein Buch über Stephen Crane geschrieben hat, wenn mir der Volker das nicht erzählt hätte. Der quälte sich gerade durch 1.200 Seiten Text, er musste das Buch bis zu einem bestimmten Datum gelesen haben, weil er einen Termin für ein Interview mit Paul Auster hatte. Rowohlt hat das Buch, das im amerikanischen Original nur 783 Seiten hat, von Werner Schmitz übersetzen lassen. Der ist ja Spezialist für amerikanische Literatur, er hat beinahe alles von Paul Auster übersetzt, seine Hemingway Übersetzungen sind gerühmt worden. Der Rowohlt Verlag bietet von Austers In Flammen: Leben und Werk von Stephen Crane im Netz eine Leseprobe an, die 121 Seiten lang ist. Das ist ein Zehntel des Buches, man bekommt einen sehr guten Eindruck vom Buch. Aber muss man es haben? 

Biographien von Stephen Crane gibt es schon genug. Angefangen mit der Biographie von dem Dichter John Berryman aus dem Jahre 1950, die 1962 in einer überarbeiteten Ausgabe erschien und im letzten Jahr nachgedruckt wurde. Ich kann davon hier auch eine Leseprobe anbieten. Edmund Wilson schrieb im New Yorker in seiner Rezension: Mr Berryman's work is an important one, and not merely because at the moment it stands alone ... We are not likely soon to get anything better on the critical and psychological sides. Stephen Crane war im Jahre 1900 gestorben, und erst ein halbes Jahrhundert später erscheint die erste Biographie (die sich A Critical Biography nennt) des Autors. Das ist erstaunlich, zeigt aber, dass die Amerikaner mit Cranes Werk nicht so viel anfangen konnten. Berryman ist Dichter, kein Literaturwissenschaftler und kein professioneller Biograph. Sein Schwergewicht liegt darauf, dass hier ein Dichter einen anderen Dichter zu verstehen sucht, und Psychologie und Psychoanalyse spielen in seinem Buch eine große Rolle. In der zweiten Auflage gibt Berryman zu, dass sein psychoanalytischer Ansatz certainly not literary criticism ist. Und er bedauert, dass er die Hauptwerke von Crane überhaupt nicht gewürdigt hat.  

Es hatte vor Berrymans Biographie schon ein anderes Werk gegeben, dem er sich stark verpflichtet fühlte, nämlich Thomas Beers Stephen Crane: A Study in American Letters im Jahre 1923. Berryman hatte Thomas Beer bewundert und im Vorwort zur überarbeiteten Auflage seines Buches geschrieben: On the whole, I think the curious reader is still stuck with either my picture or Thomas Beer's, to the degree that those pictures differ. Man wünschte, es wäre nicht so. Ein Buchhändler im Internet hat das Buch von Beer mit einer Warnung versehen: BEWARE! This biography has been described as 'a tissue of lies'. It was shown in 1990 by Crane scholars Paul Sorrentino and John Clendenning that Thomas Beer freely invented incidents and associates in Crane's life, as well as forging from scratch dozens of letters from Crane. Not only does this make this biography worthless, except as a curiosity, but it infected later Crane biographies, for instance those by John Berryman (1950) and RW Stallman (1968), with misinformation. If you want a Crane bio there are at least two major ones written since the discrediting of Thomas Beer: Christopher Benfey's (1992) and Paul Sorrentino's (2014). Joseph Conrad, der Stephen Crane schätzte (I confess to an abiding affection for that energetic, slight, fragile, intensely living and transient figure), hatte arglos das Vorwort zu dem tissue of lies beigesteuert.

Zwei Jahre nach Berrymans Biographie veröffentlichte Robert Wooster Stallman Stephen Crane: An Omnibus, in dem der amerikanische Leser das Wichtigste von Crane finden konnte. Insbesonders den ersten Nachdruck von The Red Badge of Courage nach der Originalausgabe. Carlos Baker schrieb 1968 im New York Times Book Review über Stallmans Stephen Crane: A Biography, der Autor sei the world's foremost authority on what Crane wrote, thought and did. Er wusste, wie man eine gute Biographie schreibt, er war gerade dabei seine Hemingway Biographie zu vollenden. Stallman hat wenig Gutes über Beers und Berryman zu sagen. Drei Jahre vor seinem Tod hat er alles über seine Stephen Crane Forschung in That Crane, that albatross around my neck: a self-interview veröffentlicht. Wenn Sie den Titel anklicken, kommen Sie auf eine Seite, von der man den wunderbaren, als Interview getarnten, Aufsatz herunterladen kann. Es ist Professor Stallmans persönliche Beschreibung des Dschungels der akademischen Welt. Berryman hat er nie getroffen, obgleich der einmal an Stallmans Universität seine Gedichte vorgelesen hat. Er kam stockbesoffen an und hat in der Nacht sein Bett vollgepinkelt. Das hat keinen guten Eindruck an der Universität von Connecticut gemacht. Stallmans zwanzigseitiger Essay ist voll mit solch kleinen Bosheiten. Im englischen Wikipedia Artikel zu Stephen Crane wird Stallman nicht erwähnt, aber mit ihm fängt die ernsthafte Stephen Crane Forschung an. In den ersten zwanzig Jahren nach Stephen Crane: An Omnibus hat es mehr als zweihundert Publikationen  zu Stephen Crane gegeben. 2014 hat Paul Sorrentino bei der Harvard University Press noch eine Biographie veröffentlicht, und nun dachte man, es ist genug.

Aber jetzt kommt Paul Auster. Der sich in Interviews daran erinnerte, dass er als Fünfzehnjähriger The Red Badge of Courage gelesen hatte. Das Buch hatte ihn stark beeindruckt: What I have wanted to do is communicate something about the experience of reading Crane and how it feels to encounter his work for the first time - a raw and direct response to what is sitting in front of us on the page, the words themselves, and the thoughts and images the words provoke in us as we move from one sentence to the next. Ich weiß nicht, wann ich The Red Badge of Courage zum erstenmal gelesen habe, ich weiß nicht mal mehr, wann ich Stephen Crane an der Uni in einem Seminar behandelt habe. Aber ich weiß noch, dass Peter Nicolaisen mir gesagt hat, ich müsse unbedingt The Open Boat lesen. Und ich weiß auch, dass es in meinem ersten Jahr als Blogger hier einen Post Stephen Crane gab.

Paul Auster war nach seinem Roman 4321 in einer leichten Sinnkrise: After I finished 4321, I was really exhausted and knew that I wouldn’t be able to write for some time. Das haben Autoren ja häufiger. Als Joyce Ulysses beendet hatte, konnte er für ein ganzes Jahr nichts schreiben. After I finished '4321', I was really exhausted and knew that I wouldn’t be able to write for some time so I took several months off to regroup. During that time, I read a lot of things that I had been meaning to read all my life. I started reading Crane again. The first thing I read was 'The Monster', which I’d never even heard of. I was so overpowered by its brilliance - it took me by storm and I was shocked at how good and deep and resonant it was. That inspired me to read everything else he’d written. My admiration kept growing. By the time I was done with his work I started investigating his life and realised how deeply fascinating that was. Finally, I decided to write a short appreciation of Crane.

Das war der Plan, ein kurzes Buch. Es ist ein langes Buch geworden, a new member of the Rocky Mountain chain, wie Auster es formulierte. Biographie und Besprechung des Werks halten sich die Waage, das ist anders als bei Berryman, den die Besprechung des Werks nicht interessierte. Für jemanden, der nur achtundzwanzig Jahre alt wurde, hat Crane ein immenses Werk geschaffen. In einem seiner Gedichte, die nur aus einzelnen ungereimten Versen bestehen, heißt es:

There was a man who lived a life of fire.
Even upon the fabric of time,
Where purple becomes orange
And orange purple,
This life glowed,
A dire red stain, indelible;
Yet when he was dead,
He saw that he had not lived.

Für Harold Bloom war das an anxious meditation on his own action-obsessed life. Der Rezensent des Jahres 1895 kommentierte das Gedicht mit dem Satz remark upon the above would be a mere waste of words. Ich lasse die Lyrik von Stephen Crane mal weg, die Kritiker sind sich da auch uneins, ob diese kleinen Verse wirklich Lyrik sind. Ein Kritiker hat sie als abgemagerten Walt Whitman und aufgeblähte Emily Dickinson bezeichnet, das fand ich witzig. Die Bildlichkeit mit dem verzehrenden Feuer haben Paul Sorrention mit dem Titel seiner Biographie Stephen Crane: A Life of Fire und Paul Auster mit Burning Boy (deutsch: In Flammen) aufgenommen.

Das letzte Jahr seines Lebnes verbringt Crane mit Cora, mit der er seit vier Jahren zusammenlebt, in England. Er hat neue Freunde: Joseph Conrad, Henry James, Ford Maddox Ford und H.G. Wells. Weihnachten feiert er mit ihnen noch eine mehrtägige Party, aber es geht zuende, ein Blutsturz folgt dem anderen. Er verlässt das gemietete Schloss, das keine Heizung und nur ein Plumpsklo draußen hat, und reist nach Badenweiler. Von der Luft des Schwarzwalds erhofft er sich eine Besserung. Joseph Conrad trifft ihn noch einmal vor seiner Abreise: I saw Stephen Crane a few days after his arrival in London. I saw him for the last time on his last day in England. It was in Dover, in a big hotel, in a bedroom with a large window looking on to the sea. He had been very ill and Mrs. Crane was taking him to some place in Germany, but one glance at that wasted face was enough to tell me that it was the most forlorn of all hopes. The last words he breathed out to me were: 'I am tired. Give my love to your wife and child.' When I stopped at the door for another look I saw that he had turned his head on the pillow and was staring wistfully out of the window at the sails of a cutter yacht that glided slowly across the frame, like a dim shadow against the grey sky. Those who have read his little tale, 'Horses,' and the story, 'The Open Boat,' in the volume of that name, know with what fine understanding he loved horses and the sea. And his passage on this earth was like that of a horseman riding swiftly in the dawn of a day fated to be short and without sunshine.

Er wird in Badenweiler sterben, wo vier Jahre nach ihm auch Anton Tschechow stirbt. Der deutsche Schriftsteller Andreas Kollender hat in seinem Roman Mr Crane noch eine heiße Liebesaffaire erfunden, die Crane in der Woche vor seinem Tod mit einer Krankenschwester gehabt haben soll, aber das ist Fiktion. Cora, die ehemalige Bordellwirtin, die er nie geheiratet hat, ist bis zu seinem Tod an seiner Seite. Henry James, der nicht zu emphatischen Äußerungen neigte, schrieb What a brutal, needless extinction — what an unmitigated, unredeemed catastrophe! I think of him with such a sense of possibilities and powers!

I will be glad if I can feel on my death - bed that my life has been just and kind according to my ability and that every particle of my little ridiculous stock of eloquence and wisdom has been applied for the benefit of my kind. From this moment to that deathbed may be a short time or a long one but at any rate it means a life of labor and sorrow. I do not confront it blithely. I confront it with desperate resolution. Das schreibt Crane 1896 in einem seiner Liebesbriefe an Nellie Crouse, einer Frau, die er nur einmal getroffen hat. Ich weiß nicht, ob das nur schöne Rhetorik ist oder ob er es ernst meint.

Paul Austers In Flammen ist im letzten Monat bei Rowohlt erschienen. Zu der amerikanischen Erstausgabe hatte Adam Gopnik im New Yorker eine sehr schöne Rezension geschrieben. Mein Freund Volker hat Paul Auster telephonisch pünktlich zum Termin interviewt, er hat mir den Text geschickt, der viel länger als das ist, was seine Zeitung gedruckt hat. Aber in dem Interview sagt Auster nichts, was er nicht schon anderen Interviewpartnern gesagt hätte. Doch er hat viel über amerikanische Politik gesagt. Wenn Sie Stephen Crane lesen wollen, dann wäre meine Empfehlung: der Roman The Red Badge of Courage (der hier schon einen Post hat) und die Kurzgeschichten The Open Boat, The Blue Hotel und The Bride Comes to Yellow Sky.

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