Freitag, 30. April 2021

Schreibblockade


Nein, eine Schreibblockade habe ich nicht, das haben Sie gemerkt: es gab im Poetry Month jeden Tag einen Post. Schreibblockade ist nur der Titel des Gedichts heute am letzten Tag des Poetry Month. Es ist ein Gedicht von Eugene Ostashevsky, der in dem Buch The Fire Horse russische Kindergedichte ins Englische übersetzt hat. Kindergedichte liegen ihm am Herzen, das werden Sie gleich an dem Gedicht Schreibblockade sehen. Der Dichter wurde in Leningrad geboren, seine Eltern wanderten mit ihm 1979 in die USA aus. Er ist Professor für Literatur in New York, war aber auch schon Gastprofessor an der Humboldt Universität in Berlin. Auf Deutsch sind von ihm erschienen: Auf tritt Morris Imposternak, verfolgt von Ironien (übertragen von Uljana Wolf) und Der Pirat, der von Pi den Wert nicht kennt (übertragen von Uljana Wolf und Monika Rinck). Ich zitiere mal einige Zeilen aus dem Buch über den Piraten und seinen Papagei, dann sehen wir, dass hier jemand mit der Sprache spielt:

They raided packet boats, pedal boats
and boats at once packet and pedal,
palanders, pirogues, pontoons,
and gondolas made of metal,
dhows, dinghies, baidarkas,
catamarans and clippers,
feluccas, garrookuhs, tankers,
bathtubs and bathroom slippers!


Als Eugene Ostashevsky in einem Interview gefragt wurde, welches Buch sein Leben verändert hätte, sagte er: I can talk about a poem that changed my life. One day in my 20s, I was lying in my parents' basement and leafing through an old Oxford Book of English Verse, compiled by Helen Gardner. And there I came across Edward Lear's "The Owl and the Pussycat." I didn't know it as a child because it hadn't been translated. It was a shock. I read it over and over. It felt like the only real poem in there, the only poem completely devoid of verbiage. And I'm including Milton and Donne and so on in the comparison. Today "The Owl and the Pussycat" could become anthemic, like "The Road Not Taken," because it talks about love without imposing gender stereotypes or even differences. But it has the word "pussy." Americans get really nervous if they have to say "pussy" around children. They think they will be thought perverts. My mom bought my daughter Una a bowl with the text of "The Owl and the Pussycat" printed around the rim, but they excised "O lovely pussy, o pussy my love! What a beautiful pussy you are." They just left it out. They were scared. We own a bowdlerized bowl

Die Teller und Schalen mit dem Gedicht von Edward Lear, die man im Internet findet, haben den originalen Text, aber es ist durchaus vorstellbar, dass man für den amerikanischen Markt das Wort pussy weggelassen hat. Es ist in der Bedeutung von Katze seit 1726 in der englischen Sprache, die Bedeutung, die Donald Trump kennt, wenn er sagt Grab them by the pussy. And then you can do anything, gibt es erst seit 1879. Ostashevsky wird das lieben, was Edward Lear mit der Sprache macht, er jongliert ebenso gerne mit der Sprache wie der Nonsense Dichter Edward Lear, das ist uns jetzt klar. Ein anderes Vorbild für Ostashevsky ist Daniil Charms, dessen Werke er übersetzt und herausgibt.

Das bezaubernde kleine Gedicht Die Schreibblockade ist untertitelt Sonnet VI, aber es ist definitiv kein Sonett, der Autor treibt mit uns kleine Scherze. Seine Töchter Eva und Una, die mit dem multilingualen Sprachjongleur aufwachsen, werden bestimmt dadaistische Dichterinnen.

Камень. Камены.
A swan engages in self-reflection. 
The gardens of Leto do not commemorate Niobe.
Riven, the vernal ice drifts on the Never River.
Eva my daughter has a fever. Her face looks thinner.
She ate bread and butter my daughter.
She wants me to lie next to her, so that she may grab onto the sides of my head
       and drift off to sleep.
Vater. Water.
She wakes up, goes to peepee. I hold her over the bowl.
I try to wrap her in a bathrobe. No, I’m schwitzing. I do not need it.
       I’m not cold, I’m wet.
She sneezes, a Popel hanging out of her nose. Der Popel, but die Pappel.
       Ich sah meine Pappel, and so on.
She “reads” Asterix and is delighted when I tell her that Ave is Eva
       spelled backwards.
Papa, says Eva holding a brownish apple, schmeiss this weg. I schmeiss it weg.
We live in Berlin.

Donnerstag, 29. April 2021

Talkshows


Talkshows sind ja schon schlimm, aber die Talkshows in der Corona Krise sind das Schlimmste, das man sich vorstellen kann. Immer wieder sitzen da dieselben Leute und reden. Das ist jetzt keine disputatio, in der es um Erkenntnisgewinn geht, hier wird schlicht und einfach nur gequasselt. Warum der Lindner immer wieder eingeladen wird, ist mir schleierhaft. Wenn der Kubicki da ist, weiß ich, dass das Fernsehen eine Freude machen will, weil ich dann an diese kleine Geschichte denken muss. Der Talkshow König ist natürlich der Dr Karl Lauterbach, der hat immer etwas zu sagen. War schon so, bevor wir wussten, dass es Corona gab. Er ist zwar Doktor der Medizin (dank eines Stipendiums der Konrad Adenauer Stiftung), aber er ist kein Arzt, er hat keinerlei Praxiserfahrung. Aber er redet über alles. Weil er der Talkshowkönig ist. 

Wahrscheinlich ist diese kleine Geschichte aus der Late Night Show von Benjamin von Stuckrad-Barre bei ZDFneo im Jahre 2011 schon vergessen, als Hajo Schumacher Herrn Dr Lauterbach mit folgenden Sätzen einführte: Es gibt zwei Abgeordnete, einen von der Linkspartei und der andere von der CDU, die haben ihn beide gemeinsam zum faulsten Abgeordneten des Gesundheitsausschusses erklärt, weil er nie da war – oder immer nur, wenn Kameras da waren. Und er ist im Aufsichtsrat eines privaten Klinikbetreibers und will immer nicht verraten, wie viel Kohle er dafür kriegt, man sagt so zwischen 50.000 und 100.000 im Jahr. Er guckt einen immer so ganz, ganz stechend an und sagt: 'Ich bin doch Sozialdemokrat', und hofft, dass man dann nicht weiter fragt

Was wären wir nur ohne Markus Lanz? Und was wäre Markus Lanz ohne die Corona Krise? Jetzt ist er der Quotenkönig, Corona und der Talkshowkönig Karl Lauterbach haben ihn dazu gemacht. Noch nie haben so viele Menschen so viele Talkshows gesehen. Und immer dasselbe Thema, und immer dieselben Gäste. Anne Will zahlt denen nichts, bei Markus Lanz gibt es einen branchenüblichen Betrag (er selbst bekommt 12.000 Euro pro Sendung), und bei Maybrit Illner bekommen die Gäste zwischen fünfhundert und tausend Euro. Egal, was sie sagen. Jeden Abend wird uns im Fersehen bewiesen, dass Goethes Satz Getretner Quark wird breit, nicht stark richtig ist. Im Seichten kann man nicht ertrinken, hat der RTL Chef Helmut Thoma vor dreißig Jahren gesagt. Kann man aber doch, es wird uns jeden Tag gezeigt.

Ich habe heute ein Gedicht von Michael Krüger, der den Hanser Verlag zu dem gemacht hat, was der Hanser Verlag ist. Er schreibt jetzt für die Süddeutsche Gedichte aus der Quarantäne. Und mein Gedicht heute heißt Schildkröten-Talkshow mit Anne Will. Passender geht es nicht:

An einem der längsten Tage des Jahres 
träumte ich von einer Talkshow im Fernsehen,
deren Gäste ausschließlich Schildkröten waren.
Zuerst die Nachrichten, ganz normal, 20 Uhr,
mit Jan Hofer und Marietta Slomka,
die sich gegenseitig ins Wort fielen und schubsten,
und sich gegenseitig das Mikro aus der Hand rissen,
sodass Susanne Daubner beenden musste,
dann das Wetter mit Plöger, der vor Lachen
keinen einzigen Satz zu Ende sprechen konnte
und wie närrisch die Wetterkarte traktierte,
und schließlich Anne Will vor sechs Schildkröten,
alle mit Mundschutz und im Sicherheitsabstand,
die über Präsident Trump redeten, als sei der
noch am Leben. Eine der Schildkröten begann
jeden Satz mit: Wenn ich an Lincoln denke,
kam aber nicht weiter, Jan Hofer schenkte Wasser aus,
das er den Schildkröten über den Kopf goss,
und eine weibliche Schildkröte wollte für alte Möhren
eine Abfallprämie. Besonders eindrücklich war ein Tier,
das eine volle Stunde für seine Vorstellung brauchte.
Es war aus dem Zoo von Prag angereist, kannte noch
den Kaiser und Kafka und hatte lange im Untergrund
gelebt. Frau Will pochte immer auf ihre Uhr,
weil ihr die Zeit weglief, aber die Schildkröte war blind
und taub und nicht zu bremsen. Um vier in der Früh
wachte ich auf, an Schlaf war nicht mehr zu denken
.

Mittwoch, 28. April 2021

Kohlenpott

Die amerikanische Schauspielerin Ann-Margret wird heute achtzig, ich erwähne das nur, um zu zeigen, das ich weiß, wer sie ist. Denn vor zehn Jahren hat sie mit Ann-Margret hier schon einen Geburtstagspost bekommen. In dem auch das Photo zu sehen ist, wo sie ohne Höschen in Vietnam auftritt. Ich brauche für den Post, der Kohlenpott heißt, aber heute ein ganz anderes Geburtstagskind. Nämlich den Franzosen Yves Klein, der hat auch schon einen Post. Der Künstler, den man auch Yves le monochrome nannte, ist berühmt geworden, weil er (immer elegant im dunklen Anzug) nackte Frauen blau bemalt hat. Das Ultramarinblau hatte er sich als International Klein Blue (IKB) patentieren lassen. Ich weiß nicht, ob sie sich in Gelsenkirchen heute noch an ihn erinnern. Sollten sie aber, denn Spuren seiner Arbeit sind hier immer noch zu sehen. 

Denn 1958, da hat er das Gelsenkirchener Musiktheater blau ausgemalt. War zuerst ein Gelsenkirchener Skandal, ist aber heute vielleicht der schönste Platz von Gelsenkirchen. 1958 war auch das Jahr, in dem Schalke 04 zum letzten Mal deutscher Meister wurde. Vielleicht hätten sie in diesem Jahr statt ihrer königsblauen Trikots mal Trikots in dem ultramarinblauen Yves Klein Blau tragen sollen, dann wären sie vielleicht nicht abgestiegen.  

Der Fußballclub Gelsenkirchen-Schalke 04 e. V gehört zu den Gründungsmigliedern der Bundesliga, abgestiegen sind sie aber schon mehrere Male. Sie hatten immer wieder ihre Helden. Der Flankengott aus dem Kohlenpott Rüdiger Abramczik ist gerade fünfundsechzig geworden. Einen Flankengott hatten sie schon mal bei Schalke, das war Stan Libuda, der schon in dem Post über Erwin Kostedde erwähnt wird. 1904 hieß der Verein noch Westfalia Schalke und spielte in rot und gelb, die blauen Vereinsfarben haben sie erst seit 1913. 

Es gibt Yves Klein in Gelsenkirchen. Es gibt Kultur im Kohlenpott, also außer dem Absingen von Glück auf, der Steiger kommt; abgesehen von Jürgen von Manger, Schimanski, Herbert Grönemeyer und Rudolf Schock. Und der Krupp StiftungKultur durch Wandel, Wandel durch Kultur lautet das Motto der Ruhr. 2010, die das Ruhrgebiet als Kulturhauptstadt Europas präsentierte. Wir müssen einmal ein wenig in der Zeit zurück gehen. Im Jahr 1931 gab der Journalist Georg Schwarz mit seinem Buch Kohlenpott: Ein Buch von der Ruhr die erste umfassende Bestandsaufnahme der Region. Es ist, wenn man so will, eine klassenkämpferische Reportage über die Arbeits- und Lebensbedingungen im Ruhrgebiet in den dreißiger Jahren. Das Buch war bei Büchergilde Gutenberg erschienen, deren Mitarbeiter der Autor war. Es ist 1961 wieder aufgelegt worden. Für eine Erstausgabe muss man heute schon hundertfünfzig Euro auf den Tisch legen, aber Sie können das Buch hier kostenfrei lesen. Allerdings ohne die Photographien, die dem Original beigegeben waren.

Georg Schwarz hat in seinem Buch auch ein Kapitel, das Das Ruhrproletariat dichtet heißt, er läßt kein Thema aus, das ist verdienstvoll. Er hebt hier besonders den Arbeiterdichter Erich Grisar hervor, der sich später auch als Photograph einen Namen machte. Ich nehme mir heute von ihm zwei Gedichte. Das erste heißt Großstadtmädchen und es findet sich in einem Gedichtband, der Gedichte vom Kampf mit Not und Tod heißt und 1926 erschien:

Nach Herrenart das Haar geschnitten,
À la garçonne den Nacken ausrasiert,
Ein Lachen auf gefärbten Lippen,
Wie es der Gleichmut nur gebiert;

So wirst du sie in Warenhäusern
Seh’n Tag für Tag mit bleichem Angesicht,
Wo sie an grauen Ladentischen
Am kargen Unterhalt erfüllen ihre Pflicht.

Und ist nur selten unter ihnen
Eine, die, wenn der Läden Tor sich schließt,
Der Sonne letzte gold’ne Strahlen
Drauß’ irgendwo in Wald und Feld genießt.

Die andern all’ gar bald verschwinden
In Kaffeehäusern, um in Tabakrauch
Des Tages Mühen zu vergessen
Und, die sie stets betrog, die Jugend auch.

Und später dann, wenn der Laternen
Fahlgelbes Licht die Finsternis durchdringt,
Siehst du sie geh’n mit irgend einem,
Der sie um süßen Lohn nach Hause bringt.

In gleichem Tun entschwindet ihnen
So Tag um Tag ein Stück vom Jugendland,
Bis sie, an Leib und Seele krankend,
Das Schicksal in das Joch der Ehe spannt.

Ich habe noch ein zweites Gedicht, Platzanweiserinnen im Kino, 1931 in dem Band Bruder, die Sirenen schrein erschienen. Das habe ich ausgewählt, weil ich dann noch einen kleinen Ausschnitt von Edward Hoppers Platzanweiserin in einem New Yorker Kino zeigen kann. Wenn Sie dann noch mehr von Erich Grisar lesen wollen, dann kann ich Ihnen auch das hier anbieten: die Nyland Stiftung hat 2012 das ganze Erich Grisar Lesebuch ins Netz gestellt.

Platzanweiserinnen im Kino

Mit kleinen Lampen, die wie Sterne
aufflammen, tasten sie sich durch den Raum
und führen jene, die nach einem Traum,
nach wilder Jagd und fremder Ferne,

nach großem Schicksal sich verzehren,
zu ihrem Platz und lassen sie allein,
indessen sie das flinke Bein
schon wenden, um zurückzukehren

zur Tür, von wo den nächsten sie geleiten
durch diesen Raum, der ihnen wie ein Bergwerk ist,
so dumpf und dunkel, daß man schnell vergißt,
daß Herzen sind, die von den Zärtlichkeiten

der weißen Wand gepackt, wie Purpur glühen.
Für sie ist das nur eine Wand,
mit totem Leinen überspannt;
mag auch der Lotos auf der Leinwand blühen

und fernster Himmel ihren Händen
ganz nahe sein, sie wünschen nur,
daß sie von ihrer Jugend eine Spur
und über sich den echten Himmel fänden.




Dienstag, 27. April 2021

Pink Moon


Heute kann man ihn vielleicht sehen, diesen Supermond, den man neuerdings in der deutschen Presse Pink Moon nennt. Diesen Namen haben ihm zuerst die Algonquin Indianer gegeben, die für jeden Mond des Jahres einen eigenen Namen hatten. Vom Mond ist auch viel in diesem Blog die Rede (zuletzt in dem Post Schülerfilmclub), was vielleicht daran liegt, dass mein Gymnasium ein kleines Observatorium auf dem Dach hatte. Der Leiter des Observatoriums war unser Nachbar, das steht aber alles schon in dem Post Astronomie, das lasse ich jetzt mal weg.

Als ich in der Zeitung las, dass es einen Pink Moon geben würde (im Mai gibt es noch einen), fiel mir als erstes Nick Drakes Pink Moon ein, das die VW Reklame ja leider auch schon recycelt hat. Aber der Text gibt als Gedicht nicht viel her:

Saw it written and I saw it say
Pink moon is on its way
And none of you stand so tall
Pink moon gonna get ye all
And it's a pink moon
Hey it's a pink moon
Pink, pink, pink, pink, pink moon
Pink, pink, pink, pink, pink moon
I saw it written and I saw it say
Pink moon is on its way
And none of you stand so tall
Pink moon gonna get ye all
It's a pink moon
Yea, it's a pink moon

Jeder hat Platten oder Musikstücke, die das Leben verändert haben, hat der Schriftsteller Tom Schulz im Deutschlandfunk gesagt. Für ihn sei das Pink Moon von Nick Drake. Das macht mir den Dichter richtig sympathisch, in diesem Blog gbt es auch schon lange einen Post, der Nick Drake heißt. Also nehme ich mir heute mal ein Gedicht von Tom Schulz, der war auch noch nie in diesem Blog. Auf dem Klappentext von Innere Musik steht: Es gilt, die Dichtung wieder mit dem magischen Moment des Aufbruchs zu verbinden. Einer Reise um alle möglichen Welten, vor allem die imaginären. Es geht um Dichtung voll verrücktem Pathos und einer Unbedingtheit, Wildheit, Zärtlichkeit. So etwas sagen Dichter immer. Vor allem auf dem Klappentext. Sie können das selbst testen, auf der Seite Lyrikline können Sie neunzehn Gedichte von Tom Schulz lesen (und hören). Ich nehme mir heute davon einmal das Gedicht Sommerabend:

nichts gesagt und getan
als die eigenen Hieroglyphen in den Sand gesetzt
durch soviel Kuhmist geschritten
rauchst du mit mir den miesesten ipod

holst du die Anspruchsmusik herunter
auf dich lässt sich alles verwenden
die Nächte, in denen wir verbrennen
sollen die Vulkane ins Quadrat nehmen

deine Liebe, lass sie mich ausstatten
mit einem Seepferdchen, nicht domestizierbar
die Eiweißverbindungen die zwischen uns bestehen
doch ich werde rein pflanzlich
bis später, wüst gefallen vor 2069

welche Kurpromenade werden die Berührungen
entlang schlendern, wenn die wirkliche Schönheit
verfliegt auf der anderen Straßenseite
(sie kam vom studentischen Austauschdienst
folge ihr ins Bad und vergifte sie)

es ist Sommer, trockene Hitze, nein Schwüle
trockene amerikanische Lakonie, es ist Sommer
in den Bäumen die Maultiere, große Dürre
waren es Williams Birnen oder Pflaumen
jedenfalls ist es Sommer

dreh mal die Platte um, sometimes a pony
gets depressed, was macht das schon
für einen Unterschied, verschwinden oder
herausgestrichen werden aus einem Plan
der nicht aufgeht

nur die lange schweigende Mehrheit der auf dem Grund
der Flüsse röchelnden Fische, die den Rochen voll
und hinter tausend Hefeweizen keine Welt


Noch mehr Mond in den Posts: AstronomieVollmond, Himmel, Adam Elsheimer, Observatorium, Abschiedsgeschenk, Die Harmonie der Welt, Vulkane, Zeiss, Dunkelheit, Mondnacht, SoFi

Montag, 26. April 2021

Fietsen


Melania Trump wird heute einundfünfzig. Gibt es Gedichte über sie? Ja und nein. Die Filmschaupielerin Bette Midler hat ein fünfzeiliges pornographisches Gedicht auf Melania geschrieben, aber das ist definitiv NSFW. Das lassen wir mal weg. Das kulturelle Ereignis ist heute natürlich nicht Melania Trump, sondern der Jahrestag der Besteigung des Mont Ventoux durch Petrarca. Zu dem Thema gab es hier vor zehn Jahren den schönen kulturgeschichtlichen Post Mont Ventoux, in dem Sie alles über das Erklimmen von Bergen lesen können. Dass Jean Buridan schon lange vor Petrarca auf dem Berg war, steht da auch. Auf den Gipfel ist das Ziel und das Ende unseres Lebens, auf ihn ist unsere Wallfahrt gerichtet, hat Petrarca in einem Brief geschrieben. Den höchsten Berg unserer Gegend, der nicht unverdienterweise der windige genannt wird, habe ich gestern bestiegen, lediglich aus Verlangen, die namhafte Höhe des Ortes kennenzulernen. Und auf dem Gipfel des Berges liest Petrarca in Augustinus' Confessiones just die Stelle: Da gehen die Menschen, die Höhe der Berge bewundern und die Fluten des Meeres, die Strömungen der Flüsse, des Ozeans Umkreis und der Gestirne Bahnen, und verlieren dabei sich selber. Irgendwie glaube ich kein Wort von der Geschichte.

Aber der kahle Berg (hier vom Prince of Wales gemalt), über den die Radrennfahrer der Tour de France in diesem Jahr zweimal fahren müssen, liefert mir heute das Gedicht des Tages. Es hat den wunderbaren Titel Fietsen op de Mont Ventoux, das war auch der Titel des ersten Bandes von Sonetten von Jan Kal im Jahre 1974. Fietsen op de Mont Ventoux heißt soviel wie mit dem Fahrrad auf den Mont Ventoux fahren. Ich glaube, ich kann Ihnen das Holländische zumuten, ich bin sicher, Sie verstehen das, als ich letztens ein norwegisches Gedicht präsentierte, wurde der Post in wenigen Tagen ein Bestseller. Ich habe aber für meine amerikanischen Leser (in den letzten vier Wochen waren das über zehntausend) auch noch eine englische Übersetzung. Wir fangen mal mit Fietsen op de Mont Ventoux an:

Dichten is fietsen op de Mont Ventoux, 
waar Tommy Simpson nog is overleden. 
Onder zo tragische omstandigheden 
werd hier de wereldkampioen doodmoe.

Op deze col zijn velen losgereden,
eerste categorie, sindsdien tabu.
Het ruikt naar dennegeur, Sunsilk Shampoo, 
die je wel nodig hebt, eenmaal beneden.

Alles is onuitsprekelijk vermoeiend,
de Mont Ventoux opfietsen wel heel erg, 
waarvoor ook geldt: bezint eer gij begint.

Toch haal ik, ook al is de hitte schroeiend, 
de top van deze kaalgeslagen berg: 
ijdelheid en het najagen van wind.

Die erste Zeile des Sonetts ist natürlich genial, dieses Dichten is fietsen op de Mont Ventoux bleibt im Gedächtnis wie ein Werbespruch. Das Gedicht findet sich auch auf der interessanten holländischen Seite De kale Berg, auf der man viel über den Mont Ventoux erfahren kann. Und da ich bei interessanten Seiten bin, muss ich die Seite der Übersetzerin Ans Bouter empfehlen, die von William Shakespeare bis zu Billie Holiday hunderte von Gedichten und Songs aus dem Englischen ins Holländische übersetzt hat. Anders herum kann sie es natürlich auch, wie ihre Übersetzung Fietsen op de Mont Ventoux zeigt:

Poetry is cycling up the Mont Ventoux
You know the one where Tommy Simpson died 
Such tragic circumstances were implied
And where the champion got dead tired too

Right on this col so many men competed
Since then first category is taboo
You smell the pine scent there of cheap shampoo 
Which, having finished, certainly is needed

All this is inexpressively exhausting
And cycling up the Mont Ventoux the worst 
So do think twice: it's not an easy thing

Yet I will reach – although the heat is scorching – 
The summit of this mountain so much cursed: 
It’s vanity and chasing after wind.

Sonntag, 25. April 2021

Märchenwelt


Der englische Schriftsteller Walter de la Mare, der am 25. April 1873 geboren wurde, ist schwer einzuordnen. Er hat Kinderbücher geschrieben, Gedichte, Nonsense Verse und Gespenstergeschichten. Seine Welt sieht ungefähr so aus wie auf dem Umschlagbild dieses Buchs. Sie hat immer etwas Geheimnisvolles an sich, hat wenig mit dem literarischen Realismus zu tun, poetry, good or bad, depends for its very life in the hospitable reader, as tinder awaits the spark, hat er einmal gesagt.

Die beste Einführung in seine Welt hat wahrscheinlich sein Kollege T.S. Eliot mit dem Gedicht To Walter de la Mare gegeben:

The children who explored the brook and found
A desert island with a sandy cove
(A hiding place, but very dangerous ground,

For here the water buffalo may rove,
The kinkajou, the mungabey, abound
In the dark jungle of a mango grove,

And shadowy lemurs glide from tree to tree -
The guardians of some long-lost treasure-trove)
Recount their exploits at the nursery tea

And when the lamps are lit and curtains drawn
Demand some poetry, please. Whose shall it be,
At not quite time for bed?…

Or when the lawn
Is pressed by unseen feet, and ghosts return
Gently at twilight, gently go at dawn,
The sad intangible who grieve and yearn;

When the familiar is suddenly strange
Or the well known is what we yet have to learn,
And two worlds meet, and intersect, and change;

When cats are maddened in the moonlight dance,
Dogs cower, flitter bats, and owls range
At witches' sabbath of the maiden aunts;

When the nocturnal traveller can arouse
No sleeper by his call; or when by chance
An empty face peers from an empty house;

By whom, and by what means, was this designed?
The whispered incantation which allows
Free passage to the phantoms of the mind?

By you; by those deceptive cadences
Wherewith the common measure is refined;
By conscious art practised with natural ease;

By the delicate, invisible web you wove -
The inexplicable mystery of sound.
 
Das ist es, dieses delicate, invisible web und dieses inexplicable mystery of sound, das die dichterische Sprache de la Mares ausmacht. Robert Frost hat ihn one of the best of the best genannt, und der todkranke Thomas Hardy sagte possibly the finest poem of this century, als man ihm The Listeners vorlas. Virginia Woolf war völlig überrascht, als sie de la Mares Lyrik entdeckte: The voice which sounded so fine and distinct in that obscure gathering of the commonplace now speaks not only to a large audience, but to a great number of listeners it is a voice which has no fellow. The surprise, the sense of finding an unseized emotion reduced to its unmistakable form of words, possesses us when we read his latest volume, as it possessed us then. Of the many proofs of the value of poetry, the conviction that the poet has said what was hitherto unsaid is among the most conclusive. In future for that emotion or mood, which he seems half to create and half to reveal, there is no other poet who serves instead of him.

Wir müssen die Realität hinter uns lassen, wenn wir den Autor verstehen wollen. Sagt uns der Dichter Leonard Clark in seinem Buch über de la Mare, das 1960 bei The Bodley Head erschien. Und er schreibt: Jesus was compelled to present the Kingdom of Heaven in the likeness of a grain of mustard-seed. And so, when de la Mare speaks of Arabia and its music; of Martha's hazel-glen in the hush of an age gone by; of the quiet steeps of dreamland or the lonely dreams of a child; of the unchangeable that contrasts with earth's transiency; of the dark château and the house that was named Alas; of the sunken garden and the listening house, the tranquil hills and the coloured country of the Traveller; of the house of shadows and the kingdom of the Mad Prince and the steep of time whence the Knight of Finis charged with his challenge into space; of Nothing with its changeless vague of peace; of two gardens for two children in one mind; of the bird which taps at a window: when such themes as these fill up the lovely line of de la Mare we know he is remembering and trying to tell us about that deeper reality, incredibly strange and strangely momentous, of his experience; then we must lean our ear and hearken for the rhythm that is to lift us into the mental state in which alone we too can enter upon that experience

Wir lassen die Stimmen der Kritiker jetzt einmal beiseite. Lesen Sie einfach einmal das Gedicht The Sunken Garden, dann wissen Sie, was gemeint ist:

Speak not — whisper not;
Here bloweth thyme and bergamot;
Softly on the evening hour,
Secret herbs their spices shower,
Dark-spiked rosemary and myrrh,
Lean-stalked, purple lavender;
Hides within her bosom, too,
All her sorrows, bitter rue.

Breathe not — trespass not;
Of this green and darkling spot,
Latticed from the moon's beams,
Perchance a distant dreamer dreams;
Perchance upon its darkening air,
The unseen ghosts of children fare,
Faintly swinging, sway and sweep,
Like lovely sea-flowers in its deep;
While, unmoved, to watch and ward,
'Mid its gloomed and daisied sward,
Stands with bowed and dewy head
That one little leaden Lad.

Samstag, 24. April 2021

True Love


Mit dem Amerikaner Robert Penn Warren präsentiere ich nach Simon Armitage und William Wordsworth den dritten Poet Laureate in diesem Monat. Sie haben richtig gelesen, auch in Amerika gibt es den Titel eines Poet Laureate. Seit 1986, Robert Penn Warren war der erste Titelträger. Und das zu Recht, zwei seiner sechzehn Gedichtbände (Promises und Now and Then) hatten den Pulitzer Preis erhalten. Für seinen Roman All the King's Men hatte er schon 1947 den Pulitzer Preis bekommen, er ist der einzige Amerikaner, der den Preis in den Kategorien Lyrik und Prosa verliehen bekam. Er war hier am 24. April 2010 mit dem Post Understanding Poetry schon in diesem Blog, weil der 24. April sein Geburtstag ist. Heute soll der Mann mit dem eindrucksvollen Werk als Literaturkritiker, Dichter und Romanautor noch einmal mit einem Gedicht zu Wort kommen. Das Gedicht heißt True Love, Robert Penn Warren war beinahe achtzig Jahre alt, als er es schrieb. Wahrscheinlich muss man so alt werden, um ein solch wunderbares Liebesgedicht zu schreiben,

In silence the heart raves. It utters words 
Meaningless, that never had
A meaning. I was ten, skinny, red-headed,

Freckled. In a big black Buick,
Driven by a big grown boy, with a necktie, she sat
In front of the drugstore, sipping something

Through a straw. There is nothing like
Beauty. It stops your heart. It
Thickens your blood. It stops your breath. It

Makes you feel dirty. You need a hot bath.
I leaned against a telephone pole, and watched.
I thought I would die if she saw me.

How could I exist in the same world with that brightness?
Two years later she smiled at me. She
Named my name. I thought I would wake up dead.

Her grown brothers walked with the bent-knee
Swagger of horsemen. They were slick-faced.
Told jokes in the barbershop. Did no work.

Their father was what is called a drunkard.
Whatever he was he stayed on the third floor
Of the big white farmhouse under the maples for twenty-five years.

He never came down. They brought everything up to him.
I did not know what a mortgage was.
His wife was a good, Christian woman, and prayed.

When the daughter got married, the old man came down wearing
An old tail coat, the pleated shirt yellowing.
The sons propped him. I saw the wedding. There were

Engraved invitations, it was so fashionable. I thought
I would cry. I lay in bed that night
And wondered if she would cry when something was done to her.

The mortgage was foreclosed. That last word was whispered.
She never came back. The family
Sort of drifted off. Nobody wears shiny boots like that now.

But I know she is beautiful forever, and lives
In a beautiful house, far away.
She called my name once. I didn't even know she knew it.


Freitag, 23. April 2021

Hofanzug

Als der Dichter Robert Southey gestorben war, ein Dichter, den Lord Byron hasste, war der Posten des Poet Laureate wieder vakant. Man wählte Englands berühmtesten Dichter William Wordsworth, der hier vor einem Jahr zu seinem 250. Geburtstag einen Post hatte. Wordsworth wollte nicht, er fand, dass er zu alt sei. Und er dichtete auch kaum noch etwas Neues. Er schrieb aber immer noch an dem autobiographischen Monstergedicht The Prelude, das er im Winter 1798 in Goslar begonnen hatte. Der Premierminister Sir Robert Peel versicherte ihm, dass er in seiner neuen Funktion überhaupt nichts tun müsse: Do not be deterred by the fear of any obligation which the appointment may be supposed to imply. I will undertake that you shall have nothing required from you. Wordsworth wird der einzige Hofdichter sein, der in seiner offiziellen Funktion kein einziges Gedicht schreibt.

Das hier ist nicht William Wordsworth, aber was der Archäologe Charles Dawson hier trägt, musste Wordsworth auch einmal bei einem Lever der Königin anziehen. Zuhause trägt er das, was ihm seine Schwester Dorothy näht, jetzt muss er der Form genügen. Er besitzt keinen Hofanzug, den muss er sich (wie auch die Seidenstrümpfe) von seinem Freund Samuel Rogers leihen, den Degen leiht er sich von einem anderen Freund. Der Anzug ist ihm viel zu klein, aber Samuel Rogers und Edward Moxon (der Verleger von Wordsworth) kriegen ihn da irgendwie rein. Der Maler Benjamin Haydon wird ihm später schreiben: I wish you had not gone to court ... I think of you as Nature's high priest. I can't bear to associate a bag-wig and sword, ruffles and buckles, with Helvellyn and the mountain solitudes. This is my feeling, and I regret if I have rubbed yours the wrong way ... I have not been able to suppress my feelings. Believe me ever your old friend. Es ist eine Kuriosität der Geschichte, dass sich Wordsworths Nachfolger Tennyson (der der Lieblingsdichter von Queen Victoria war) bei seinem Antrittsbesuch in genau denselben Anzug quält, den Wordsworth getragen hat.

Ich war versucht, als Gedicht heute etwas aus The Prelude zu nehmen, habe mich dann aber eines Besseren besonnen. Die Gedichte, die schon in den Posts Ostern und Touristen vorkommen, konnte ich nicht mehr nehmen. Viele Gedichte von Wordsworth kann ich immer noch auswendig, aber es gibt auch viele Gedichte von Wordsworth, die ich nicht ausstehen kann. The Solitary Reaper gehört unbedingt dazu, mein Englischlehrer mochte es, ich nicht. Aber dies hier, das mag ich:

My heart leaps up when I behold
A rainbow in the sky:
So was it when my life began;
So is it now I am a man;
So be it when I shall grow old,
Or let me die!
The Child is father of the Man;
And I could wish my days to be
Bound each to each by natural piety.

Wordsworth hat die letzten drei Zeilen des Gedichts noch einmal verwendet, als Motto für die Ode Intimations of Immortality from Recollections of Early Childhood. Ein Gedicht, das er 1804 schrieb und immer wieder umschrieb, Teile davon sind auch in The Prelude hineingewandert. Damals dichtete er schon beim Frühstück: He ate not a morsel, nor put on his stockings, but sat with his shirt neck unbuttoned and his waistcoat open while he did it, schreibt seine Schwester in ihr Tagebuch. Mit bloßen Füßen und nur halb bekleidet, ist mir der Dichter lieber als in dem geliehenen Hofanzug und den geliehenen Seidenstrümpfen.

Donnerstag, 22. April 2021

un petit moment


Ein Graf trifft in einem Bordell eine hübsche Achtzehnjährige. Er hat gleich eine schmutzige Idee: die junge Frau soll seinen Bruder (der natürlich auch ein Graf ist) heiraten, soll durch diese Heirat an den Hof des Königs kommen und die Mätresse des Königs werden. Damit unser Graf einen noch größeren Einfluss am Hofe bekommt. Das Bordell, in dem unser Graf die junge Blondine kennenlernt, wurde übrigens auch von dem Marquis de Sade besucht. Es kommt alles, wie es kommen soll, die kleine Marie Jeanne Bécu heiratet einen Grafen und wird am 22. April 1769 dem König als die Comtesse Du Barry vorgestellt. Der alternde König (es ist Louis XV) verliebt sich, die Comtesse steigt auf zur maîtresse en titre, der Nachfolgerin der Pompadour. Vielleicht hat sie ihn sogar geliebt, nach vielen Erzählungen soll sie die einzige gewesen sein, die an seinem Sterbebett ausharrte. Ich hätte dafür eine kleine Literaturempfehlung: Etiquette: Eine Rococo-Arabeske von Ossip Schubin, einer Schriftstellerin, die zu Unrecht vergessen ist.

Voltaire war hingerissen von der Du Barry. Er schreibt ihr am 20. Juni 1773 zwei kleine Gedichte in einem Brief, und diese beiden Vierzeiler, in denen es um Küsse und um Schönheit geht, sollen heute mein Gedicht des Tages sein:

Madame, M. de La Borde m’a dit que vous lui aviez ordonné de m’embrasser des deux côtés de votre part.

Quoi ! deux baisers sur la fin de ma vie ! 
Quel passeport vous daignez m’envoyer ! 
Deux ! c’est trop d’un, adorable Égérie :
Je serais mort de plaisir au premier.

Il m’a montré votre portrait ; ne vous fâchez pas, madame, si j’ai pris la liberté de lui rendre les deux baisers. 

Vous ne pouvez empêcher cet hommage,
Faible tribut de quiconque a des yeux. 
C’est aux mortels d’adorer votre image ; 
L’original était fait pour les dieux.

J’ai entendu plusieurs morceaux de la Pandore de M. de La Borde ; ils m’ont paru bien dignes de votre protection. La faveur donnée aux véritables beaux-arts est la seule chose qui puisse augmenter l’éclat dont vous brillez. Daignez agréer, madame, le profond respect d’un vieux solitaire dont le cœur n’a presque plus d’autre sentiment que celui de la reconnaissance.

Der erwähnte Monsieur de la Borde ist der Komponist Jean-Benjamin François de la Borde, ein Freund Voltaires. In der Zeit, als die Du Barry maîtresse en titre des Königs ist, hatte er den Posten eines Ersten Kammerdieners des Königs. In der Revolution landet er auf dem Schafott. Wie auch der Graf Du Barry, der einst die kleine Marie Jeanne im Bordell entdeckte. Wie auch Madame Du Barry, die einmal in ihr geheimes Tagebuch schrieb: Ich habe Angst vor dem Alter und glaube, dass ich lieber tot sein möchte als hässlich. Sie wird fünfzig Jahre alt werden, dann beendet das Fallbeil auch ihr Leben. Encore un moment, monsieur le bourreau, un petit moment, hatte sie den Scharfrichter vor dem Schafott angefleht. Sie wird diesen petit moment nicht bekommen. 

Mittwoch, 21. April 2021

Lebensmut


Die Schriftstellerin Charlotte Brontë, die heute vor 205 Jahren geboren wurde, ist berühmt geworden für ihren Roman Jane Eyre, ein Roman, über den Sie mehr in dem Post Jean Rhys lesen können. Ich habe den Roman hier auch in einer deutschen Übersetzung, die Maria von Borch 1887 erstellt hat. Und noch mehr über die Brontë Schwestern steht in dem Post Sturmeshöhe. Ein Jahr vor der Veröffentlichung von Jane Eyre hatten die drei Schwestern einen Gedichtband veröffentlicht, der allerdings kaum verkauft wurde. Da half es auch nicht, dass sie sich als Pseudonyme Männernamen ausgesucht hatten: Averse to personal publicity, we veiled our own names under those of Currer, Ellis and Acton Bell; the ambiguous choice being dictated by a sort of conscientious scruple at assuming Christian names positively masculine, while we did not like to declare ourselves women, because – without at that time suspecting that our mode of writing and thinking was not what is called 'feminine' – we had a vague impression that authoresses are liable to be looked on with prejudice; we had noticed how critics sometimes use for their chastisement the weapon of personality, and for their reward, a flattery, which is not true praise.

Zwei Exemplare der Gedichte wurden verkauft, aber die Schwestern schreiben weiter. Sie haben immer schon geschrieben, sie haben sonst nichts. Es ist ein trauriges Leben, das die drei Schwestern haben, aus den Fenstern des Pfarrhauses blicken sie auf den Friedhof, alle drei werden früh sterben. Ihr Leben ist in Romanen und Filmen immer wieder beschrieben worden. Das Bild ist aus dem Film Les Sœurs Brontë mit Marie-France Pisier als Charlotte und Isabelle Huppert und Isabelle Adjani als ihre Schwestern. Wenn Sie wollen, können Sie sich den Film hier ansehen, es sind schöne Bilder. Charlotte und Emily haben es sich nicht vorstellen können, dass Jane Eyre und Wuthering Heights (hier beide Romane im Volltext) Millionenauflagen erzielen werden.

Ich nehme mir für den heutigen Tag einmal das Gedicht Life von Charlotte Brontë (= Currer Bell): 
 
Life, believe, is not a dream
     ⁠So dark as sages say;
Oft a little morning rain
⁠     Foretells a pleasant day.
Sometimes there are clouds of gloom,
⁠     But these are transient all;
If the shower will make the roses bloom,
⁠     O why lament its fall?
         ⁠⁠Rapidly, merrily,
⁠Life's sunny hours flit by,
⁠⁠       Gratefully, cheerily,
⁠Enjoy them as they fly!

What though Death at times steps in,
⁠     And calls our Best away?
What though sorrow seems to win,
     ⁠O'er hope, a heavy sway?
Yet hope again elastic springs,
     ⁠Unconquered, though she fell;
Still buoyant are her golden wings,
     ⁠Still strong to bear us well.
⁠⁠         Manfully, fearlessly,
⁠The day of trial bear,
⁠⁠     For gloriously, victoriously,
⁠Can courage quell despair!

In dem Roman Jane Eyre sagt die Heldin: My world had for some years been in Lowood: my experience had been of its rules and systems; now I remembered that the real world was wide, and that a varied field of hopes and fears, of sensations and excitements, awaited those who had courage to go forth into its expanse, to seek real knowledge of life amidst its perils. Weggehen in die wirkliche Welt, das hat nur Charlotte geschafft, aber sie versieht ihre Romanheldin mit diesem Lebensmut. Und diesen Lebensmut schreibt sie in das Gedicht Life hinein: For gloriously, victoriously, Can courage quell despair!

Ich habe diess Gedicht ausgewählt, weil Elizabeth II heute Geburtstag hat, ein Geburtstag, an dem ihr Philip nicht mehr bei ihr ist. Es ist ein trauriger Tag, aber die Kraft und der Lebensmut, den sie immer gehabt hat, wird ihr über den Tag helfen. Der offizielle Geburtstag im Juni, das berühmte Trooping the Colour, wird wie im Vorjahr im ganz kleinen Rahmen stattfinden. Aber 2022, da wird richtig gefeiert, das hat sie schon gesagt.

Dienstag, 20. April 2021

alles dahin


Ein Freund schickte mir ein Gedicht von Craig Morgan Teicher, das gerade im New Yorker veröffentlicht worden war. Den New Yorker hatte ich früher auch mal jahrzehntelang im Abo. Als ich an der Uni aufhörte, habe ich ganze Stapel davon an Studenten verschenkt. Und dass ich Adam Gopnik schätze, kann man hier schon lesen. Der Dichter Craig Morgan Teicher machte mit dem Gedicht Werbung für sich selbst, auf seiner Homepage kann man lesen: My poem Peers, is in 'The New Yorker' this week. It’s the first poem in Welcome to Sonnetville, New Jersey, so if you read it now, you're already two pages into the book! Das Buch Welcome to Sonnetville, New Jersey erschien gleichzeitig in dem BOA Verlag am 6. April. Und ich habe das Gedicht Peers mit einigen Tagen Verspätung hier auch:

I’m thinking of you beautiful
and young, of me young

and confused and maybe
beautiful. There were lots of us—

these were our twenties, when,
post-9/11, we were about to

inherit the world, and we had no idea
what to do with it. And look

what we did, and we didn’t.
And now look at us, and it.

We turned away for a blip, started
whispering, kissing, had kids,

bought houses, changed bulbs,
submitted claims, changed channels,

FaceTimed, streamed, upgraded,
were two-day-shipped to, and midway

through our prime earning years
we look up again, decades groggy,

decades late. Forgive us, we thought—
but now it doesn’t matter. These are our

outcomes, consequences, faults,
forties, when the hourglass

is beeping and bleak and people
like us have memories like this

and wonder if the beauty that’s left
is really still beautiful, if it was.

Das beklagen Dichter immer wieder, bei François Villon heißt das griffig: où sont les neiges d'antan. In der Mail fand ich nicht nur das Gedicht, es stand auch dabei: der kennt seinen walther, schaetz ich mal: Owê war sint verswunden alliu mîniu jâr! ist mir mîn leben getroumet, oder ist ez wâr? Mein Freund schreibt alles klein, tat ich auch mal, habe ich im Post Nachbild gestanden. Aber der Hinweis auf Walther von der Vogelweide hatte es in sich, klein geschrieben oder nicht. Wenn wir uns einmal den Anfang des Gedichts von Walther von der Vogelweide anschauen, dann gibt es da durchaus Gemeinsamkeiten:

Owê war sint verswunden alliu mîniu jâr!
ist mir mîn leben getroumet, oder ist ez wâr?
daz ich je wânde ez wære, was daz allez iht?
dar nâch hân ich geslâfen und enweiz es niht.
nû bin ich erwachet, und ist mir unbekant
daz mir hie vor was kündic als mîn ander hant.
liut unde lant, dârinne ich von kinde bin erzogen,
die sint mir worden frömde reht als ez sî gelogen.
die mîne gespilen wâren, die sint træge unt alt.
vereitet is daz velt, verhouwen ist der walt:
wan daz daz wazzer fliuzet als ez wîlent flôz,
für wâr mîn ungelücke wande ich wurde grôz.
mich grüezet maneger trâge, der mich bekande ê wol.
diu welt ist allenthalben ungenâden vol.
als ich gedenke an manegen wünneclîchen tac,
die mir sint enpfallen als in daz mer ein slac,
iemer mêre ouwê.

Falls Sie nicht Germanistik studiert haben und einen benoteten Schein eines Mitttelhochdeutsch
Seminars besitzen, habe ich die Klage auf das Verschwinden der schönen Zeit auch noch auf Neuhochdeutsch in der Übersetzung von Richard Zoozmann aus dem Jahre 1907:

O Weh! Wohin entschwunden ist mir doch Jahr um Jahr?
War nur ein Traum mein Leben? Ach, oder ist es wahr?
Was ich als wirklich wähnte, wars nur ein Traumgesicht?
So hätt ich denn geschlafen und wüßt es selber nicht?
Nun bin ich wach geworden und mir blieb unbekannt,
Was mir zuvor vertraut war wie diese jener Hand.
Und Leut und Land, darin ich von Kindheit an erzogen,
Sind mir so fremd geworden, als war es schier erlogen.
Die mir Gespielen waren, sind heute träg und alt,
Umbrochen ist der Acker, geforstet ist der Wald.
Wenn nicht genau wie einstmals noch heut das Wasser flösse,
Fürwahr, ich wähnte wirklich, daß Unglück mich umschlösse.
Mich grüßet lauwarm mancher, der sonst mich gut gekannt,
Die Welt ist voller Ungnad und fiel aus Rand und Band.
Mit Schmerz denk ich an manchen so wonnevollen Tag,
Der spurlos mir zerronnen als wie ins Meer ein Schlag:
Für Ewigkeit, o weh!

Und dann habe ich noch etwas Interessantes, eine englische Übersetzung von dem renommierten Übersetzer John Irons:

Alas what has become of all my years now past!
has my life been a dream, or real from first to last?
that formerly imagined, was it really so?
I have slept since then and I really do not know.
now I have awakened to find all that I knew
as closely as my own hand seems strange and untrue.
the folk and land to which since boyhood I’ve close ties
feel now so unfamiliar as were they but lies.
those who were my playmates are lethargic and old.
the fields destroyed by fire, the woods all felled and sold:
Had not the river flowed where long since it did before,
my misery indeed I believe had pained me sore.
I get but distant greeting from those who knew me well.
and everywhere the world is a thankless place to dwell.
and when I recollect many blissful days of yore,
they’ve vanished as in water the marks left by an oar,
ever more alas.

Zwischen dem Gedicht von Craig Morgan Teicher und dem von Walther von der Vogelweide liegen beinahe achthundert Jahre. Man kann Walther und all die anderen Minnesänger heute noch immer lesen, ob man den amerikanischen Dichter in achthundert Jahren noch liest, das weiß ich nicht.

Montag, 19. April 2021

Elegie


To His Lost Lover

Now they are no longer
any trouble to each other

he can turn things over, get down to that list
of things that never happened, all of the lost

unfinishable business.
For instance… for instance,

how he never clipped and kept her hair, or drew a hairbrush
through that style of hers, and never knew how not to blush

at the fall of her name in close company.
How they never slept like buried cutlery –

two spoons or forks cupped perfectly together,
or made the most of some heavy weather –

walked out into hard rain under sheet lightning,
or did the gears while the other was driving.

How he never raised his fingertips
to stop the segments of her lips

from breaking the news,
or tasted the fruit

or picked for himself the pear of her heart,
or lifted her hand to where his own heart

was a small, dark, terrified bird
in her grip. Where it hurt.

Or said the right thing,
or put it in writing.

And never fled the black mile back to his house
before midnight, or coaxed another button of her blouse,

then another,
or knew her

favourite colour,
her taste, her flavour,

and never ran a bath or held a towel for her,
or soft-soaped her, or whipped her hair

into an ice-cream cornet or a beehive
of lather, or acted out of turn, or misbehaved

when he might have, or worked a comb
where no comb had been, or walked back home

through a black mile hugging a punctured heart,
where it hurt, where it hurt, or helped her hand

to his butterfly heart
in its two blue halves.

And never almost cried,
and never once described

an attack of the heart,
or under a silk shirt

nursed in his hand her breast,
her left, like a tear of flesh

wept by the heart,
where it hurts,

or brushed with his thumb the nut of her nipple,
or drank intoxicating liquors from her navel.

Or christened the Pole Star in her name,
or shielded the mask of her face like a flame,

a pilot light,
or stayed the night,

or steered her back to that house of his,
or said “Don’t ask me how it is

I like you.
I just might do.”

How he never figured out a fireproof plan,
or unravelled her hand, as if her hand

were a solid ball
of silver foil

and discovered a lifeline hiding inside it,
and measured the trace of his own alongside it.

But said some things and never meant them –
sweet nothings anybody could have mentioned.

And left unsaid some things he should have spoken,
about the heart, where it hurt exactly, and how often.


Als dieses Gedicht von Simon Armitage in der Sammlung The Book of Matches (Faber & Faber 1993) erschien, sagten die Kritiker dem Dichter eine große Zukunft voraus. Vergleiche mit Philip Larkin wurden bemüht, und das Gedicht To His Lost Lover wanderte in die englischen Schulbücher. Viele Kritiker halten es für das beste Gedicht von Armitage. Liebesgedichte zu schreiben, oder über den Alltag zu schreiben, ist die eine Sache, aber als Hofdichter über den Tod im Königshaus zu schreiben, das ist etwas anderes. Als man ihm vor zwei Jahren den Posten des Poet Laureate antrug, hatte man angedeutet, dass es auf ihn zukommen könnte, ein Gedicht auf den Tod von Elizabeth oder Philip zu schreiben. Simon Armitage hat mit seinem Gedicht auf den Tod von Philip bis zu der Beerdigung von Prince Philip gewartet. Das hat Stil. Die Erstveröffentlichung war nicht auf der Homepage des Dichters oder in irgendeinem Tweet, sie kam aus dem Königshaus, das dafür sogar ein Video mit Bildern aus Philips Leben zusammenstellte.

 Der Bischoff David John Conner hatte bei der Trauerfeier in seiner Predigt aus dem Buch Sirach zitiert, und im 43. Kapitel ist viel von dem Wettter die Rede: Look at the rainbow and praise its Maker; it shines with a supreme beauty, rounding the sky with its gleaming arc, a bow bent by the hands of the Most High. His command speeds the snow storm and sends the swift lightning to execute his sentence. To that end the storehouses are opened, and the clouds fly out like birds. By his mighty power the clouds are piled up and the hailstones broken small. The crash of his thunder makes the earth writhe, and, when he appears, an earthquake shakes the hills. At his will the south wind blows, the squall from the north and the hurricane. He scatters the snow-flakes like birds alighting; they settle like a swarm of locusts. The eye is dazzled by their beautiful whiteness, and as they fall the mind is entranced. He spreads frost on the earth like salt, and icicles form like pointed stakes. A cold blast from the north, and ice grows hard on the water, settling on every pool, as though the water were putting on a breastplate. He consumes the hills, scorches the wilderness, and withers the grass like fire. Cloudy weather quickly puts all to rights, and dew brings welcome relief after heat. By the power of his thought he tamed the deep and planted it with islands. Those who sail the sea tell stories of its dangers, which astonish all who hear them; in it are strange and wonderful creatures, all kinds of living things and huge sea-monsters. By his own action he achieves his end, and by his word all things are held together.

Armitage nimmt das Wetter in seinem Klagelied auf, das ist sehr englisch. Er wusste, dass er jetzt als Poet Laureate für ein anderes Publikum schrieb: I think they have a slightly different tone, in as much as I understand that the audience is going to be different. When you publish books of poems you are, to some extent, writing for a specialised audience, whereas laureate poems come before readers who are not used to poetry. Mainly, I’ve tried to avoid pomposity. Es wusste, dass Philip das gehasst hätte, und so kommt The Patriarchs: An Elegy ganz einfach daher, in schlichter Sprache, alltäglich. Wie das englische Wetter. Mit dem beginnt das Gedicht, und mit dem Wetter und dem ewigen Kreislauf der Natur endet es:

The weather in the window this morning
is snow, unseasonal singular flakes,
a slow winter’s final shiver. On such an occasion
to presume to eulogise one man is to pipe up
for a whole generation – that crew whose survival
was always the stuff of minor miracle,
who came ashore in orange-crate coracles,
fought ingenious wars, finagled triumphs at sea
with flaming decoy boats, and side-stepped torpedoes.

Husbands to duty, they unrolled their plans
across billiard tables and vehicle bonnets,
regrouped at breakfast. What their secrets were
was everyone’s guess and nobody’s business.
Great-grandfathers from birth, in time they became
both inner core and outer case
in a family heirloom of nesting dolls.
Like evidence of early man their boot-prints stand
in the hardened earth of rose-beds and borders.

They were sons of a zodiac out of sync
with the solar year, but turned their minds
to the day’s big science and heavy questions.
To study their hands at rest was to picture maps
showing hachured valleys and indigo streams, schemes
of old campaigns and reconnaissance missions.
Last of the great avuncular magicians
they kept their best tricks for the grand finale:
Disproving Immortality and Disappearing Entirely.

The major oaks in the wood start tuning up
and skies to come will deliver their tributes.
But for now, a cold April’s closing moments
parachute slowly home, so by mid-afternoon
snow is recast as seed heads and thistledown
.

Sonntag, 18. April 2021

Nachbild


Wenn man etwas gut Beleuchtetes lange anschaut und dann die Augen schließt, sieht man dasselbe vor dem inneren Auge noch einmal, als unbewegtes Nachbild, in dem das, was eigentlich hell war, dunkel ist, und das, was eigentlich dunkel war, hell erscheint. Wenn man zum Beispiel einem Mann nachsieht, der die Straße hinuntergeht und sich immer wieder umdreht, um einem ein letztes, ein allerletztes Mal, ein allerallerletztes Mal zuzuwinken, und dann die Auge schließt, sieht man hinter den Liedern die angehaltene Bewegung des allerallerletzten Winkens, das angehaltene Lächeln, und die dunklen Haare des Mannes sind dann hell, und seine hellen Augen sind dann sehr dunkel.
        Wenn das, was man lange angeschaut hat, etwas Bedeutsames war, etwas, sagte Selma, das das ganze großflächige Leben in einer einzigen Bewegung umdreht, dann taucht dieses Nachbild immer wieder auf. Auch Jahrzehnte später ist es plötzlich wieder da, ganz egal, was man eigentlich gerade angesehen hat, bevor man die Augen schloss. Das Nachbild des Mannes, der zum allerallerletzten Mal winkt, taucht plötzlich auf, wenn einem beispielsweise beim Reinigen der Regenrinne eine Mücke ins Auge geflogen ist. Es taucht auf, wenn man die Augen kurz ausruhen will, weil man lange auf eine Nebenkostenabrechnung geschaut hat, die man nicht versteht. Wenn man abends am Bett eines Kindes sitzt, ihm eine Gutenachtgeschichte erzählt und einem der Name der Prinzessin oder ihr gutes Ende nicht einfallen will, weil man selbst schon sehr müde ist. Wenn man die Augen schließt, weil man jemanden küsst. Wenn man auf dem Waldboden liegt, auf einer Untersuchungsliege, in einem fremden Bett, im eigenen. Wenn man die Augen schließt, weil man etwas sehr Schweres hochhebt. Wenn man den ganzen Tag herumläuft und nur anhält, um sich den aufgegangenen Schnürsenkel zuzubinden, und jetzt, mit dem Kopf nach unten, erst merkt, dass man den ganzen Tag über nie angehalten hat. Es taucht auf, wenn jemand »Mach mal die Augen zu« sagt, weil man überrascht werden soll. Wenn man sich gegen die Wand einer Umkleidekabine lehnt, weil auch die letzte der infrage kommenden Hosen nicht passt. Wenn man die Augen schließt, kurz bevor man endlich mit etwas Wichtigem herausrückt, bevor man beispielsweise sagt: »Ich liebe dich« oder »Ich dich aber nicht«. Wenn man nachts Bratkartoffeln macht. Wenn man die Augen schließt, weil jemand vor der Tür steht, den man keinesfalls hereinlassen will. Wenn man die Augen schließt, weil gerade eine große Sorge abgefallen ist, man jemanden oder etwas wiedergefunden hat, einen Brief, eine Zuversicht, einen Ohrring, einen entlaufenen Hund, die Sprache oder ein Kind, das sich zu gut versteckt hatte. Immer wieder taucht plötzlich dieses Nachbild auf, dieses eine, ganz bestimmte, es taucht auf wie ein Bildschirmschoner des Lebens, und oft dann, wenn man überhaupt nicht damit rechnet.

So fängt der Roman Was man von hier aus sehen kann von Mariana Leky an, wenn man einen solchen Romananfang schreiben kann, dann hat man die Leser schon auf seiner Seite. Dann kommt man auch auf den ersten Platz der Spiegel Bestsellerliste. Ich habe den Roman von der Gabi zum Geburtstag bekommen, und ich war hin und weg. Nachbilder, Dinge die bleiben, selbst wenn einem beim Reinigen der Regenrinne eine Mücke ins Auge geflogen ist. Ich suchte, da Mariana Leky offenbar keine Gedicht geschrieben hat, nach Gedichten mit dem Thema Nachbild.

Und ich wurde bei Nadja Küchenmeister fündig. Bei der 1981 in Ostberlin geborenen Lyrikerin, die unglaublich viele Literaturpreise bekommen hat (und das zu Recht), habe ich ein Gedicht gefunden, das nachbild heißt. Kleingeschrieben, wie alles in dem Gedicht. Das erinnert mich an die Zeiten von Hans Magnus Enzensberger, der auch alles klein schrieb. Ich habe noch die Originalausgaben seiner Gedichte, weil ich mal eine schwere Enzensberger Phase hatte. Und ich schrieb damals auch alles klein. Nadja Küchenmeister hat heute Geburtstag, wozu ich ganz herzlich gratuliere und ad multos annos sage. Und für meine Leser habe ich natürlich das Gedicht nachbild:

erschöpft bist du bis in die knochen: nur kurz
zum see, dann ist auch das zuviel. das hohe gras
der hohe sonnenstand. du kannst nicht mehr

zurück. du bist wie dieser parkplatz leer und
ohne ufer und steigst ganz ohne bild von dir
jetzt in das auto ein, aufgeheizt in einer knappen

stunde und riecht schon nach dem stoff der sitze
gummi, oder…du weißt es nicht: siehst du hinaus
siehst du in dich hinein. da ist der schuppen

und die blaue hose, ölbeschmiert, wie alles hier.
in der küche rauscht der sender, ein glas mit
apfelsaft, ein teller nudeln und riecht es modrig

aus der speisekammer und tiefer noch aus der tapete
gefällt es dir. fleckiges linoleum. ein klirren kommt
von der vitrine, schritte. an einer ampel wirst du wach:

ein nachbild. ein verlassener garten. zugewachsen
nur die wäschestangen sind voll von wäsche, wie die
brombeersträucher so voll von brombeeren sind, dich

trifft nichts mehr. nicht der gesang in diesen breiten
straßen. kein hohes gras. kein hoher sonnenstand. du
steigst ganz ohne bild von dir jetzt aus dem auto aus

und hörst den leierton der feuerwache, der kommt durch
viele schichten näher, stille. fühlst du den schlüssel
in der tasche, weißt du, wohin du gehen kannst …

Es ist eine leise Melancholie, eine gewisse Tristesse, die durch ihre Zeilen läuft. Björn Hayer sprach auf der Seite von Deutschlandfunk Kultur von dem typischen Küchenmeister Blues. Wenn Sie so etwas gerne lesen (ich auf jeden Fall), dann hätte ich auf dieser Seite noch zwölf Gedichte von ihr. Und eins, das morgenschauer heißt, gibt es hier noch zum Schluß

nebel überfällt die berge wie im flug und schleicht
metallisch um die spitzen karger bäume. der morgen
ist von tau zerfressen, leckt an einem straßenschild.

dein tier ist wach und lauscht dem rauschen in den
pappeln. von krähen schwer beladen sind die masten
eine schwarze fracht, und ein geräusch ist in den lüften

als würde jemand in der ferne särge putzen, schon die
halbe nacht. die dumpfheit alter schauermärchen, alter
lieder. dein tier liegt ausgestreckt mit aufgesperrtem

rachen und lässt den atem durch die lücken seiner zähne
streichen. ein wagen schleppt die regenfeuchte wie trauer
an den sommerreifen nach. ist auch der himmel wieder

reingewaschen und von so leichter heiterkeit: dein tier
ist müde, will nicht mehr. und es erzählen immerzu
die pappeln und einmal blüht die königin der nacht.

Samstag, 17. April 2021

Weltraum

Als die Computer ausfielen, und die Astronauten den Funkspruch Houston, wir haben ein Problem abgesetzt hatten, mussten sie mit ihren Chronographen navigieren. Die kamen von der Schweizer Firma Omega. Die NASA hatte nach langen Tests diese Firma bevorzugt. Omega wusste das zuerst gar nicht, wusste auch zuerst nicht, dass eine ihrer Uhren auf dem Mond gewesen war. Heute schreiben Sie das in Biel zu Werbezwecken alles hinten auf die Uhr. Heute fliegt niemand mehr zum Mond, aber Omega Speedmaster Uhren werden immer noch verkauft. Heute vor einundfünfzig Jahren sind Jim Lovell, Jack Swigert und Fred Haise nach der Katastrophe mit ihren Omegas sicher im Pazifik gelandet.

Die Reise ins All
ist eine Reise des Geistes
warum fliegen wir in den Weltraum
wenn nicht um etwas
über uns zu erfahren
und über das, was es mit diesem Universum
auf sich hat?
Über unseren Platz in dieser Ordnung
und darüber, was es bedeutet
ein Mensch zu sein.

Mit diesem Zitat des Astronauten Story Musgrave beginnt die in Berlin lebende rumänische Dichterin Dana Ranga ihren Gedichtband Cosmos, der im Februar erschienen ist und achtzig Gedichte zum Thema Weltraum enthält. Mit viel Zitatenmix von Leuten, die dort gewesen sind. Also nicht Münchhausen und Peterchen, sondern echte Astronauten und Kosmonauten. Die Dichterin hat sich lange mit dem Thema beschäftigt und über Musgrave und andere auch Filme gedreht (den Musgrave Film können Sie hier sehen). Für den Deutschlandfunk hat sie im letzten Jahr das Hörspiel Wort und Weltall: Ein literarischer Raumflug geschrieben, das Sie hier lesen können.

Die amerikanische Dichterin Liz Ahl hat zu der Apollo 13 Story ein besonderes Verhältnis, weil sie damals geboren wurde und sich ebenso wie Dana Ranga lange mit dem Thema beschäftgt hat. Im Jahre 2015 schrieb sie: Forty-five years ago this month, the 'failed' Apollo 13 mission actually became NASA’s finest hour because of the incredible creative and technical work done by so many folks to bring the crew back home. The story of Apollo 13, which first unfolded the week after I was born (!) was what first inspired me, years ago, to retell some Apollo space program stories via poetry. In the spirit of turning failures into successes, and in honor of the great feats of Apollo 13, here’s one of the poems. Und das Gedicht über Apollo 13 will ich Ihnen natürlich nicht vorenthalten:

To make it home, they had to keep
hurtling away from Earth, gathered by gravity
into lunar orbit, the dark side never
quite this dark before.

Until the final burn they wouldn’t be allowed
to hold Earth in the window, where it belonged,
to burst towards it rather than let it fade
over their shoulders, shrinking to moon-size.

They had to turn their backs on home
and trust the stripped-down physics
of momentum and return. They had to surrender
to the old forces and attractions.

To make it home, they had to fly away
from every instinct urging them to turn
around right there, as if the crippled craft
could turn on such a thin dime.

They had to believe in the machine,
that the spindly lunar lander as lifeboat
could do everything it wasn’t designed to do —
like them, it was supposed to go to the moon.

The nature of the adventure shifted
from the journey to the return — coming home
was the new, untried frontier
as Cronkite called the play-by-play.

To make it home, they had to resurrect
the old imperatives, re-enter the race
that had already been run and won,
they had to want to make it home

like they wanted to make it to the moon.

Wenn Sie den den Film Apollo 13 sehen wollen, klicken Sie dies hier an.