Samstag, 31. Dezember 2022

gute Vorsätze

Ich brauche das Jahr nicht Revue passieren zu lassen, wir wissen alle, was passiert ist. Dies war mein zwölftes Jahr als Blogger. Silvester 2010 servierte ich hier Dinner for One, das kann man nicht übertreffen. Häufig gab es Silvester Gedichte, eins soll es heute wieder geben. Es ist von der schottischen Dichterin Jackie Kay, die bis 2021 Makar (Poet Laureate of Scotland) war. Das Gedicht heißt Promise, es ist ein schönes kleines Gedicht, die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon liebt es auch:

Remember, the time of year
when the future appears
like a blank sheet of paper
a clean calendar, a new chance.
On thick white snow
You vow fresh footprints
then watch them go
with the wind’s hearty gust.
Fill your glass. Here’s tae us. Promises
made to be broken, made to last.

Ich wünsche all meinen Lesern ein glückliches neues Jahr. Und dass es Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen geben möge.

Freitag, 30. Dezember 2022

Made in Italy: Ign. Joseph


Ich habe ihn einmal gesehen, er trug wirklich rote Schuhe, die sein Markenzeichen geworden sind. Und er hatte diese scharfe Hose an, die die Engländer drainpipes nennen. Er besuchte Michael Rieckhof, weil es in dem von Kelly gegründeten Laden Ignatious Joseph Hemden gab. Die Hemden gibt es inzwischen bei den feinsten Adressen. Auch in England. Ignatious Joseph kommt aus Sri Lanka, aber dort läßt er seine Hemden nicht herstellen, sein Ideal heißt Italo-British. Ein britischer Stil mit italienischer Lässigkeit. Mit den Engländern hat er es, denn Sri Lanka, das früher Ceylon hieß, war einmal Teil des britischen Weltreichs. 

Gegen seine Hemden kann man nichts sagen, ich habe seit Jahrzehnten mehrere von ihnen, das ist italienische Qualtätsarbeit mit viel sichtbarer Handarbeit. Und einem hervorragenden Kragen. Das Beste an den Hemden aber sind die gelben Schachteln, in denen sie kommen. Ich bewahre darin ein getipptes Romanfragment und die Einkommensteuererklärungen auf. Man kann überall im Internet lesen, dass die Hemden von Ign. Joseph in Italien hergestellt werden: The shirts are made in Europe by people who have the tradition and skills needed to make luxury clothing, the Italians, heißt es auf der Seite von Dantendorfer. Meine Hemden haben auch alle ein kleines Made in Italy Etikett. Aber jetzt stimmt das wohl nicht mehr, Ignatious Joseph hat sich von den Italienern verabschiedet. Die waren ihm zu teuer geworden und lieferten nicht mehr die Qualität, von der er träumte.

Ignatious Joseph, der seinen Firmensitz in Düsseldorf hat und den Italo-British Style pflegt, hat jetzt einen neuen Lieferanten. Nicht mehr in Italien, sondern in der Schweiz. Irgendwann werden Made in Italy und Made in Germany durch Made in Europe ersetzt, hat Joseph gesagt, aber Swiss Made wird immer Swiss Made bleiben. Vor sechzig Jahren gab es im Tessin noch fünfundzwanzig Hemdfabriken, heute gibt es nur noch eine einzige. Und die heißt Bruli und hat hier mit Schweizer Oberhemden schon einen Post. Die Hemden haben ein kleines Etikett, auf dem Swiss Made by Brulisauer SA steht. Über Josephs Wechsel zu der Schweizer Firma, die auch schon einmal die Hemden für Tom Ford und Ermenegildo Zegna genäht hatte, können Sie hier alles in der Schweizer Handelszeitung lesen. Ein bisschen Italien ist aber immer noch in den Hemden, denn die Näherinnen von Bruli, die Ignatious Joseph zehntausend Hemden im Jahr nähen, kommen alle aus Italien.

Mittwoch, 28. Dezember 2022

Beware of young girls


Als ihr Ehemann sie wegen einer jüngeren Frau verließ, flippte sie völlig aus. Die New York Times schrieb später darüber: Mr. Previn had begun an affair with the actress Mia Farrow, then in her early 20s, whom he later married, and Ms. Previn, who had a history of emotional fragility and mental illness, fell apart. Fearful of traveling in general and of flying in particular, she had a breakdown on an airplane that was waiting to take off, shouted unintelligibly and tore at her clothes, and spent several months in a psychiatric hospital. Die Frau, deretwegen ihr Mann sie verlassen hatte, war jung, sehr jung. Sie war eine Freundin der Betrogenen gewesen, ging bei ihr ein und aus. Sie hieß Mia Farrow und war gerade von Frank Sinatra geschieden. 

Die betrogene Ehefrau erzählte der ganzen Welt die Geschichte in einem Lied. Das Lied kannte auch Mia Farrow, die in ihrer Autobiographie What Falls Away schreibt: Dory Previn experienced things quite differently, and made that clear publicly through her songs. I am sorry to have contributed to her pain. Das Lied heißt ✺Beware of young girls, es findet sich 1970 auf Dory Previns erster Platte On my way to where. Es ist leider nicht auf der Platte We're Children Of Coincidence And Harpo Marx, die ich schon sehr lange besitze. Ich habe in dem Post Rickie Lee Jones nichts Nettes über diese Platte gesagt, die ich damals nur gekauft hatte, weil die Sängerin Dory Previn auf dem Cover der Ingrid ein wenig ähnlich sah. Die auch schön singen konnte, aber nie in einem Flugzeug ausflippte. We're Children Of Coincidence And Harpo Marx war das letzte Studioalbum von Dory Previn, sie hat noch viel geschrieben und noch lange gelebt. Aber Beware of young girls hier wird immer an sie erinnern, ein Song, in dem jedes Wort der Wirklichkeit ihres Lebens entsprach:

Beware of young girls who come to the door
Wistful and pale, of twenty and four
Delivering daisies with delicate hands
Beware of young girls, too often they crave
To cry at a wedding, and dance on a grave

She was my friend, my friend, my friend
She was invited to my house
Oh yes, she was
And though she knew my love was true
And no ordinary thing
She admired my wedding ring
She admired my wedding ring

She was my friend, my friend, my friend
She sent us little silver gifts
Oh yes she did
Oh what a rare and happy pair she inevitably said
As she glanced at my unmade bed
She admired my unmade bed
My bed

Beware of young girls who come to the door
Wistful and pale, of twenty and four
Delivering daisies with delicate hands
Beware of young girls, too often they crave
To cry at a wedding, and dance on a grave


She was my friend, my friend, my friend
I thought her motives were sincere
Oh yes I did
Ah, but this lass, it came to pass
Had a dark and different plan
She admired my own sweet man
She admired my own sweet man

We were friends
Oh yes we were
And she just took him from my life
Oh yes she did
So young and vain, she brought me pain
But I'm wise enough to say
She will leave him one thoughtless day
She'll just leave him and go away
Oh yes

Beware of young girls who come to the door
Wistful and pale, of twenty and four
Delivering daisies with delicate hands
Beware of young girls, too often they crave
To cry at a wedding, and dance on a grave

Beware of young girls
Beware of young girls
Beware

Die Geschichte von dem Songtext von Dory Previn und Mia Farrow könnte hier zu Ende sein, aber es gibt da noch eine kleine perverse andere Geschichte mit einem Songtext, der auch auf der Platte On my way to where ist. Die Sache ist durch die TV Serie Allen vs. Farrow im letzten Jahr wieder hochgekocht worden, es geht um den angeblichen Mißbrauch von Woody Allen an seiner siebenjährigen Adoptivtochter Dylan Farrow. Die 2014 in einem Brief an die New York Times geschrieben hatte: What’s your favorite Woody Allen movie? Before you answer, you should know: when I was seven years old, Woody Allen took me by the hand and led me into a dim, closet-like attic on the second floor of our house. He told me to lay on my stomach and play with my brother’s electric train set. Then he sexually assaulted me. He talked to me while he did it, whispering that I was a good girl, that this was our secret, promising that we’d go to Paris and I’d be a star in his movies. I remember staring at that toy train, focusing on it as it traveled in its circle around the attic. To this day, I find it difficult to look at toy trains.

Woody Allen hat das immer bestritten, und er hat gegenüber der Presse erklärt, dass Mia Farrow ihrer Adoptivtochter die Geschichte eingeflüstert habe. Und dafür den Liedtext von Dory Previn With my Daddy in the attic verwendet habe. Lassen Sie mich daraus einige Zeilen ziteren: 

With my Daddy in the attic, 
That is where my being wants to bed… 
With the door closed on my mama and my sibling competition, 
And my Shirley Temple doll that truly cries… 
With my Daddy in the attic, 
That is where my dark attraction lies…
In the terrifying nearness of his eyes,
With no window spying neighbors,
And no husbands in the future,
To intrude upon our attic,
Past the stair where we’ll live on…
And he’ll play his clarinet when I despair,
With my Daddy in the attic,
With my Daddy in the attic…

In seiner Autobiographie Apropos of Nothing hat Woody Allen geschrieben, dass ihn Dory Previn während der Sorgerechtsprozesse angerufen und ihn gewarnt habe: She alerted me to a song she’d written, the lyric of which referred to some encounter that went on between a little girl and her father in the attic. She told me Mia would sing it, and she was certain that’s what gave Mia the idea to locate a fake molestation accusation she would make in the attic. Popsongs sind eine gefährliche Sache.

Samstag, 24. Dezember 2022

Wiehnachten


Un tau dei Tid let dei Kaiser Augustus utgewen, dei ganzen Lüd süllen up 't frisch für dei Stüer upschrewen warden. Un dit wir dat irste Mal wil dei Tid, dat Kyrenius dei Landshauptmann in Syrienland wir. Dunn würd denn nu jederein nah sin Heimat reisen, dat hei sick dor upschriwen let. Un ok Joseph reist‘ ut Galiäaland, ut dei Stadt Nazareth, nah Land Judäa nah David sin Stadt, nah Bethlehem. Denn hei stammt‘ jo her ut David sin Hus un Geslecht. Hei müßt sick ok ni upschriwen laten. Un sin Fru Maria nehm hei mit. Dei drög ’n Kind unner ’n Harten. Un as sei nur dor wiren, dunn wiren ok ehr Dag‘ dor, un ehr irst lütt Jung würd buren. Un sei wikkelt‘ em trecht in Dauk‘ un led em in ne Krüww, denn sei wüßt süs nich, wohen mit em.
       Un dor wiren Hirers dicht bi up’n Fell‘. Dei wakten nachts bi ehr Haud. Un unsern Herrgott sin Engel kem ehr tau Gesicht, un ’n hellen Glast von Gott sin Herrlichkeit würd bi ehr uplüchten, un sei würden dull bang. Dunn säd dei Engel tau ehr: „West nich bang! Kikt, ick mag jug grote Freud kund, dei gellt för dei ganzen Minschen. Denn dei Heiland is hüt för jug buren in David sin Stadt. Dat is dei Herr Christus. Un an dit Teiken sallt ji em kennen: Ji warden ’n lütt Kind finnen, dat is trecht wickelt un liggt in ne Krüww.“
       Un mit eins wiren bei den Engel ok gortau veel anner Engels ut ’n Himmel. Dei lawten Gott un süngen dorbi: „Ihr wes Gott den Herrn in ’n hogen Hewen, Fred up Irden för dei Minschen gauden Hartens!“
       Un as nu dei Engels von ehr wedder nah ’n Himmel flagen wiren, dunn säden dei Hirers dei ein tau ’n annern: „Wi will’n nu hengahn nah Bethlehem un will’n uns dat ankiken, wat uns Herrgott uns hett weiten laten.“
       Un sei güngen rasch hen un fünnen Maria un Joseph un dat Kind dor in dei Krüww. As sei 't oewerst seihn hadden, dunn verteilten s‘ ehr, wat ehr oewer dat Kind seggt wir. Un all, dei 't hüren deden, verwunnern sick dor oewer, wat ehr von dei Hirers seggt würd. Un Maria künn all des Dingen nich vergeten un würd s‘ in ’n Harten behollen. Un dei Hirers güngen wedder trüg un lawten und pristen Gott wegen alls, wat s‘ hürt un seihn hadden, so as 't tau ehr seggt wir.


Ich wünsche all meinen Lesern ein frohes Weohnachtsfest.

Donnerstag, 22. Dezember 2022

Pierre Brasseur


Der französische Filmschauspieler Pierre Brasseur wurde am 22. Dezember 1905 in Paris geboren. Er ist hier im Blog schon in den Posts La vie de château und deux histoires d'amour erwähnt worden. Er war in vielen Filmen zu sehen, auch in solchen Filmen, die Klassiker des französischen Kinos geworden sind. Wie in Hafen im Nebel (Le quai des brumes) mit Jean Gabin oder in Kinder des Olymp (Les enfants du paradis) an der Seite von Arletty. Hier sind die beiden auf einem Szenenphoto zu sehen.

Brausseur war allerdings auch in dem bescheuertsten Film, den ich je gesehen habe: Vögel sterben in Peru (Les oiseaux vont mourir au Pérou). Als wir damals aus dem Kino kamen, fragte mich die Gila: War da irgendein Sinn drin? Ich konnte die Frage nicht beantworten. Irgendjemand hatte uns erzählt, dass der Film ganz toll sei, weil da Jean Seberg drin war, die wir aus A bout de souffle kannten. Und Maurice, der Hauptdarsteller von Fahrstuhl zum Schafott. Und eben Pierre Brasseur, der in Die großen Familien (Les grandes familles) und La vie de château so großartig gewesen war. Und Danielle Darrieux, die kurz zuvor als Lady Chatterley zu sehen gewesen war.

In diesem Film spielt Brasseur den Ehemann von Jean Seberg, einer jungen Nymphomanin, die den Tod sucht. Junge Nymphomaninnen, die den Tod suchen, sind ein schönes Thema für Pornofilme, und die merikanische Zensur reihte ihn auch in diese Kategorie ein. Es war der erste Film, dem die amerikanische Motion Picture Association das Prädikatat X gab. Obgleich das kein richtiger Porno war, aber Szenen wie diese mit der halbnackten Jean Seberg am Strand reichten offenbar für die Beurteilung aus.

Pierre Brasseur (dessen deutsche Stimme in dem Film Siegfried Schürenberg war) spielt in diesem Film den sadomasochistischen Ehemann der sexsüchtigen Seberg, mit der er auf einer Weltreise in Peru gelandet ist. Er hat einen schönen Rolls Royce, aber das ist dann auch das einzig Schöne an diesem Film, der Rolls Royce und die halbnackte Jean Seberg. Der Spiegel hatte 1968 kein nettes Wort für den Film übrig: Vögel sterben in Peru (Frankreich; Farbe) ist kein tierfreundliches Werk von Grzimek, mögen auch zur Kulturfilm-Musik noch so viele Möwenschwärme über Strand und Meer rauschen. Romain Gary, 54, französischer Diplomat und Erfolgsautor, hat die Vögel-Tragödie nach einer eigenen Erzählung inszeniert -- mit der eigenen Ehefrau Jean Seberg im höchst tragischen Hauptpart. 
     Denn sie wälzt und wälzt sich als blonde Nymphe Adriane im nächtlichen Sand und im klapprigen Lusthaus, unter peruanischem Jungvolk und am Herzen der Bordelldame Fernande (Danielle Darrieux), und keiner, keine kann ihr helfen -- auch der gestrandete Dichter mit den traurigen Augen (Maurice Ronet) nicht, der sie in letzter Sekunde aus dem Ozean fischt. Sie liebt bis zum Zerbrechen und wird nimmer satt: Die Dienste ihrer Liebhaber im heißen Klima bei Lima sind wie Garys Regie -- unbefriedigend.
       
Gary, der sich seit langem zum Retter alteuropäischer Fabulierkunst berufen fühlt, schätzt selbst als Regie-Debütant noch die klassische Metapher. Er filmt Adrianas wabbeligen Ehemann (Pierre Brasseur) im Rolls-Royce als welken Othello und gibt ihm einen rüden Chauffeur. vormals Fremdenlegion, mit auf die Suche nach der streunenden Gattin -- der stopft als Kaugummi kauender Todesengel á la Cocteau sandauf, sandab durch die Dünen.
       Doch statt ihrer sinkt der Chauffeur dahin, und wo er anhielt, fährt der Dichter fort -- Othello nimmt ihn in seinen Sold, bedeutungsschwanger lächelt Adrians. Sie blickt zum Horizont und denkt: Helft den armen Vögeln. Da strahlt auch das ganze Parkett: Paloma, ohé.

Der Regisseur des Films war Romain Gary, der ein wenig so aussieht, als sei er der Zwillingsbruder von Pierre Brasseur. Es war sein erster Film, eigentlich war er Schriftsteller. Das Drehbuch hatte er auch geschrieben. Und mit der nymphomanen Hauptdarstellerin war er verheiratet. Die hatte noch ein Jahr zuvor gesagt, sie würde nie in einem Film auftreten, bei dem ihr Ehemann Regie führte. Nun tat sie es. Es war ein Fehler. Die Kritiker verrissen den Film.

Beinahe fünfzig Jahre hat Pierre Brasseur vor der Kamera gestanden. Hier sehen wir ihn mit einem weißen Anzug neben Danielle Darrieux, die eine Bordellwirtin spielt. Den Ehemann einer Nymphomanin zu spielen, war nicht seine größte Rolle. In vielen Filmographien von Brasseur wird der Film gar nicht erwähnt, als ob es ihn nie gegeben hätte. Im Internet gibt es eine wirklich schlechte Kopie des Films, aber arte hat etwas ganz Wunderbares. In der Reihe Blow Up gibt es hier in zehn Minuten alles über den Film, bösartig und komisch. Als wir damals das Studio am Dreiecksplatz verließen, sagte Gila: Sowas gucken wir uns nie wieder an. Nen, dies war kein Film, den man ein zweites Mal sehen wollte. Auf die Liste der films de ma vie kommt er jedenfalls nicht. Hätten wir an der Kasse das Eintrittsgeld zurückverlangen sollen?

Montag, 19. Dezember 2022

noch immer Schnee


Draußen liegt noch immer Schnee, aber das wird sich ändern, wenn das Sturmtief Franziska kommt. Der Orkan ist dabei, die Kaltluft wegzufegen. Dann wird es Eisregen und Glatteis geben, heute Nachmittag soll es soweit sein. Aber solange draußen immer noch der Schnee liegt, und es so weihnachtlich aussieht, kann ein kleines Gedicht mit viel Schnee nicht schaden. Es heißt Das Dorf im Schnee und ist von Klaus Groth, der schon häufig in diesem Blog war:

Still, wie unterm warmen Dach,
Liegt das Dorf im weißen Schnee;
In den Erlen schläft der Bach,
Unterm Eis der blanke Schnee.

Weiden steh’n im weißen Haar,
Spiegeln sich in starrer Flut;
Alles ruhig, kalt und klar
Wie der Tod der ewig ruht.

Weit, so weit das Auge sieht,
keinen Ton vernimmt das Ohr,
Blau zum blauen Himmel zieht
Sacht der Rauch vom Schnee empor.

Möchte schlafen wie der Baum,
Ohne Lust und ohne Schmerz;
Doch der Rauch zieht wie im Traum
Still nach Haus mein Herz.

Sonntag, 18. Dezember 2022

Advent


Markt und Strassen stehn verlassen,
Still erleuchtet jedes Haus,
Sinnend geh ich durch die Gassen,
Alles sieht so festlich aus.

An den Fenstern haben Frauen
Buntes Spielzeug fromm geschmückt,
Tausend Kindlein stehn und schauen,
Sind so wunderstill beglückt.

Und ich wandre aus den Mauern
Bis hinaus ins freie Feld,
Hehres Glänzen, heilges Schauern!
Wie so weit und still die Welt!

Sterne hoch die Kreise schlingen,
Aus des Schnees Einsamkeit
Steigt's wie wunderbares Singen -
O du gnadenreiche Zeit!

Draußen liegt noch Schnee, aber es wird leider tauen. Vor drei Tagen war es schön, alles wunderbar watteweiß. Und still, wattestill. Als Eichendorff sein Weihnachtsgedicht schreibt, lebt er in Berlin. Da ist das Gedicht Weihnachten auch 1837 zum erstenmal veröffentlicht worden. Die Stadt Berlin kommt selten in Eichendorffs Werk vor. Schnee allerdings schon. 1837 gibt es in Berlin viel Schnee. Im April liegt er auf den Feldern um Berlin noch sechzig Zentimeter hoch, und im Juni fällt noch einmal Schnee. Ich wollte, der Schnee hier bliebe liegen bis Weihnachten, aber das wird wohl nichts. Ich wünsche meinen Lesern einen schönen vierten Advent.

Samstag, 17. Dezember 2022

Sommertanz

Heute vor einundsiebzig Jahren wurde in Schweden der Film Hon dansade en sommar (Sie tanzte nur einen Sommer) gezeigt. Es war eine Literaturverfilmung nach dem Roman Sommardansen von Per Olof Ekström. Der Film machte den unbekannten jungen Romanautor bekannt und machte die junge Schauspielerin Ulla Jacobsson mit einem Schlag berühmt.

1952 bei der zweiten Berlinale redete jeder über sie. Weil die Zweiundzwanzigjährige für einige Sekunden in Sie tanzte nur einen Sommer nackt gewesen war. Die junge Bundesrepublik war entrüstet. Vor allem kirchliche Kreise sahen hier die Geburtsstunde des Schwedenpornos. Die Moral ist bei der Kirche ja immer gut aufgehoben, das wird uns heute immer wieder vor Augen geführt, wenn wir an die schleppende Aufarbeitung der Mißbrauchsskandale denken. Die kirchlichen Blätter hatten damals aber auch durchaus bemerkt, dass der Filme antiklerikale Tendenzen hatte, der verknöcherte, puritanische Dorfpfarrer im Film ist ein bösartiger Mann. Heute schreibt das Internationale FilmlexikonDas mit poetischen Bildern und maßvoller Freizügigkeit für die freie Liebe eintretende Filmdrama erregte durch eine für seine Zeit unübliche Nacktszene moralische Entrüstung und wurde dadurch zum Publikumserfolg. Das Internationale Filmlexikon steht der katholischen Kirche nahe. 1951 sagte die etwas anderes. Wenn Sie alles über die Rezeption des Films wissen wollen, lesen Sie hier den Aufsatz von Claudia Beindorf 'Sie tanzte nur einen Sommer': Konstruktion und Rezeption von Stereotypen.

Eigentlich war das ja ein schöner kleiner trauriger Film, furchtbar sentimental. Aber er bedeutete für unsere junge Republik viel mehr. Er prägte Stereotypen wie die Schönheiten der schwedischen Landschaft, die ewige Mittsommernacht und schöne Schwedinnen, sonnentrunken und liebebedürftigWie ein frischer, reiner Sommerwind weht dieser Film über die Leinwand schrieb ein Rezensent, und ein Ostberliner Kritiker urteilte, dass selbst die delikatesten Szenen... sauber, gesund und schön seien. Sauber, gesund, rein, diese Beschreibungen des Nordlichts von unvergleichbarer Schönheit schmecken immer noch ein wenig nach einem arischen Germanenkult, den man doch überwunden glaubte. Und von nun an träumten deutsche Männer von nackten Schwedinnen. 

Ulla Jacobsson hat dann noch in Bergmans Das Lächeln einer Sommernacht mitgespielt. Der Film war auch ein großer Erfolg, vor allem für Ingmar Bergman. Die weitere Filmkarriere der hübschen Schwedin ist nicht so bemerkenswert. Sie ist aus Schweden weggezogen, um nicht immer die stereotypischen hübschen Schwedinnen spielen zu müssen, aber die wirklich großen Filme blieben aus. Filmtitel Sie tanzte nur einen Sommer und Lächeln einer Sommernacht sind auch ein wenig symbolisch für ihre Karriere. Ulla Jacobsson ist früh an Krebs gestorben. Bei ihrem Tod erinnerten die Nachrufe an ihre Filmrolle vor dreißig Jahren. Als der Koreakrieg tobte, Adenauer sich der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft anschloss und Ulbricht die Sowjetisierung der DDR einleitete, da ließ die zweiundzwanzigjährige Schwedin für einen kurzen Augenblick die eskapistischen Träume von der Mittsommernacht wahr werden. Weil sie sechs Sekunden lang nackt gewesen war.

Ein Jahrzehnt später kam Das Schweigen von Ingmar Berman in die deutschen Kinos. Marcel Reich-Ranicki wetterte gegen den Film und gegen die Bergmanie, die angeblich Deutschland beherrschte. Es wurde eine Aktion saubere Leinwand gegründet, um gegen das Werk zu protestieren. Erstaunlicherweise ließ die Freiwillige Selbstkontrolle den Film passieren und gab ihn ohne Schnitte ab 18 Jahren frei, weil sie ihn als Kunstwerk einstufte. Zwanzig Jahre nach Ingmar Bergmans Film Das Schweigen kamen wieder massenhaft Schwedinnen auf die mehr oder weniger sauberen Leinwände. Aber die hießen jetzt nicht Ulla Jacobsson, Mai Zetterling, Harriet Anderson oder Gunnel Lindblom, sondern Marianne Aubert, Jane Baker und Brigitte Lahaie. Das waren blonde Pornodarstellerinnen für Opas Schwedenphantasien, aber aus Schweden kamen sie nicht. Die spielten in Filmen, die 6 Schwedinnen von der Tankstelle, 6 Schwedinnen auf Ibiza, 6 Schwedinnen hinter Gittern und 6 Schwedinnen auf der Alm hießen. Produziert von einem Schweizer namens Erwin C. Dittrich. Keine Filmkunstwerke, nur Softpornos. Regten sich Reich-Ranicki und die katholische Kirche jetzt wieder auf? Keine Spur, wir waren jetzt eine permissive society, die sexuelle Revolution hatte stattgefunden. Zu deren Vorreiter Ingmar Bergmans Film wohl ungewollt geworden war, obgleich er ansonsten nichts damit zu tun hatte. Es hatte sich übrigens schon im Jahre 1971 niemand mehr über den Film aufgeregt, als er zum ersten Mal im deutschen Fernsehen gezeigt wurde.

Den Film Hon dansade en sommar habe ich hier im Original für Sie.Können Sie sich anschauen, falls das Spiel um den dritten Platz bei der FIFA WM zu langweilig wird.

Noch mehr Schweden und Schwedinnen in diesem Blog: Ingmar Bergman, Transformationen, Skandal, Schwedinnen, Schweigen, Sexuelle RevolutionDésirée, Elvira Madigan, Liebestod, Nationalstolz, Monica Zetterlund, Mireille Darc, Vera Miles, Ann-Margret, Mein Dänemark, TalsperrenJugendkultur, Anders Zorn, ZornCharles Frederick Worth, Michael Ancher, Zeitlos, John Peter Russell, Lieutenant Lindhövel, Findorff, Seeschlacht, Kieler Frieden, Giuseppe Verdi, Briefwechsel, Sjöwall Wahlöö, Maj Sjöwall, Henning Mankell, Die MädchenGeorges DesmaréesDie Frau ohne Gesicht, skandinavische Mode, Bibi Andersson, Sigrid Combüchen, DamenromanBo Widerberg, Niels Bohr, Landstreicher, Schwarze Ernte, nouvelle vague suédoise, Nordic Noir; Bierbrauer, Der Torstenssonkrieg. Viveca Lindfors, Kögebucht, Arnold Duckwitz, Weltkulturerbe, Nico, Dänische KunstNordlichter


Donnerstag, 15. Dezember 2022

Football's coming home?

Der Infantino ist doch im Gefängnis, sagte ich. Keineswegs, sagte mein Freund. Aber der Blatter, der sitzt doch? Ich erfuhr, dass der Sepp gerade mal wieder freigesprochen worden war. Greg Dyke, der Vorsitzende des englischen Fußballverbandes hatte 2015 gesagt: Blatter kann nicht zwischen sich selbst und der FIFA unterscheiden. Er glaubt, es wäre ein und dasselbe, und das ist ziemlich traurig. Und in Zürich kursierte vor zehn Jahren der Witz, was der Unterschied zwischen Gott und Sepp Blatter sei. Die Antwort war: Gott hält sich nicht für Blatter. Gegen Infantino laufen zwar Ermittlungen, aber die Schweizer Staatsanwälte werden es schwer haben: er hat eben seinen Lebensmittelpunkt nach Katar verlegt. Ich bin nicht so ganz auf dem Laufenden, was die Funktionäre der Fédération Internationale de Football Association (FIFA) betrifft. Also die, die 2015 nicht in den USA wegen Racketeering Conspiracy and Corruption angeklagt und verurteilt wurden. Albert Camus, der in seiner Jugend Torwart in einer Universitätsmannschaft war, hat gesagt: Alles, was ich schließlich am sichersten über Moral und menschliche Verpflichtung weiß, verdanke ich dem Fußball. Würde das heute jemand sagen? Gibt es für Leute wie Gianni Infantino Moral und menschliche Verpflichtung?

Mein Vater hatte zwei Sprechstundengehilfinnen, die waren beide nett. Die eine, die aus Farge kam, mochte ich noch lieber als die andere. Sie brachte immer etwas mit. Keine Schokolade oder sowas. Sondern Freikarten für Fußballspiele. Ihr Vater war ein kleiner DFB Funktionär, der hatte immer Karten. So lernte ich zum erstenmal im Bremer Weserstadion die Sitzplätze auf der überdachten Tribühne kennen. Vorher kannte ich nur die Stehplätze auf der anderen Seite. Damals fragten sich wahrscheinlich die Funktionäre, wer denn der junge Mann war, der bei dem Freundschaftsspiel Werder Bremen gegen die norwegische Nationalmannschaft zwischen ihnen saß. Der kleine DFB Funktionär aus Nordbremen, dem ich all diese Karten verdanke, war sicherlich ein honoriger Mann. Funktionär und Korruption waren zwei Begriffe, die noch nichts miteinander zu tun hatten. Heute gehören sie zuammen, dank Infantino und Blatter und vielen anderen.

Der Fußball war einmal anders, ganz anders. Als ich jung war, konnte man auf dem Osterdeich noch Spieler von Werder Bremen mit dem Fahrrad an einem vorbeiradeln sehen, die von Mutti sauber gewaschene Spielkleidung auf dem Gepäckträger. Die sauber geputzten Schuhe auch. Ende der vierziger Jahre gab es im Weserstadion für meinen Vater als Schwerkriegsverletzten noch eine kleine Holzbank direkt neben dem Spielfeld. Ich saß neben ihm und war dann Balljunge. Näher konnte man den Spielern von Werder Bremen und des Bremer SV (der auch im Weserstadion spielte) nicht kommen. Die Torwarte waren damals meine Helden, ob das Hans Stephan vom BSV oder Dragomir Ilic bei Werder war. Was Vladimir Nabokov in seiner Autobiographie schrieb, das konnte ich vestehen:

Mit Begeisterung war ich Torwart. In Rußland und den romanischen Ländern ist jene edle Kunst immer von der Aura eines beispiellosen Glanzes umgeben gewesen. Erhaben, einsam, unbeteiligt, so schreitet der Held des Fußballtors durch die Straßen, verfolgt von hingerissenen kleinen Jungs. Er wetteifert mit dem Matador und Flieger-As als ein Gegenstand verzückter Verehrung. Sein Pullover, seine Schirmmütze, seine Knieschoner, die Handschuhe, die aus der Gesäßtasche seiner kurzen Hose ragen, heben ihn von der übrigen Mannschaft ab. Er ist der einsame Adler, der Geheimnisvolle, der letzte Verteidiger. Photographen, ein Knie ehrwürdig gebeugt, knipsen ihn, wenn er sich mit einem spektakulären Kopfsprung quer über die Öffnung des Tores wirft, um mit den Fingerspitzen einen niedrigen, blitzartigen Schuß abzuwehren, und beifällig brüllt das ganze Stadion, während er in dem unversehrten Tor noch einen Augenblick der Länge lang liegenbleibt, wie er fiel.

Für Ilic hatte Werder ein Handgeld bezahlt, was ich aber nicht wusste. Die Kommerzialisierung des Fußballs hatte längst begonnen, neun Spieler von Werder Bremen standen bei der Martin Brinkmann AG in Lohn und Brot. Ob sie da wirklich arbeiteten, wusste niemand, aber es gab Geld. Und den Verein nannte man damals die Texas Elf, nach Brinkmanns Zigarettenmarke Texas (Texas - Eine Zigarette, die einem etwas sagt). Für die machten damals sogar Filmstars Reklame. Wenn wir am Wochenende nicht im Stadion waren, weil es einen Familienausflug gab, schaffte es mein Vater immer, bei Spielschluss wieder in Bremen zu sein. Er fuhr dann langsam neben einer Straßenbahn mit einem offenen Perron her, kurbelte das Fenster herunter und ließ sich von den Fahrgästen das Spiel erzählen. Unser Opel Olympia hatte kein Radio.

Irgendwann kamen die Spieler nicht mehr mit dem Fahrad, sie verdienten Geld und hatten große Autos. Netzer einen Ferrari. Und Manni Burgsmüller ließ sich beim Herrenausstatter Stiesing in der Sögestraße von Kopf bis Fuß neu einkleiden, Otto Rehagel bezahlte die Rechnung, weil der Manni eine Wette gewonnen hatte. Das war noch harmlos, aber es ging weiter in der Bundesliga mit Geldverdienen. Großem Geld. Ausländische Vereine lockten mit viel Geld, Fiffi Gerritzen nahm die 80.000 Mark vom FC Turin nicht an und blieb in Münster. Uwe Seeler blieb immer in Hamburg. Das sind Spieler, die ich verstehen konnte. Alles, was dann kam, die Millionengehälter und die Kommerzialisierung, das verstand ich nicht mehr. Heute sind im internationalen Fußball nur noch Millionäre auf dem Platz. Auch bei den Vereinen, die einstmals Arbeitervereine waren. Als Holger Stanislawski, der ehemalige Trainer des FC St. Pauli, von der Bild Zeitung gefragt wurde, was er mit einem Lottogewinn anfangen würde, sagte er, er würde sämtliche Logen beim HSV und St Pauli kaufen und dort Transparente mit der Aufschrift Scheiß Millionäre aufhängen.

In der Oberliga mussten die Spieler einen Beruf haben, mit der Einführung der Bundesliga war es ihnen freigestellt, ob sie nebenbei arbeiteten. Viele taten das noch. Wie der Zahnarzt Dr Peter Kunter, der Torwart bei Eintracht Frankfurt war. Die Gehälter waren noch gedeckelt, 1.200 Mark konnte ein Spieler, der laut Bundesligastatut einen guten Leumund haben muste, inklusive Leistungsprämien im Monat bekommen. Und es wurde von ihm etwas gefordert, in der Disziplinarordnung stand: Zu den Pflichten des Lizenzspielers gehören insbesondere sportlich einwandfreier Lebenswandel, volle Einsatzbereitschaft und Ritterlichkeit gegenüber dem Gegner. In dem Wort Ritterlichkeit steckt noch etwas von dem Ideal, den der Sport in der Zeit von 1830 bis 1880 im viktorianischen England hatte: a gentleman’s game played by gentlemen. So hatte der Fußball angefangen, als Sport für Gentlemen, die Arbeitervereine kamen später. Dem Zitat mit dem gentleman’s game konnte George Orwell nicht zustimmen, als er sagte: Serious sport has nothing to do with fair play. It is bound up with hatred, jealousy, boastfulness, disregard of all rules and sadistic pleasure in witnessing violence: in other words it is war minus the shooting. Das hatte Sir Thomas Elyot schon 1531 ähnlich gesagt: Foote balle wherin is nothinge but beastly furie and exstreme violence.

Natürlich verdiente Netzer mehr als die 1.200 Mark im Monat, sonst hätte er sich keinen Ferrari leisten können. Und bevor 1972 die Gehaltsobergrenzen abgeschafft wurden, gab es auch Schwarzgelder. Und es gab Versuche, ganze Spiele zu kaufen. Als Horst-Gregorio Canellas 1971 an seinem fünfzigsten Geburtstag den Gästen der Gartenparty ein Tonband vorspielte, verließen viele Gäste (auch Helmut Schön) vorzeitig die Party. Das war der Beginn des Bundesliga Skandals. Auch der Bremer Torwart Burdenski hing da irgendwie mit drin. Es hörte nicht auf mit den Skandalen. 1971 sind wohl eine Million Mark an Geldern geflossen; das sind Peanuts verglichen mit dem Geld, das Katar für die Weltmeisterschaft bezahlt hat. Von den goldenen Rolex Uhren ganz zu schweigen. Die goldene Rolex nahm Mario Basler gerne mit, als er nach kurzer Zeit Katar wieder verließ. Rummenige, der für Katar als Lobbyist tätig war, hatte dort zwei teure (sehr teure) Rolex Uhren geschenkt bekommen, die er am Zoll vorbei schmuggeln wollte. Das kostete ihn eine Viertelmillion Euro, er ist jetzt vorbestraft. Das sind Infantino und Blatter noch nicht.

Blatter wurde nach siebzehn Jahren von der Ethikkommission der FIFA zu Fall gebracht. Sein Nachfolger Infantino sorgte als erstes dafür, dass diese Institution keine Macht mehr hatte. Es geht um Macht und um Geld. Katar soll 220 Milliarden Euro für die WM ausgegeben haben, sogar eine Vizepräsidentin des EU Parlaments soll etwas davon abbekommen haben. Wir wisssen inzwischen, dass sich Katar diese WM durch Bestechung erkauft hat. Aber was sollen wir klagen? Wir wissen inzwischen auch, dass unser Sommermärchen 2006 erkauft wurde. Letztlich müssen wir doch wieder einmal Petronius zitieren: Si bene calculum ponas, ubique naufragium est. 

Als ich am Bloomsday 2014 nicht über James Joyce, sondern über die Weltmeisterschaft 1954 schrieb, beklagte sich mein Freund Peter aus Hamburg per Mail: schade: bloomsday gegen diese groehlfatzkes aus den stadien, besoffen von nationalismus: ekelig; der fussball ist verdorben von kopf bis zu den fuessen: die einschlaegigen namen kennst du besser als ich; ich freue mich schon jetzt auf den tag danach, nach dem kostspieligen, aufmerksamkeit besetzenden, spektakel (brasilien bezahlt, die fifa sackt ein; was fuer schiessbudenfiguren!), das is eine andre kulturstufe (insofern man da ueberhaupt von kultur sprechen kann), auch schimpansen kann man jenen sport beibringen. Der emeritierte Medizinprofessor hat nie wie ich Fußball gespielt, aber ich zitiere das gerne noch einmal.


Sonntag, 11. Dezember 2022

Krimi statt Fußball

Es gab gestern Frankreich gegen England im Fernsehen, aber das habe ich nicht geguckt. Weil ich die FIFA durch Nichtbeachtung boykottiere. Ich habe stattdessen abends um zehn etwas ganz Nostalgisches geguckt: den ersten Tatort der Fernsehgeschichte, Taxi nach Leipzig. Der hatte in meinem ersten Jahr als Blogger hier im November 2010 schon einen Post, den zwölf Jahre alten Text stelle ich heute noch einmal hier hin: 

Das Böse ist immer und überall! sang vor Jahren die Erste Allgemeine Verunsicherung. Wir wissen das natürlich längst, weil wir seit vierzig Jahren den Tatort haben. Früher war es ein nationales Ereignis, wenn sonntags ein Tatort Kommissar ermittelte, heute guckt da schon keiner mehr hin. Höchstens bei Thiel und Boerne in Münster. Es gibt zuviel Tatorte, zuviel Kommissare. Und das Qualitätssiegel, das die ersten Sendungen trugen, ist längst abgelaufen. In der DDR hatten sie keinen Tatort, da hatten sie den Polizeiruf 110. Nach der Wende bekamen wir den auch. Wobei der aus Schwerin mit Uwe Steimle und Kurt Böwe der beste war. Böwe krönte damit auch seine schauspielerische Karriere, deren beste Filme man hierzulande kaum sehen konnte. Filme wie Konrad Wolfs Ich war Neunzehn oder Der nackte Mann auf dem Sportplatz. Gute Schauspieler im Tatort sind heute rar, und wenn man einem Serienstar heute eine Pistole und einen Dienstausweis in die Hand drückt, dann ist das ja eher das berufliche Abstellgleis. Statt Rente Tatort Kommissar, oder Kommissar in irgendeiner der anderen Krimisendungen, die die ganze Woche über laufen. Sogar Iris Berben war schon Polizistin, Veronica Ferres auch. Nur Ingrid Steeger noch nicht. Vielleicht kommt das ja noch.

Bevor wir den Tatort hatten, hatten wir Stahlnetz im Fernsehen. 22 Folgen in zehn Jahren. Das war noch seriöses Handwerk, alle Drehbücher von Wolfgang Menge, Regie Jürgen Roland. Und alles in schwarz-weiß. Links ist Rudolf Platte als Oberkommissar Roggenburg in Das Haus an der Stör, wahrscheinlich dem berühmtesten Film aus der Reihe. Die Filme waren noch sehr langsam, hatten nichts von der heutigen Hektik in Schnitt und Einstellung. Zeigten aber ein Bild der bundesrepublikanischen Wirklichkeit. Und sie beruhten auf wahren Fällen, und wahre Fälle sind immer langweiliger und mühseliger als das, was uns heute im Tatort aufgetischt wird. Warum sind wir so begierig, das alles zu sehen?

In diesen Tagen hat ja beinahe jede Zeitung einen Bericht über vierzig Jahre Tatort. Mit Bildern von allen Tatort Kommissaren, ich gucke die an, und ich kenne sie nicht. Ich kenne die Namen der Schauspieler, aber ich weiß, dass ich sie nie als Kommissare in Aktion im Ersten Deutschen Fernsehen gesehen habe. Weil da viele dabei sind, die ich für unerträglich halte. Hätte ich mir nicht mal aus beruflichen Gründen angeguckt, damals, als ich noch wissenschaftliches Zeug über den Krimi schrieb. Selbst schrottige Edgar Wallatze Filme sind häufig noch besser als das Elend vieler Tatort Folgen. Die wirklich erinnerungswerten Tatort Filme hießen Kressin stoppt den Nordexpress (Drehbuch: Wolfgang Menge) und all die, die den Namen Trimmel im Titel hatten oder den Hamburger Hauptkommissar Paul Trimmel das Verbrechen bekämpfen liessen.

Und Taxi nach Leipzig mit Paul Trimmel, alias Walter Richter, war auch der erste Tatort, heute vor vierzig Jahren. Der Roman stammte von einem gewissen Friedhelm Werremeier. Der hatte gerade angefangen, für die Reihe der rororo thriller zu schreiben. Da hatte Richard K. Flesch, den die ganze Branche Leichenflesch nannte, bei Rowohlt schon ein gutes Händchen gehabt. Wenn Sie hier hineinschauen, werden Sie sehen, ich wiederhole mich gerade ein wenig. Aber ich will jetzt auf etwas ganz anderes hinaus, nicht auf Sjöwall Wahlöö und auch nicht auf Richard K. Fleschs Whiskykonsum. Nein, ich meine ein ganz anderes Phänomen, das Der neue deutsche Kriminalroman hieß. So hieß auf jeden Fall 1985 ein Sammelband, in dem die Ergebnisse einer Tagung im Kloster Loccum zusamengetragen waren. Den ich aus unerklärlichen Gründen jetzt nicht im Regal finde. Das ist ärgerlich, weil ich nicht nachgucken kann, was ich damals geschrieben habe.

Wenn wir plötzlich in den sechziger Jahren einen neuen deutschen Kriminalroman hatten, dann heißt das allerdings nicht, dass wir einen alten gehabt hätten. Engländer, Amerikaner und Franzosen haben in diesem Genre eine Tradition, die ins 19. Jahrhundert zurückreicht. Wir nicht. Es wäre verwegen, eine Entwicklungslinie von Schillers Der Verbrecher aus verlorener Ehre, E.T.A. Hoffmanns Das Fräulein von Scuderi, Fontanes Unterm Birnbaum bis zu Jakob Wassermanns Der Fall Maurizius ziehen zu wollen. Aber jetzt ist der Krimi plötzlich da. Werremeier, Hansjörg Martin, Irene Rodrian, Fred Breinersdorfer, Michael Molsner, Paul Henricks und Horst Bosetzky (der unter dem Pseudonym -ky) schrieb. Und viele andere. Selbst im kommunistischen Bruderstaat, wo man sich zuerst bemühte, einen Damm gegen die westliche Schundliteratur zu errichten, fügte man sich drein und ließ Krimis zu: Nicht länger mehr blieb das Feld dem Gegner überlassen, mit dessen geistiger Rüstung wir uns vertraut machten.

Was den deutschen Krimi der sechziger Jahre auszeichnet, ist eine Hinwendung zu soziologischen Bestandsaufnahme der deutschen Gesellschaft, am prominentesten in den Büchern von -ky. Der zuerst auch noch glaubte, mit seinen Krimis einen - wenn auch noch so bescheidenen - Beitrag zur Veränderung unserer Gesellschaft in Richtung auf einen humanistisch-demokratischen Sozialismus zu erbringen. Er musste aber Jahre später, als er sein Thesenpapier Dreizehn Flüche und eine Träne. Die Unmöglichkeit des Sozio-Krimis Über das Elend des bundesdeutschen Krimimachers bis zum kriminalliterarischen Selbstmord veröffentlichte, resignierend feststellen, dass das wohl nicht so ganz funktionierte. Die Formeln der Kriminalliteratur sind nicht zu überwinden, es gibt nur Variationen der erzählerischen Einkleidung.

Die aber damals, und das haben die Romane von Werremeier, -ky und Co. gezeigt, recht originell ausfallen konnten. Auf jeden Fall origineller als das, was heute im Tatort geboten wird. Taxi nach Leipzig ist da nur eins der Beispiele. Der Roman war zuerst in einer Reihe erschienen, die den Titel Kriminelle Sittengeschichte Deutschlands (1970) hatte. Der Film präsentiert uns eine glaubwürdige Hauptfigur (und mit Walter Richter eine überzeugende Verkörperung), auch wenn Simenons Kommissar Maigret (und Jean Gabin) in dieser Figur ein wenig durchscheint. Dazu eine schöne Frau (Renate Schroeter), ein DDR Grenzpolizist (Hans Peter Hallwachs, durch Zadeks Theater in Bremen berühmt geworden) und eine deutsch-deutsche Problematik.

Der bullige Paul Trimmel war von Anfang an, daran hat Werremeier in Interviews keinen Zweifel gelassen, als Serienfigur konzipiert. Allerdings war der Film Taxi nach Leipzig gedreht, bevor es die Tatort Reihe gab. Es war aber ein geschickter Zug von Tatort Erfinder Gunther Witte, den als ersten Film der Reihe zu nehmen, nachdem er dem WDR die Idee verkauft hatte: Das Schreckliche war nur, die wollten es dann sofort! So eine Reihe muss man doch erst einmal entwickeln, das braucht schon so anderthalb Jahre. Aber nein, das sollte gleich losgehen. Und so haben wir alle erst mal Projekte aufgegriffen, die sowieso schon in der Schublade lagen ... Es begann mit 'Taxi nach Leipzig', ein Krimi, der schon fertig entwickelt war. Der wurde sofort umgesetzt. Am peinlichsten war mir, was wir vom WDR als erstes einbrachten. Meine Kriterien waren ja grob: Es muss sich um einen Kommissar drehen, es muss regional und es muss realistisch sein. In unserer Schublade lagen aber Drehbücher mit Kressin. Das war ein Zollfahnder und kein Kommissar, das war ein deutscher Bond und keineswegs eine realistische Polizeifigur. Ich war da auf schlimmste Diskussionen vorbereitet, aber es hat keiner gemault.

Da sind wir aber dankbar, dass von den Intendanten der ARD keiner gemault hat, und wir so auch Sieghardt Rupp als Kressin bekommen haben. Hat das Genre zweifellos belebt. Taxi nach Leipzig gibt es als DVD (Kressin stoppt den Nordexpress auch, demnächst wird es noch einen Dreierpack Kressin geben), und es lohnt sich auch heute noch, diesen Film zu sehen. Es lohnt sich natürlich auch, alle Werremeier Romane zu lesen. Die Krimiautoren der sechziger Jahre haben die Türen geöffnet für eine beständige Produktion deutscher Krimis. Sind die wirklich gut? Ich weiß es nicht, aber wenn jemand wie Thea Dorn im Jahre 2000 den Deutschen Krimipreis gewinnt, dann kann das nix sein. Manchmal gibt es was Nettes wie Norbert Klugmann und Peter Matthews' Beule oder wie man einen Tresor knackt (1984), aber der Rest ist irgendwie Hausmannskost. Obgleich die St Pauli Noir Romane von Simone Buchholz schon ein wenig hervorstechen.

Es lohnt sich aber immer, die Autoren des Neuen deutschen Kriminalromans wieder zu lesen. Und wenn man wirklich gute deutschsprachige Krimis lesen will, dann sollte man doch zu dem Schweizer Friedrich Glauser und seinem Wachtmeister Studer greifen. Dagegen sehen viele neuere Autoren alt aus. Deutschsprachige Krimiautoren sind inzwischen organisiert, schauen Sie auf die Seite von dem Syndikat, mehr als 600 deutschsprachige Autoren. Wir sind ein kriminelles Volk. Über alles was neu ist, informiert hervorragend der immer rührige Thomas Przybilka und seine Alligatorpapiere.

Ich hatte 2010 gewisse Vorbehalte, über einen Tatort zu schreiben. Ich hatte zu Beginn meiner wissenschaftlichen Karriere einiges über den englischen und amerikanischen Krimi geschrieben, Bücher und Aufsätze. Ich wollte nichts von dieser Zeit mit in diesen Blog nehmen, alles hier sollte neu sein Und das war es auch, von den beinahe dreitausend Posts in zwölf Jahren sind nur ein halbes Dutzend zuvor im Druck erschienen. Da habe ich mich an meine Vorsätze gehalten. Aber bei dem Trimmel Krimi konnte ich nicht widerstehen, weil dieser Film doch so etwas wie ein deutscher Klassiker ist. Das fand 2008 auch Michael Hanfeld in der FAZDieser allererste ‚Tatort‘ war ein Meisterstück, von der Kritik schwer verkannt, dabei all jene Qualitäten aufweisend, die der Reihe später tatsächlich immer mal wieder verlorengingen. Ein Kammerspiel, ein spannender Thriller, eine Geschichte von Rang, mit stimmiger Dramaturgie und einem bestechenden Ensemble – der Krimi als Gegenwartsroman. Sie können das Urteil überprüfen, den Film Taxi nach Leipzig habe ich auch für Sie. Das Fußballspiel gestern soll auch ein Krimi gewesen sein, aber dieser deutsch-deutsche Krimi hält sich seit über fünfzig Jahren.

Meine Vorbehalte, Posts über Kriminalliteratur in den Blog zu nehmen, habe ich dann aufgegeben; Sendungen wie Tatort kamen nun relativ häufig in diesem Blog vor. Ich mochte sie immer weniger. Sie werden auch immer skurriler, manche verstehe ich gar nicht mehr. Woher kommen die ganzen Serienmörder? Warum verschwinden immer wieder Kinder? Meistens Mädchen, die dann von Heino Ferch gesucht werden. Warum gibt es an jedem Wochentag mindestens einen Tatort oder einen Wilsberg oder einen Polizeiruf 110? Und wenn das nicht reicht, dann werden noch diese schrottigen Serien aus Skandinavien gesendet, über die ich schon in Henning Mankell und Nordic Noir Böses gesagt habe. Der Höhpunkt war White Sands, acht völlig inhaltlose Folgen, die nur wegen der 1,80 großen dänischen Blondine zu ertragen waren. Was mit Taxi nach Leipzig als einer Art Kammerspiel begann, ist zu einem visuellen Overkill geworden. Es gibt mehr als 1.200 Tatorte, man kann sie beliebig oft wiederholen. Die Produzenten haben das nicht begriffen, was Gustl Bayrhammer vor vierzig Jahren sagte, als er die Rolle des Kriminalhauptkommissars Melchior Veigl aufgab: Des Krimifach, des is doch scho lang a abg’mahte Wies’n. Doa passiert nix mehr.


Wenn man das alles zusammenpappt, könnte man es im Print on Demand Verfahren als Buch verkaufen, aber das will ich nicht. Diesen Blog mit seinem prodesse und delectare kann jeder frei von Werbung lesen, ohne etwas dafür bezahlen zu müssen. Das war meine Grundidee, als ich mit dem Bloggen begann. Ich wünsche Ihnen einen schönen dritten Advent.

Freitag, 9. Dezember 2022

Prinzen + Könige


Wenn man der Prinz von Wales ist, dann wird man irgendwann König von England. Und wenn man König ist, dann kommt das Konterfei auch auf Münzen, das ist so üblich. Gerade sind die ersten Münzen mit König Charles in England erschienen. Entworfen von dem berühmten Bildhauer Martin Jennings, der auch die John Betjeman Statue geschaffen hat (und die Plastiken von George Orwell und Charles Dickens). Es sind noch 27 Milliarden Münzen mit dem Bild von Elisabeth im Umlauf, die behalten natürlich weiterhin ihren Wert.

Aber nicht jeder englische König ist auf Münzen verewigt. Als der Prinz von Wales, den seine Familie David nannte, Edward VIII von England wurde, gab es keine Münzen. Weil er gleich wieder zurücktrat, heute vor sechsundachtzig Jahren. Aber ein paar Münzen hatte die Münzprägeanstalt Englands doch hergestellt, ein halbes Dutzend goldener Sovereigns. Vor zwei Jahren ist eine dieser Münzen für eine Million Pfund Sterling verkauft worden.

Keine Münzen gibt es für Prinzen, die keine Könige werden. Also zum Beispiel diesen Prinzen Reuß, der davon träumte, König von Deutschland zu werden. Der Reichsbürger sitzt jetzt ein. Ich hoffe, dass man ihm in seiner Zelle den ganzen Tag Rio Reisers König von Deutschland vorspielt. 

Lesen Sie auch: Edward VIII, Abdankung, Rücktritt und englischer Landadel

Dienstag, 6. Dezember 2022

Nikolaustag


Ick bin en lüttjen König,
geevt mi nich to wenig,
Laat mi nich so lange stahn,
ick mutt all weder wiedergahn
.

Noch bevor man in der Schule Gedichte lernte, lernte man in Bremen diese Verse. Ich habe große Teile von Schillers und Goethes Gedichten vergessen, aber das Halli, Halli, Hallo, So geiht nah Bremen to, das vergisst man nicht. Und so durfte in diesem Blog im Dezember 2010 ein Post zum Nikolaus nicht fehlen, es war mein erster Nikolaustag als Blogger. Damals wusste ich noch nicht, wohin die Reise ging. Jetzt kennt mich die Welt. Darf man das so sagen? Meine Leser mögen mich, und ich mag meine Leser. Meine Leser mögen mich, weil ich Geschichten erzähle. Und nebenbei auch noch ein klein wenig Bildung vermittle. Und weil ich hemmungslos subjektiv bin. Ein Zettel mit Goethes Satz: Sieh, liebes Kind, das ist ein Vorzug, den die Leute haben, die nicht schreiben: sie kompromittieren sich nicht, klebt an meinem Schreibtisch. Also da, wo Herman Melville seinen Zettel mit dem Keep true to the dreams of thy youth kleben hatte.

Der Nikolaus Post, der zuerst Sünnerklaas hieß, ist in diesem Blog am 6. Dezember immer wieder mal aufgetaucht. Ich stelle ihn heute in der Version von 2010 hier hin. Damals noch ohne Bilder. Bilder konnte ich noch nicht. Jetzt kann ich alles. Ich wünsche meinen Lesern eine schöne Adventszeit.



Als die Winter noch kälter waren als in diesen Tagen, als die Straßenbeleuchtung noch spärlich war und der Schutzmann noch einen Tschako trug, da waren am Abend des Nikolaustages in Bremen lauter kleine Nikoläuse unterwegs. Der Heilige Nikolaus hieß in dieser Gegend auch Sünnerklaas, was plattdeutsch für Sankt Klaus ist. Je weiter man nach Holland kam, desto mehr verwandelte sich dieses Sünnerklaas (oder Sünnerklaus) zu Sinnerklaas. Es blieb aber immer der gleiche Heilige Nikolaus von Myra, der der Schutzheilige der Kinder und der Seefahrer ist. Weshalb auch jede Hafenstadt eine Nikolaikirche hat. Obgleich Bremen von den Amerikanern besetzt war, hatte Halloween mit trick-or-treat auf uns noch nicht abgefärbt. Bei uns gab es das Nikolauslaufen. Dazu musste man sich verkleiden, eine rote Mütze, ein falscher Bart und ein Stock (die symbolischen Reste des Bischofstabs) gehörten zu dem Outfit. Opas Spazierstock eignete sich hervorragend dafür. Und natürlich ein Sack, in den man die empfangenen Süßigkeiten wie Moppen und Spekulatius tat. Und man musste sein Sprüchlein an jeder Tür in der Nachbarschaft aufsagen:

Nikolaus de gode Mann,
kloppt an alle Dören an.
Lüttje Kinner gifft he wat,
grode steckt he in'n Sack.
Halli, Halli, Hallo,
So geiht nah Bremen to.


Und wenn da nicht schnell genug die Süßigkeiten rausgerückt wurden, dann kam da noch, unter Aufstampfen des Stockes, eine zweite Strophe:

Ick bin en lüttjen König,
geevt mi nich to wenig,
Laat mi nich so lange stahn,
ick mutt all weder wiedergahn.
Halli, Halli, Hallo,
So geiht nah Bremen to.


Es ging immer nah Bremen to, da wollten die Bremer Stadtmusikanten auch hin (Ei, was, du Rotzkopf, sagte der Esel, zieh lieber mit uns fort, wir gehen nach Bremen, etwas Besseres als den Tod findest du überall). Nun macht es ja keinen großen Sinn, halli, halli, hallo, so geiht nah Bremen to zu singen, wenn man sowieso in Bremen ist. Obgleich die Stadt Bremen für uns in Nordbremen weit, weit weg war. Irgendwie scheint diese Sache mit Bremen (wie vielleicht auch das ganze Nikolauslaufen) aus den Liedern zu kommen, die am Martinstag in Ostfriesland gesungen wurden, wo es Sünnematten, Mattenherrn oder Matten Matten Mähren hieß. Da sang man dann:

Matten-, Mattenmähren,
die Äpfel und die Beeren,
gute[r] Frau [Mann], gib uns was.
Lass uns nicht so lange steh'n!
Wir wollen noch nach Bremen geh'n.
Bremen is ne große Stadt,
da kriegen alle Kinder wat,
die Großen und die Kleinen,
sonst fang se an zu weinen.


Im 19. Jahrhundert hat es in Bremen - der Stadt von der man in Liedern und im Märchen träumt, dass dort alles besser ist - noch andere Strophen zu dem Nikolauslied gegeben, wie zum Beispiel:

Miin Vadder is Zigarrenmaaker,
miin Mudder ruppt Toback.
Un wenn ji dat nich glöben wüllt,
denn steck ick jo inn'n Sack.
Halli, halli, hallo
So geiht na Bremen to.


Das wurde nun wohl in den Stadtteilen gesungen (es ist auf jeden Fall aus Hastedt überliefert), wo die weniger Begüterten wohnten. Und man muss wahrscheinlich auch betonen, dass das Nikolauslaufen zuerst eine Sache der ärmeren Schichten gewesen ist, bevor es im 19. Jahrhundert von allen Bremer Kindern adaptiert wurde. Die Zigarrenmaaker kommen in unzähligen Bremer Döntjes aus dem 19. Jahrhundert vor. Man kann der Strophe auch entnehmen, dass Frauenarbeit in den Bremer Fabriken selbstverständlich ist - miin Mudder ruppt Toback - und auch die Kinderarbeit, selbst wenn sie hier im Nikolauslied nicht vorkommt. Die Zigarrenmaakers sind die erste gewerkschaftlich organisierte Gruppe in Bremen, wo es in der Mitte des 19. Jahrhunderts 78 Tabakfabriken gab. Sie bildeten auch ein Element gesellschaftlicher Unruhe in der sonst festgefügten konservativen bürgerlichen Struktur des 19. Jahrhunderts. Ihr Zusammenschluss verfolgte neben der Wahrung sozialer Interessen auch Ziele in der Allgemeinbildung. Und sie hatten Vorleser in der Fabrik.

Vielleicht kann man das mit den Zigarrenmachern in Kuba vergleichen, die in ihren Fabriken einen Vorleser hatten, der ihnen während der Arbeit Romane vorlas. So hörten die Arbeiter Victor Hugo, Alexandre Dumas, Jules Verne, Shakespeare und Emile Zola. Angeblich sollen so die Zigarrenmarken Montechristo und Romeo y Julieta nach dem Grafen von Montechristo und Shakespeares Theaterstück benannt worden sein. Manchmal lasen die Vorleser auch Politisches aus Zeitungen vor, was bei den Fabrikbesitzern nicht so gut ankam (und manchmal verboten wurde). Ob der leidenschaftliche Zigarrenraucher Karl Marx das gewusst hat? Auch in den Bremer Tabakfabriken hat es solche Vorleser gegeben, die von den Arbeitern bezahlt wurden. Manchmal waren das auch Kinder und Handlanger, die kosteten nicht so viel. Der Beginn der Arbeiterbildung liegt, auf jeden Fall in Bremen, im Tabakrauch.

Vorleser gibt es in Kuba heute immer noch, auch wenn sie - wie Guillermo Cabrera Infante in seiner wunderbaren Kulturgeschichte des Rauchens Holy Smoke etwas gehässig sagt - heute die Gesammelten Werke von Fidel Castro vorlesen müssen. Die erste Zigarrenfabrik in Kuba, die einen bezahlten Vorleser gehabt haben soll, hieß El Figaro. Wenig später folgte Don Jaime Partagas (die Firma und die Zigarre heißt immer noch so), der dem Vorleser sogar ein Lesepult spendierte. Als der amerikanische Innenminister W.H. Seward kurz nach dem Bürgerkrieg die Fabrik von Partagas besuchte, war er von diesem System begeistert. Da hatten schon alle Tabakfabriken in Cuba einen Vorleser. Was sie nicht hatten, waren (im Gegensatz zu Bremen) weibliche Arbeitskräfte. Diese Geschichte, dass eine gute Zigarre auf den Schenkeln einer Kubanerin gerollt sein muss, entstammt männlichen Phantasievorstellungen. Erst Ende der 1870er Jahre fängt die erste Frau in einer Zigarrenfabrik auf Cuba an. Da ist die Oper Carmen schon aufgeführt worden.

Ich erwähne diese Oper nur, weil da eine Zigarettenfabrik drin vorkommt, die der berühmte Wilfried Minks (von Bremen nach Hannover ausgeliehen) Anfang der sechziger Jahre in Hannover so schön auf die Bühne gezaubert hatte. Und der Regisseur hatte den Einfall, Carmen auf der Bühne rauchen zu lassen. Und sie dann so wahnsinnig cool die Ziggi wegschnippen zu lassen, bevor sie L'amour est un oiseau rebelle singt. Der Effekt wurde aber bei der Premiere noch übertroffen. Ein junger, schlaksiger Verehrer der Sängerin der Carmen wanderte den linken Gang entlang bis zur Bühne und warf der Sängerin eine langstielige rote Rose vor die Füße, als sie mit der Habanera fertig war. Danach verließ er den Zuschauerraum. Die Krönung des Ganzen war, dass er eine rote Lederjacke trug. Wo um alles in der Welt kriegt man Anfang der sechziger Jahre eine quietscherote Lederjacke her? Roter als jeder Nikolausmantel. Ich war die ganze Aufführung lang neidisch. Auf die rote Lederjacke und auf diesen Kerl, der die hübsche Sängerin kannte.

Wenn die Strophe mit dem lüttjen König allen geläufig ist, so scheint es in Bremen im 19. Jahrhundert dabei auch noch eine Variation gegeben zu haben, die weniger auf kleine Könige und auf Kinder von Zigarrenmaakers als auf soziales Elend hinweist:

Ick bün so’n lütten Schipperjung,
Mutt all miin Broot verdeen’n,
Den ganzen Dag in’t water stan
Mit mine korten Been’n
Halli, halli, hallo,
Nu geiht’t na Bremen to

Über das allmähliche Verfertigen der Gedanken beim Schreiben: da fange ich mit einer Kindheitserinnerung an, mit Versen, die ich immer noch aufsagen kann, und dann muss ich erkennen, dass wir Bremer mit diesem schönen Brauch nicht allein gewesen sind. Nikolauslaufen hat es überall gegeben. Inzwischen ist es beinahe ausgestorben, jetzt importieren wir kommerzialisierte amerikanische Bräuche wie Halloween. Im Norddeutschen Rundfunk wird darüber abgestimmt, ob die Hörer Last Christmas von Wham hören sollen. 54 Prozent der Anrufer sind dafür. Ich könnte wetten, dass keiner von denen, die den zum Dudelfunk heruntergekommenen NDR hören, ein halbes Dutzend deutscher Weihnachtslieder mit allen Strophen beherrscht.

Und die Zigarrenfabriken in Bremen gibt es auch nicht mehr, wenn man von Resten wie Martin Brinkmann (Lux, Peer Export, Lord Extra) mal absieht. Das hat aber nichts mehr vom Glanz der großen Zeit, als der Zigarrenkönig Friedrich Biermann von der Firma Leopold Engelhardt & Biermann sechstausend Arbeiter beschäftigte. Durch die für Bremen ungünstige Zollordnung hat sich die Zigarrenfabrikation in der zweiten Häfte des 19. Jahrhunderts nach Bünde in Westfalen verlagert. Mein Opa hätte die Villa von Biermann in St. Magnus in den zwanziger Jahren billig kaufen können. Aber dann hätte er jeden Morgen zu seiner Schule durch den Arbeiterstadtteil Grohn (der für ihn den bösen Beinamen Kamerun bei Pumpe hatte) marschieren müssen, und das war dem kaisertreuen Ex-Hauptmann nun wirklich nicht zuzumuten.

Je mehr ich begann, den Anfängen des Nikolauslaufens nachzugehen, musste ich feststellen, dass natürlich die Volkskundler und die Lokalhistoriker sich schon mit dem Thema beschäftigt haben. War ja auch anzunehmen, dass hinter all dem, was wir tun, etwas Mythisches steckt. So wie es uns James George Frazer und Jessie L. Weston (ohne die wäre Eliots The Waste Land nichts geworden) gezeigt haben. Das interessiert einen aber nicht, wenn man mit kalten Füßen, laufender Nase und schidderigem roten Bademantel im Dunkeln an einer fremden Tür klingelt und die magischen Worte sagt: Nikolaus de gode Mann, kloppt an alle Dören an.