Montag, 26. August 2019

Schwarze Ernte


Wir sind in diesem Film in Dänemark um das Jahr 1900. Weihnachten ist gerade gewesen, aber nicht alles war schön auf dem Gut Havslundegaard. Der Gutsbesitzer Niels Uldahl-Ege wollte seine Geliebte Jomfru Helmer, die seine vier Töchter nur die Hure nannten, zur Weihnachtsfeier mitbringen. Something is rotten in the state of Denmark. Der junge Mann, der Uldahls Töchter durch den Schnee begleitet, ist Isidor Seemann, der junge Amtsrichter ist auch der Rechtsberater der Familie.

Clara, die jüngste Tochter der Uldahls ist unsterblich in ihren Cousin Isidor verliebt. Sie schreibt ihre Liebe in ihr Tagebuch: Grausamer Isidor, weshalb saßest Du die ganze Zeit bei Mutter und plaudertest mit ihr? Merktest Du nicht, daß ich die ganze Zeit vom Fenster aus zu Dir hinüberblickte und immer bleicher wurde, nur vor Sehnsucht, wie eine kleine, kranke Blume, die nach der Sonne verlangt? Ich liebe Dich, Vetter Isidor, ich liebe Dich, daß ich schreien könnte! Weißt Du, was ich des Abends tue, wenn ich ins Bett komme? Ich nehme das Taschentuch, das Du neulich draußen im Entré verlorest und nicht wiederfinden konntest und lege es über mein Gesicht und träume von Dir bis ich einschlafe, es riecht so wundervoll nach Deinem Parfüm, und nun habe ich mir beim Kolonialwarenhändler Ingerslev selbst eine Flasche Violette Russe gekauft. 

Diese Notizen werden im Film immer wieder auftauchen. Am Ende des Films überreicht Frau Uldahl dem Rechtsanwalt das Tagebuch, da ist die junge Clara, die Lieblingstochter von Frau Uldahl tot. Sie hat Selbstmord begangen. Thomas Mann hat für seine Buddenbrooks den Untertitel Verfall einer Familie gewählt, und um den Verfall einer Familie geht es auch in diesem Film. Am Ende bleibt den Uldahls (wie man im nächsten Bild sieht) nur noch einziges Zimmer in ihrem Schloss

Die Möbel sind versteigert, das Haus und das Gut gehören der Bank. Die Uldahls sind finanziell am Ende, sie werden ausziehen müssen. Die Töchter allerdings sind versorgt, jede von ihnen hat von ihrem Onkel Joachim 30.000 Kronen geerbt. Die Familie Uldahl wird eine Wohnung im ersten Stock eines alten Kaufmannshauses beziehen, das am südlichen Stadttor liegt: Frau Line und die Mädchen hatten die Wohnung gemietet, weil ein großer alter Garten zu ihr gehörte. Dann war doch der Übergang nicht ganz so schwer. Und in der Gegend bleiben wollten sie; nun hatte Frau Line ja außerdem auch noch Fräulein Sophies Grabstätte zu versorgen bekommen ...

Schuld an dem Verfall der Familie ist er hier, der Gutsbesitzer und Parlamentsabgeordnete Nils Uldahl, der als Minister im Gespräch war. Hier prügelt er sich gerade mit seinem Verwalter. Der ist der zweite Verwalter auf Havslundegaard (für das im Film das Schloss Holsteinborg herhalten musste), der erste Verwalter Andersen hatte Selbstmord begangen. Weil er es nicht mehr ertragen konnte,  dass seine Verlobte die Geliebte des Gutsbesitzers war.

Denn von der Jomfru Helmer, die für ihn in Kopenhagen auf einem Tisch (ohne Höschen) Cancan tanzt, kann Niels Uldahl nicht lassen. Er schenkt ihr Schmuck und Geld, viel Geld. Wenn sie das Gut verlassen muss, dann wird sie ein kleines Vermögen auf der Bank haben. Ihrem ehemaligen Liebhaber bleibt das Schicksal, von der Familie geduldet zu werden: Niels verhielt sich den Handlungen seiner Familie gegenüber ganz passiv, dankbar dafür, daß man ihn nicht völlig verstieß. Still und bescheiden führte er sich auf. Und als er auf seinen demütigen Vorschlag aus opportunen Rücksichten wieder wie in alten Tagen das Schlafzimmer mit seiner Gattin zu teilen, eine verdutzte Absage erhielt, wählte er sich, um so wenig wie möglich zu genieren, ein paar abgelegene Zimmer oben auf dem Boden neben der Mädchenkammer. Und hier lebte er zurückgezogen und still und zeigte sich nur bei den Mahlzeiten.

Hier ist noch einmal der Badepavillon, den wir schon im ersten Absatz sahen. Diesmal von innen, es ist Sommer. Die Tochter des Jägermeisters, die auf Havslundegaard zu Gast ist, zieht sich nach dem Baden um. Und schon will Nils Uldahl sie begrapschen. Sie kann sich wehren und reist ab. Nicht alle können sich gegen den Lüstling wehren, der seine Schwester geschwängert und seine Tochter Friederike vergewaltigt hat. Es ist ein bösartiges Bild vom dänischen Landadel, das der Film zeichnet.

Line Uldahl, die Gattin des Großgrundbesitzers (gespielt von Marika Lagercrantz), hat es längst aufgegeben, auf ihren Mann einzuwirken. Sie ist die still leidende Griseldis der Geschichte. Uldahl hatte sie vor Jahrzehnten einem Schankwirt für zehntausend Kronen abgekauft, sie hatten sich  damals geliebt. Es heißt über sie in dem Roman Fædrene æde Druer (1908) von Gustav Wied, der dem Film zugrundeliegt: Mamsell Ingwersen berichtet, daß Niels Uldahl, als er nun vor gut zwanzig Jahren durch das Dorf Husum drüben westlich im Lande gefahren kam, wo er bei einem gleichgesinnten Großgrundbesitzer drei Tage lang zur Jagd usw. geweilt hatte, im Vorbeirollen ein großes, blondes Weib mit bloßen Armen und vollem Busen im Kruggarten herumgehen und Obst pflücken sah. Sie war köstlich anzusehen, üppig und rund wie die Äpfel, die sie sammelte. Ihr feines regelmäßiges Gesicht und goldblondes Haar leuchtete in der Sonne. Und es lag in ihren Bewegungen, wenn sie langsam die Arme erhob und die Früchte über ihrem Kopf brach, eine eigenartige, ruhige, fast faule Anmut.

Aber als sie ihn mit der Musiklehrerin der Mädchen im Pavillon erwischte, war es aus mit der Liebe. Sie ist eine Frau, die auch im Alter noch von allen bewundert wird: Denn das war das Merkwürdige bei Frau Uldahl, daß sie trotz ihrer blonden Ruhe und ihrer ganzen keuschen, ein wenig lässigen Erscheinung gerade auf die Sinne dieser Männer eine stark erotische Wirkung übte. Sie sahen in ihr wahrscheinlich den Typus jenes reinen, weißen Weibes, vor dem sie einst im ersten furchtsamen Erwachen ihrer Mannheit im Traume gekniet hatten. Und nun sahen sie plötzlich nach einem Leben in Brunst und Enttäuschung den Gegenstand der Träume leibhaftig vor ihren Augen wandeln. Daher wohl zugleich ihr Respekt und ihr Begehren.

Gustav Wied hat die Welt der dänischen Landaristokratie, die er beschreibt, gut gekannt. Der Roman Fædrene æde Druer (den sie hier auf Deutsch lesen können) hat sicherlich auch autobiographische Züge, denn Wied war der Sohn eines Großgrundbesitzers, der den ererbten Besitz peu à peu verlor. Thomas Manns Brieffreund hat Fædrene æde Druer 1910 in der Neuen Rundschau mit den Buddenbrooks verglichen, man könnte den Roman, den ein trostloser darwinistischer Determinismus kennzeichnet (so Gero von Wilpert), auch mit den Romanen von Thomas Hardy vergleichen.

Gustav Wied, der in vielen seiner Werke zur Groteske neigt, hat für uns einen überraschenden Schluss parat: der Saulus wandelt sich zum Paulus. Aus dem Wüstling wird ein frömmelnder Christ, der nichts mehr mit Weibern, Glücksspiel und Suff zu tun haben will: Niels Uldahl hatte das Herz der alten Frau Seemann gewonnen, indem er ihr seine ganze Leidensgeschichte mit seiner Frau und seinen Kindern erzählt hatte, die ihn durch ihre Unfreundlichkeit gegen ihn in ein sündiges Leben hinausgetrieben hatten. Und sodann berichtete er die schöne Geschichte, wie seine liebe verstorbene Mutter seine Umkehr bewirkt, indem sie sich ihm mit Erfahrungen und Gebeten gezeigt hatte. Über den neuen Niels Uldahl-Ege heißt es: Nur Frau Line und ihre Töchter verhielten sich dieser Bewegung gegenüber andauernd verständnislos und abweisend. Wir als Leser glauben ihm auch kein Wort. Es würde auch dem Romantitel widersprechen. Fædrene æde Druer ist ein Bibelzitat, es findet sich bei Jeremia (31, 29-30): In jenen Tagen wird man nicht mehr sagen: Die Väter haben unreife Trauben gegessen, und die Zähne der Söhne sind stumpf geworden; sondern jeder wird wegen seiner Schuld sterben: Jeder Mensch, der unreife Trauben isst, dessen Zähne sollen stumpf werden.

In Dänemark gewannen Sofie Gråbøl, die die Clara spielt, und Pernille Højmark (Jomfru Helmer) die begehrten Bodil Preise für die beste Haupt- und Nebenrolle. Der Film Sort høst (deutscher Verleihtitel Schwarze Ernte) von 1993 war von Dänemark in der Kategorie Bester fremdsprachiger Film für den Oscar eingereicht, wurde aber erstaunlicherweise nicht berücksichtigt. Dabei ist das ein hervoragender Film, den Anders Refn (einst Regieassistent von Lars von Trier) da mit seinem Kamermann Jan Weincke gedreht hat. Für die Kostüme war Manon Rasmussen verantwortlich. Was Edith Head für Hollywood war, ist Manon Rasmussen für Dänemark. Ein exzellenter Kostümfilm, eine Literaturverfilmung, die sich genau an den Roman hält, das Ganze in 125 Minuten. Mehr kann man sich nicht wünschen. Meine DVD hat mich bei Amazon Marketplace 69 Cent gekostet. Wenn Sie sich beeilen, finden Sie noch eine zu einem ähnlichen Preis.

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